Kritik des Diskurses über Zivilcourage

Engel Courage

Tuğçe Albayrak half zwei Mädchen, die in einem Offenbacher McDonald’s von mehreren Männern belästigt wurden, anschließend wurde sie selbst angegriffen. Nach ihrem Tod wird hierzulande über Zivilcourage debattiert, über sexuelle Belästigung hingegen nicht.

Als absehbar wurde, dass Tuğçe Albayrak die Verletzungen, die ihr ein 18jähriger vor einem Mc Donald’s zugefügt hatte, nicht überleben würde, erregte ihre Geschichte nach zwei Wochen auch die Aufmerksamkeit der deutschen Medien. Spiegel Online fragte: »Ist sie gestorben, weil sie anderen jungen Frauen helfen wollte?« Unter dem Motto »Tuğçe zeigte Zivilcourage, zeigen wir ihr unseren Respekt« versammelten sich Hunderte in Gedenken vor dem Krankenhaus, in dem sie starb. Auch andere Blätter konzentrierten sich auf dieses Thema: Die Süddeutsche Zeitung kategorisierte ihre Artikel unter »Kriminalität« und kommentierte: »Der Tod von Tuğçe A. in Offenbach, die ins Koma geprügelt wurde, nachdem sie zwei Mädchen zu Hilfe gekommen war, löst in Deutschland eine neue Debatte über Zivilcourage aus.«

Die Rede von der Zivilcourage ist seit dem sogenannten »Aufstand der Anständigen« anlässlich des Brandanschlags auf die Düsseldorfer Synagoge im Jahr 2000 eng verknüpft mit dem Selbstverständnis Deutschlands nach 1945. Der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) entstellte die folgenden Lichterketten und Debatten beinahe zur Kenntlichkeit, als er behauptete, die Mehrheit der Deutschen habe mit Taten wie diesen »nichts zu tun«. Die Studien zur konstant hohen Verbreitung antisemitischer Einstellungen beweisen zwar nicht das Gegenteil, doch festmachen lässt sich an der Bemerkung: Der Wert der Zivilcourage, der sich zur Jahrtausendwende für die deutsche Gesellschaft konstituiert, entwickelt sich in der Spannung zwischen der vergangenheitsbewältigten deutschen Identität und der Aberkennung der Zugehörigkeit zu diesem anderen Deutschland, die man für die Überschreitenden vorsieht, etwa prügelnde, rassistische Skinheads im Bahnabteil. Auch wenn im Fall Dominik Brunner, der 2009 von zwei Jugendlichen an einem Münchener S-Bahnhof ermordet wurde, nachdem er zuvor Schüler vor diesen Jugendlichen geschützt hatte, die hier gelegte enge Bindung an Neonazis bereits wieder gelockert war, war die Zivilcourage in der Zwischenzeit von einer persönlichen Charakterstärke zur staatstragenden Tugend aufgestiegen. Brunner wurde mit der höchsten Auszeichnung des deutschen Staates geehrt.
Der Tuğçe-Story kommt große Aufmerksamkeit nicht etwa zu, weil sie, wie die FAZ behauptet, die Frage nach dem individuellen Mut aufwirft. Vielmehr versammeln sich in ihr als medialem Produkt die verschiedenen, sonst so widersprüchlichen Sehnsüchte unterschiedlicher Milieus angesichts einer toten jungen Frau wie auf der Simpsons-Couch friedlich beieinander.
Das Motiv des Schlägers mit ausländischen Wurzeln passt dabei zu einer identitätsstiftenden Prophezeiung, nach der die Migration aus Süden und Osten immer neue »Kriminalität« übers Abendland bringe. Demgegenüber ist Tuğçe die Heldin eines linksliberalen Narrativs, das unermüdlich den Wert und Nutzen von Migranten auf- und abbetet. Geworben wird um das Wohlwollen einer Mittelschicht, der Menschen niemals intrinsisch wertvoll, sondern am Beitrag zum Bruttosozialprodukt zu messen sind oder eine andere »Bereicherung« der Gesellschaft darzustellen haben. Für diese Multikulti-Apologeten taugt Tuğçe Albayrak als Prototyp der guten Ausländerin, die sie als »gut integriert« preisen können. Durch ihre Courage hat sie in dieser Sichtweise die deutsche Staatstugend schlechthin bewiesen.
Die Gegenseite konzentriert sich derweil auf den Täter als einen schlechten Ausländer, akzeptiert dazu bisweilen sogar Albayraks Deutschsein. »Feststeht, das Verbrecherpack hat ›Migrationshintergrund‹«, heißt es auf dem rassistischen Blog PI-News. Spiegel Online traut sich selbst nicht so recht und zitiert deshalb die türkische Zeitung Sabah, es habe sich »um eine Auseinandersetzung zwischen türkisch- und serbischstämmigen jungen Leuten« gehandelt. Ein Streit um nationalen Stolz, das scheint gerade den Deutschen Merkmal besonderer Primitivität.

Einigkeit besteht aber auch darin, dass in der Thematisierung der Courage dasjenige, wogegen sie sich richtet, ignoriert wird. Besonders auffällig ist das im Vergleich zur englischsprachigen Rezeption, in der die epidemischen Ausmaße (The Guardian) sexueller Belästigung und der »dangers posed to women by simply being women« (Time) auf der gesamten Welt, etwa auch im aktuellen Fall im nordindischen Bundesstaat Haryana, Rahmenhandlung der Tuğçe-Story sind. Die indischen Schwestern, die ihre Peiniger in einem Bus mit einem Gürtel schlugen und vertrieben, wurden in der deutschen Presse gefeiert. Der scheint allerdings nicht klar zu sein, dass die beiden nach deutscher Rechtslage der gefährlichen Körperverletzung angeklagt worden wären, während die Täter mit freiem Abzug hätten rechnen können. Sexuelle Belästigung ist in Deutschland nicht strafbar, Gerichte haben physische Gegenwehr zur Vertreibung der Täter explizit untersagt. Offenbar überstrahlt das Courage-Motiv des deutschen Diskurses das sexistische Motiv der Täter. Wenn Courage, wie bei Justizminister Heiko Maas (SPD), als dezentrale deutsche Feuerwehr gefordert wird, steht eines nicht zur Debatte: Die Kultur der Geschlechter und ihre Beziehungen untereinander.
Auch in den Kommentarspalten hiesiger Medien erbrach sich vor einigen Wochen anlässlich der Berichte über ein Video über Street Harassment aus Manhattan, bei dem mit einer versteckten Kamera die sexuelle Belästigung einer Frau während eines Spaziergangs durch New York dokumentiert wurde, der Shitstorm von Männern (und einigen Frauen), in dem darauf bestanden wurde, dass alle gezeigten Handlungen ja nett gemeint seien, die frigide Emanze sich über die Komplimente freuen solle. Die wütenden, aber sexuell entspannten User ließen sich auch nicht von den vielen Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, die geäußert wurden, irritieren. Die äußerste Frauenfreundlichkeit, die man hier in den Dreck gezogen sah, wandelt sich dabei regelmäßig in offenen Hass, wenn Frauen die ihnen zugewiesene Rolle des sexuellen Spielzeugs ablehnen: Beschimpfungen als Schlampe, Anspucken, Vergewaltigungsdrohungen, tätliche Gewalt – das erleben Mädchen und Frauen weltweit regelmäßig, wenn sie sexuelle Belästigung zurückweisen. Auch Albayrak soll von einem der drei Männer, gegen die sie sich stellte, als »Transe« bezeichnet worden sein, wie die Taz berichtete. In diesem Weltbild haben sich »echte« Frauen über Aufmerksamkeit für ihre Körper zu freuen, sich zu wehren widerspricht der Natur der Weiblichkeit und ermächtigt zur Sanktion.

Die stille Übereinkunft zwischen Täter und Gesellschaft, die über Albayraks Tod gewiss aufrichtig bestürzt ist, liegt in dieser Annahme von Geschlechternaturen und ihrer Enthebung aus der politischen Verfügbarkeit. Albayraks Zivilcourage besteht nicht in ihrem außerordentlichen Mut, sondern darin, dass sie sexuelle Belästigung als eine Situation anerkannte, in der Umstehende eingreifen müssen. Es braucht Lehramtsstudierende wie sie, die das Spiel der Täter-Opfer-Verdrehung schon in den Klassenzimmern nicht mehr mitspielen, das etwa in Fällen von inkonsensual weitergereichten »Sexting«-Aufnahmen regelmäßig dazu führt, dass Mädchen ihre Schulen wegen »Mobbing« verlassen, die Grenzverletzenden aber – boys will be boys – niemals Konsequenzen fürchten müssen. Mädchen müssen sich anpassen. Lehrerinnen wie Tuğçe könnten daran etwas ändern.