Sleater-Kinney haben ein neues Album aufgenommen

Chemie allein reicht nicht

Sleater-Kinney, für viele die beste Band der Welt, haben sich nach knapp zehn Jahren wiedervereinigt und ein neues Album aufgenommen.

Meine Freundin hat sich das Box-Set gekauft und geweint, ist das normal?«, fragt ein User auf der Online-Plattform Reddit während der Frage-und-Antwort-Session mit Sleater-Kinney. Es wäre »abnormal«, wenn sie nicht geweint hätte, postet daraufhin ein anderer User. Ein 28jähriger und ein 40jähriger Mann bekennen, dass sie aufgrund der Nachricht über die Wiedervereinigung der Band und die Ankunft des Box-Sets feuchte Augen bekommen hätten. Ein weiterer Kommentator beschreibt seine Odyssee bis hin zum erfolgreichen Erwerb eben dieser Sammlung aller sieben Sleater-Kinney-Platten, neu gemastert und auf buntem Vinyl, streng limitiert und sofort ausverkauft, versteht sich. Auch hier am Ende wieder: Tränen.
Was ist das für eine Band, die Indie-Rocker aus der Provinz, Großstadt-Hipster und musikbegeisterte Highschool-Mädchen gleichermaßen zu orkanartigen Gefühlsmanifestationen bewegt? Bei der Ask-me-Anything-Session auf Reddit erinnern sich junge Frauen euphorisch daran, wie beherzt Gitarristin Carrie Brownstein ihnen als Teenager bei einem Girls Rock Camp Selbstverteidigung beibrachte. Einen Tag später sind Sleater-Kinney zu Gast bei der für ihr unvorhersehbares Chaos legendären New Yorker TV-Sendung »The Chris Gethard Show« – und der sonst um keine Pointe verlegene Gethard ist so nervös, dass er zunächst keine vernünftige Frage an die freundlich lachenden Bandmitgliedern zustande bekommt.
Dass Rockkritiker Greil Marcus das 1994 aus der Riot-Grrrl-Szene Olympias hervorgegangene Trio 2001 als beste Rockband Amerikas bezeichnete, ist heute immer noch harte Währ-ung – und dass dieses Prädikat ausgerechnet eine Formation trifft, die dekonstruktiven Rock macht, dafür keinen Bass braucht und noch dazu aus drei Frauen besteht, die aus ihrer queer-feministischen Gesinnung keinen Hehl machen, lässt wohl viele auf eine Transformation des ollen Grei­ses Rockmusik hoffen.
Nach fast zehn Jahren Funkstille – das letzte, ausufernd herumgniedelnde und improvisierende Krachalbum »The Woods« erschien 2005 – hat sich offensichtlich auch die Band selbst auf diese Verantwortung besonnen und sich seit Anfang des Jahres immer wieder in ihrer Herkunftsstadt Portland getroffen, um die achte Sleater-Kinney-Platte aufzunehmen. »No Cities To Love« wird am 16. Januar veröffentlicht und die Chemie – oder sollte man es ganz kitschig Magie nennen? – ist Knall auf Fall wieder da: Die besteht im Kern nach wie vor aus den sich umeinander windenden Gitarren von Carrie Brownstein und Corin Tucker, aus den call-and-response-Spielchen ihrer beiden so charakteristischen und dabei so unterschiedlichen Stimmen, wenn Corin etwa wie eine Besessene heult und Carrie mit ihrem abgehackten, tomboyishen Staccato-Gesang dazwischen geht, und natürlich aus dem fast unheimlich präzisen und dabei doch ungeheuer kraftvollen Schlag-zeug von Janet Weiss, das alles zusammenhält.
Doch damit diese Magie sich auch auf den Tonträger überträgt, reicht kein nonchalantes Fingerschnippen, sondern harte Disziplin muss her, wie Tucker beim Interviewtermin im Café des Berliner Ramones-Museums betont (ein passender Ort, wenn man bedenkt, dass sich auf der zweiten Platte »Call The Doctor« der Song »I wanna be your Joey Ramone« findet): »Wir sind den Pro­zess, die Band wiederzube-leben, sehr bewusst angegangen, weil wir unsere eigenen hohen Erwartungen nicht ent-täuschen wollten«. Brownstein fügt hinzu: »Klar herrscht zwischen uns eine unüberhörbare Chemie; es ist unbestreitbar, dass wir eine gemeinsame musikalische Sprache sprechen. Aber wie in jedem künstlerischen Projekt oder auch nur wie in jeder Beziehung reicht Chemie nicht aus. Wir mussten über die Vertraut­heit miteinander, die Behaglichkeit langjähriger Freundschaft hinausgehen, denn daraus entstehen keine guten Platten. Also haben wir geschrieben, umgeschrieben, verworfen, bis die Platte fertig war. Dabei haben wir auf ältere Arbeitsweisen zurückgegriffen, so dass Corin und ich getrennt geschrieben, uns Teile gezeigt haben und mit denen wiederum zu Janet gegangen sind, die das Material dann strukturiert und arrangiert hat.«
Die zehn neuen Songs klingen, ähnlich wie die der zwischenzeitlichen Nebenprojekte – Corin Tucker Band und Wild Flag mit Brownstein und Weiss –, tatsächlich reifer, durchdachter, klassisch rockiger, auch wenn es mal klirrende Dance-Punk-Gitarren oder bombastisch darkwavige Gesänge gibt. Die fiebrige bis melancholische Dringlichkeit der älteren Werke ist dadurch aber weniger präsent.
Zum jetzigen Zeitpunkt geht es nicht mehr darum, sich den Platz als weiblicher Joey Ramone, als »Queen of Rock ’n’ Roll« zu erkämpfen, das wurde bereits erledigt. Die beiden Musikerinnen, die in den Anfangstagen ihrer Band kurzzeitig ein Paar waren und mit ihrer fluiden, jedoch nie groß thematisierten Bisexualität schon früh zu role models für Kritikerinnen und Kritiker des Zweigenderings avancierten, finden dass sich überhaupt viel geändert habe, auch dank Riot Grrrl. Nicht nur gebe es heute ein ganz anderes Bewusstsein für weibliche Körper- und Sexualitätsfragen, sondern auch viel mehr Präsenz von Frauen im Musikgeschehen, zumindest in den englischsprachigen Ländern. Auf den Einwand, dass diese Anwesenheit in den Charts meist an einen normierten Attraktivitätsimperativ gekoppelt sei, kontert Brownstein, den sehe sie bei Taylor Swift nicht, und Beyoncé sei einfach eine fantastische Musikerin und Tänzerin, die am Ende sowieso immer gegen alle Kritikerinnen und Kritiker gewinne. Überhaupt: »Bei klassischem Ballett haben die Frauen doch auch nicht mehr an, und niemand regt sich auf. Hey, wenn ich einen Körper wie Beyoncé hätte, dann würde ich den auch zeigen!«
Die feministische Solidarität, die als Grundton immer mitschwingt, wird auf dem Album selten explizit. Stattdessen machen sich Sleater-Kinney im Opener »Price Tag« Gedanken über den globalen Kapitalismus und unser aller Verstrickungen in seine hässlichen Ausbeutungsmechanismen. Lösungen? Tucker spricht sich für eine Anhebung des Mindestlohns und Obamacare aus. Aber auch der unternehmerische Geist der vielen DIY-Businesses im Alternativparadies Portland, wo quasi jeder davon träumt, den besten Fair-Trade-Kaffee zu brauen oder die vegansten Cupcakes zu backen und zu verticken, ist ihnen sympathisch. »In Portland, everybody is very entrepreneurial.« Aha. Das gilt in besonderem Ausmaß für Brownstein, die soeben, mit gerade 40, die Niederschrift ihrer Memoiren beendet hat, die im kommenden Herbst veröffentlicht werden. Zudem ist sie mittlerweile viel bekannter als Schöpferin und Darstellerin der brüllend komischen TV-Serie »Portlandia«, in der sie mit ihrem Soulmate Fred Armisen die Macken der Bio-BoBos ihrer Heimatstadt parodiert, die zum Beispiel im Restaurant gerne wissen wollen, wie das zu verspeisende Biohuhn denn so gelebt und ob es sich auch wohl gefühlt habe. Doch dass ungefähr die Hälfte des Jahres mit Drehterminen blockiert ist und Corin Tucker mit dem Videofilmer und Jackass-Mitarbeiter Lance Bangs mittlerweile zwei Kinder und dadurch auch veränderte Prioritäten und Zeitpläne hat, sehen die Musikerinnen nicht als Hindernis, sondern als Vorteil – auch wenn allen klar ist, dass selbst eine Band ihrer Größenordnung heute nur noch durch ständiges Touren überhaupt Geld verdienen kann.
Doch einer der Gründe, warum Sleater-Kinney vor knapp zehn Jahren das Handtuch warfen, waren die Angstzustände und hypochondrischen Beklemmungen, die Brownstein immer häufiger auf Tour befielen. Dem amerikanischen Rolling Stone vertraute sie im März 2014 an, dass am Ende ihre Ängste größere Dimensionen als die Band selbst angenommen hatten und es für Tucker kein Spaß mehr gewesen sein könne, eine Verrückte in der Band zu haben. Damit sich der Stress nicht wiederholt, wurde zum ersten Mal ein professionelles Management angeheuert, das die Hand über alles hält und auch mal die Bremse zieht. Was durchaus notwendig sein könnte, wenn man bedenkt, dass viele der angekündigten Auftritte binnen kürzester Zeit ausverkauft waren und die Fans im Internet darum betteln, mit Shows in ihrer Nähe bedacht zu werden. Womit wir wieder bei den Tränen vom Anfang wären.

Sleater-Kinney: No Cities To Love (Sub Pop/Cargo)