German Angst. Warum die deutsche Politik Alexis Tsipras fürchtet

Die Stunde der Drachmentöter

Die mögliche Wahl von Alexis Tsipras zum griechischen Ministerpräsidenten versetzt die deutsche Politik in Aufregung. Hierzulande ist der linke Politiker den einen Hass- und den anderen Heilsfigur.

»Wir sind keine deutsche Kolonie!« Mit diesen und ähnlichen an Angela Merkel gerichteten Aussagen hat es Alexis Tsipras, der Vorsitzende der Koalition der radikalen Linken (Syriza), in Deutschland zu einem für griechische Politiker beachtlichen Bekanntheitsgrad gebracht. Für die einen ist er ein gefährlicher Extremist, der Griechenland in den Abgrund treiben und Deutschland um die Rückzahlung seiner Kredite bringen will – und es gar wagt, von ausstehenden deutschen Reparationszahlungen zu sprechen. Anderen gilt er als neuer Heilsbringer, der die europäische Linke wieder zu einer bestimmenden Größe machen soll.

In der deutschen Presse scheint ein Wettbewerb um die reißerischste Charakterisierung des Politikers im Gange zu sein: Vom »Volkstribun, der Euro-Land erzittern lässt« (Welt) über »Griechenlands charmanten Brandstifter« (Spiegel) bis zum »Rattenfänger von Athen« (SZ) ist alles dabei. Seit Syriza im Dezember im griechischen Parlament die Wahl des Regierungskandidaten Stavros Dimas zum Staatspräsidenten verhindert und damit vorgezogene Neuwahlen erzwungen hat, ist die deutsche Rezeption noch aufgeregter. Das hat vor allem damit zu tun, dass Syriza nach aktuellen Umfragen beste Chancen hat, die regierende konservative Partei Nea Dimokratia auf den zweiten Platz zu verweisen und mit Tsipras den derzeitigen Ministerpräsidenten Andonis Samaras abzulösen. Die Aussicht auf »Athens Che Guevara« (Cicero) an der Macht löst hierzulande starke Reaktionen aus. Da drängt sich eine Frage auf, die sich auch die Bild-Zeitung stellt: »Wer ist dieser Linke, der unser Geld nicht zurückgeben will?«
In jedem Fall hat der 40jährige Tsipras eine Karriere in Rekordzeit hingelegt. Mit 16 Jahren begann seine politische Laufbahn als Mitglied der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE). Er machte sich erstmals als Anführer von Schülerprotesten gegen Privatisierungen in den Jahren 1990 und 1991 einen Namen, während seiner Ausbildung zum Ingenieur betätigte er sich in der griechischen Studentenbewegung. Als sich 1992 mit Synaspismos ein linkes Bündnis aus Reformkommunisten, Umweltbewegten und Pazifisten – ohne die KKE – formierte, war Tsipras dabei. 1999 wurde er Sekretär der Jugendorganisation dieser Partei. In dieser Funktion war er an globalisierungskritischen Protesten und der Gründung des griechischen Sozialforums beteiligt. 2006 erregte er mit unkonventionellen Auftritten in roten Stiefeletten Aufsehen und wurde prompt zum jüngsten Stadtrat Athens gewählt, bereits ein Jahr später übernahm er den Parteivorsitz bei Synaspismos. Seit 2008 ist Tsipras zudem Vorsitzender des Parteienbündnisses Syriza, zu dem sich ehemalige Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Pasok, Kommunisten und eine größere Anzahl maoistischer, trotzkistischer und globalisierungskritischer Splittergruppen vereint haben.
Mit dem Vorsitzenden Tsipras, der sich als Verteidiger der nationalen Souveränität gegen das Finanzdiktat der sogenanneten Troika in Szene setzte, waren diese griechischen Linken gut aufgestellt und gewannen in der Staatsschuldenkrise, von der das Land ab 2010 erfasst wurde, Wähler. Hatte Syriza bei den Parlamentswahlen 2009 noch unter fünf Prozent der Stimmen erhalten, wurde das Bündnis im Mai 2012 mit fast 17 Prozent zur zweitstärksten Kraft nach den Konservativen. Tsipras wurde damals zeitweilig sogar mit der Regierungsbildung beauftragt und nutzte die öffentliche Aufmerksamkeit, um der EU mit heroischer Geste mitzuteilen, dass er vom griechischen Volk den Auftrag erhalten habe, die Spar­auflagen für nichtig zu erklären. Nachdem eine Regierungsbildung am beiderseitigen Unwillen von Nea Dimokratia und Pasok einerseits und Syriza andererseits gescheitert war, wurden Neuwahlen nötig, bei denen sich das Linksbündnis auf fast 27 Prozent steigern konnte – seitdem stellt die Partei 71 der 300 Abgeordneten im Parlament. Die Bedeutung, die Tsipras’ Aufstieg auch außerhalb Griechenlands beigemessen wurde, manifestierte sich in seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten der Europäischen Linken für die Europawahl 2014, bei der Syriza erstmals als stärkste Partei Griechenlands aus den Wahlen hervorgingen.

Tsipras’ wichtigste Versprechen für die anstehenden Wahlen sind der Stopp des Schuldendienstes und der Privatisierungen, neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und niedrigere Steuern – nach Ansicht des Spiegel kommt das einem »Selbstmordprogramm« gleich. Und da Tsipras vor der Regierungsübernahme steht, hyperventiliert Deutschland. Seit sich kürzlich die Nachricht verbreitete, dass Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble das Szenario eines Ausstiegs Griechenlands aus der Euro-Zone durchgespielt hätten und diesen für verkraftbar hielten, drohen Unionspolitiker den griechischen Wählern recht unverhohlen, sollten sie ihr Kreuz an der falschen Stelle machen. So bekräftigte Michael Fuchs, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, dass Griechenland die Währungsunion verlassen müsse, wenn eine sozialistische Regierung das auferlegte Sparprogramm aufkündigen sollte. Der Vorsitzende der Unionsgruppe im Europäischen Parlament, Herbert Reul, sagte dem Focus: »Es darf keinen Tsipras-Rabatt geben und es wird keinen Tsipras-Rabatt geben. Solche Links­chaoten dürfen nicht nachträglich dafür belohnt werden, dass sie die Menschen aufwiegeln.« Sein Fraktionskollege Markus Ferber pflichtete ihm in der Welt bei: »Wenn die Griechen unter einem möglichen Regierungschef Tsipras wieder zum alten Schlendrian zurückkehren wollen, dann sollen sie das machen, das ist eine souveräne Entscheidung des griechischen Volkes – aber dann wird es keine Hilfen der EU mehr geben.« Die neuen Aussagen führender Unionspolitiker erfreuen besonders Bernd Lucke, den Vorsitzenden der »Alternative für Deutschland«, die ihren Aufstieg nicht zuletzt dem eng mit Tsipras verbundenen Schreckgespenst vom undankbaren Griechen zu verdanken hat, der deutsche Steuergelder verprasse. Er begrüßte die »späte Einsicht« der Bundesregierung und sah die eurokritische Politik seiner Partei bestätigt.
Ganz im Gegensatz dazu ist die Linkspartei voller Hoffnungen und Erwartungen, was den möglichen ersten Wahlsieg einer Kraft links der etablierten Sozialdemokratie in der Geschichte der EU angeht. Von Tsipras verspricht man sich eine Art Erweckungserlebnis, den Anfang vom Ende der Austeritätspolitik, einen kontinentalen Aufschwung der Linken, wie der Parteivorsitzende Bernd Riexinger unlängst sagte. Der Abgeordnete Dieter Dehm verkündete Ende vergangenen Jahres im Bundestag: »Griechenland wird mit Alexis Tsipras und der Syriza aufstehen gegen die Finanz­oligarchen.« Gerne schmückt sich »Die Linke« mit der Erfolgsgeschichte ihres Stars in der Hoffnung, dass ein wenig von seiner Siegeraura abfärbe. Mehrmals reiste Tsipras schon für Auftritte nach Deutschland. Nach dem Vorbild von Hugo Chávez in Lateinamerika scheint man auch hier auf die Ausstrahlung eines starken Caudillo zu setzen.
Doch seine Gegner und Anhänger in Deutschland übersehen gern, dass Tsipras trotz markiger Sprüche längst Realpolitik betreibt. Dies hat ihm bereits Anfeindungen seiner eigenen Parteilinken eingebracht, als deren wichtigster Wortführer der Kommunist Panagiotis Lafazanis gilt, der sich für eine Nationalisierung der Banken und eine Rückkehr zur Drachme einsetzt. Entgegen verbreiteter Ansichten lehnt Tsipras einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone vehement ab und signalisiert seit kurzem auch gen Deutschland Kompromissbereitschaft. Um seine Chancen bei der bürgerlichen Wählerschaft zu verbessern, näherte er sich in den vergangenen Monaten auch der orthodoxen Kirche an. Bereits 2013 hatte Tsipras bei einigen wenigen linken Kritikern für Empörung gesorgt, als er sich mit dem Vorsitzenden der nationalistisch-konservativen und rechtspopulistischen Partei »Unabhängige Griechen«, Panos Kammenos, traf, um über eine mögliche Zusammenarbeit zu verhandeln. Ganz ins Bild passen da nationalistische Entscheidungen, wie etwa die Abmahnung eines Abgeordneten von Syriza, der sich gegen militärische Auseinandersetzungen mit der Türkei aussprach.

Tsipras hat also bereits mehrfach bewiesen, dass er die nötige Flexibilität mitbringt, um griechischer Ministerpräsident zu werden. Für Merkel, Schäuble und die »deutschen Steuerzahler« dürfte das bedeuten, dass sie sich keine allzu großen Sorgen machen müssen. Wer dagegen in Deutschland von einer linksradikalen Regierung in Griechenland träumt, sollte sich dringend einem Realitätscheck unterziehen.