Der Film »Wir sind jung. Wir sind stark« zu Rostock-Lichtenhagen

Riot von rechts

Der Spielfilm »Wir sind jung. Wir sind stark« beschäftigt sich mit den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen. Leider werden die Opfer vergessen.

Ich war noch sehr klein, als die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen stattfanden«, sagt der 1980 in Erkelenz im Rheinland geborene Regisseur Burhan Qurbani. »Ich kann mich erinnern, dass ich mich plötzlich sehr fremd gefühlt habe.« Qurbanis Eltern sind aus Afghanistan eingewandert, er selbst hat sich nach der pogromartigen Ausschreitungen als Ausländer gesehen.
Fünf Tage lang versammelte sich im August 1992 die deutsche Nachbarschaft vor der neben dem Sonnenblumenhaus gelegenen Asylunterkunft. Die Hochhaussiedlung in Ostseenähe war zu DDR-Zeiten beliebt, hier zogen Ingenieure, Lehrer und Werftarbeiter gerne mit ihren Familien ein. Die Menschen, die sich hier an den lauen Sommerabenden zusammenrotteten, um gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber zu protestieren, bildeten einen Bevölkerungsquerschnitt ab. Die Aufnahmestelle war für das ganze Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gedacht, hatte aber nur 150 Plätze und war permanent überbelegt. Anstatt sich für eine menschenwürdige Unterbringung der zum Teil vor dem Gebäude notdürftig campierenden Flüchtlinge einzusetzen, wurden die Asylsuchenden beschimpft. Vor laufenden Fernsehkameras ließ man den Aggressionen gegen »Zigeuner« freien Lauf. Der offen artikulierte Rassismus der Nachbarschaft war derart bedrohlich, dass sich kaum abweichende Meinungen fanden. Seit dem 20. August fand man sich abendlich vor der Aufnahmeeinrichtung zusammen. Nazikader aus Westdeutschland reisten an und machten Erinnerungsfotos. Direkt neben dem Haus befand sich seit DDR-Zeiten das Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter, die dort noch in ihren Wohnungen lebten.
Burhan Qurbanis Film »Wir sind jung. Wir sind stark« zeigt die Ereignisse an einem Tag, dem 24. August, dem Höhepunkt der Gewalt, aus verschiedenen Perspektiven. Da ist Lien, eine ehemalige Vertragsarbeiterin, die in einer Großwäscherei ihr Geld verdient. Mit ihrem Bruder Thao und dessen hochschwangerer Frau Minh streitet sie darüber, ob es besser ist, nach Vietnam zurückzukehren oder im neuen Deutschland zu bleiben. Da ist der Lokalpolitiker Martin (Devid Striesow), der keine Gewalt will, der überfordert zwischen Rathaus, Eigenheim und Plattenbauten hin- und herfährt. Sein Sohn Stefan ist mit seiner Clique junger Neonazis ganz vorne dabei, wenn es gegen die »Zigeuner«, gegen die »Fidschis« geht.
Die eigentlichen Protagonisten aber sind die Jungen der Naziclique. Mit Stefan, Robbie, Sandro, Tabor und den anderen aus der Gruppe beginnt und endet der Film. Zwei Mädchen sind auch dabei, aber Jennie und Ramona laufen nur als Freundinnen mit. Zwischen den zwölfstöckigen langgezogenen Plattenbauten mit einem Aufgang neben dem anderen sind ein paar Garagen zu sehen, Wiese, Wege, Straßen. Die Clique trifft sich in einem alten Barkas 3 000, eine Kiste Bier, Oi-Musik mit Nazitexten, ein paar rechte und dumme Sprüche, fertig ist die Freizeit­gestaltung. Ben fühlt sich dort unwohl in seiner Bomberjacke, er würde lieber wieder auf der Werft arbeiten, wie früher. Wenig später ist er tot, aus der Wohnung im achten Stock gesprungen. Robbie ist so verroht, dass er den Abschiedsbrief von Ben an seinen Vater zerreißt, sich über dessen Verzweiflung lustig macht. Stefan war mit Ben befreundet, steht stumm daneben, Robbie drängt ihm die Bomberjacke des toten Freundes auf: Nimm sie oder schmeiß sie weg. Robbies älterer Bruder sieht die Jacke an Stefan, umarmt ihn, erklärt dumpf-wichtigtuerisch: Du trägst jetzt die Jacke eines Märtyrers, der gestorben ist, weil der Staat alles Geld den Ausländern gibt anstatt den Deutschen. Die Clique wird nahezu gruppendynamisch gezeigt, wer Schwäche zeigt, wird runtergemacht, Gehorsam ist gefragt.
Qurbani inszeniert das Geschehen als Riot von rechts: Eine Polizeistreife wird provoziert, vor linken Punks wird mit Hitlergruß Stärke markiert. Der Höhepunkt aber ist die abendliche Gewalt gegen die Bewohner der Unterkunft und des Sonnenblumenhauses. Langsam füllt sich in den Nachmittagsstunden die Wiese, viele bringen sich Campingstühle und Bier mit. Auf den Garagen bauen sich mehrere Fernsehteams für die Live-Berichterstattung auf. Die Naziclique kommt vom Baden am nahegelegenen Ostseestrand zurück und wird sogleich interviewt. Der bis dahin zwecks Unterstreichung der Tristesse in schwarz-weiß gedrehte Film wird jetzt plötzlich farbig. Das Interview wirkt harmlos, die Jugendlichen erzählen von ihren Träumen, bringen coole Sprüche, sind zwar aggressiv und roh, äußern sich aber nur zaghaft rassistisch. Vor allem sind sie aufgeregt. Der Menschenmenge gegenüber stehen vor der Aufnahmestelle und dem Sonnenblumenhaus Polizeiketten. Rufe sind zu hören: Haut ab, haut ab!
Der Lokalpolitiker Martin mischt sich im Parka unter die Menge, sucht seinen Sohn. Als er sieht, wie Steine auf die Polizisten und die beiden Häuser geworfen werden, ruft er »Wir sind das Volk« und »Keine Gewalt!«. Bei den Umstehenden stößt er damit zwar auf wenig Resonanz, bekommt aber auch keinen Ärger.
Lien, Thao und Minh beobachten von oben die wachsende Brutalität des Angriffes, flüchten auf den Dachboden des Hauses. Die Aufnahmestelle ist zu diesem Zeitpunkt geräumt, am Nachmittag sind die Flüchtlinge auf andere Unterkünfte verteilt worden.
Die konfus agierende Polizei zieht sich am späten Abend zurück, die Häuser bleiben schutzlos. Jetzt werden nicht nur Steine geworfen. Robbie drückt Stefan einen Molotow-Cocktail in die Hand, steckt den Zündlappen an. Nun muss Stefan werfen. Mutprobe. Flammen schlagen aus einem Fenster im Erdgeschoss. Eigentlich ist Robbie auf Stefan sauer, weil er jetzt mit seiner Exfreundin Jennie zusammen ist. Und sie sind doch Freunde. Gemeinsam dringen sie in eine Wohnung ein, zünden unter dem Gejohle der Menschenmenge Gardinen an und zerschlagen die Einrichtung von Lien, Thao und Minh. Stefan lehnt sich aus dem Balkonfenster, zeigt den Hitlergruß unter Applaus. Sein Vater sieht ihn und wirkt machtlos. Während die Na­zijungs nach dem Zerstörungsrausch das Haus verlassen, müssen die Vietnamesen fliehen, sie retten sich in das Nachbarhaus. Aber niemand öffnet ihnen trotz ihrer panischen Angst die Wohnungstüren. Endlich – die Arbeitskollegin von Lien lässt sie herein.
Trotz des metaphorisch überhöhten Endes: Die Geschichte ist nicht nur streckenweise hölzern erzählt, der Film ist auch verharmlosend. Die realen Ereignisse an diesem brutalen Montag, dem 24. August 1992 in der Mecklenburger Straße in Rostock-Lichtenhagen, werden abgehakt, aber zum Teil in abgeschwächter Form inszeniert. Vor allem der volksgemeinschaftliche, eliminatorische Rassismus. Als die vor allem aus Rumänien eingereisten Asylsuchenden evakuiert wurden, blieb es nicht bei ein paar Buh-Rufen einiger deutscher Nachbarn, wie es im Film gezeigt wird. Mit Steinen wurden Busfenster eingeschmissen, die Flüchtlinge duckten sich in Panik auf den Boden der Busse. Auch die nächtliche Flucht der Vietnamesen aus dem Sonnenblumenhaus wirkt auf dokumentarischen Filmaufnahmen viel dramatischer: So ließ sich der Durchgang zum Nachbarhaus länger nicht öffnen, währen die Flammen näher kamen. Die Gesichter der mit einem Brecheisen verzweifelt an der Tür Hantierenden bleiben im Gedächtnis.
In der Menschenmenge tauchen antirassistische Langhaarige mit Transparenten auf, die sich für die Asylsuchenden und die ehemaligen Vertragsarbeiter einsetzen und fordern: keine Gewalt. Tatsächlich war es 1992 so, dass sich die angereisten rund 300 Linken nicht trauten, abends vor das Sonnenblumenhaus und die Aufnahmestelle zu gehen.
»Wir sind jung. Wir sind stark« wird der Bedeutung des antiziganistisch motivierten Pogroms auch in anderer Hinsicht nicht gerecht: Zwar zeigt Qurbani, dass hauptsächlich Roma in und vor der Aufnahmestelle untergebracht waren. Aber sie bleiben namenlose Objekte, keine Romni, kein Rom sagt auch nur einen Satz in die Kamera, niemand von ihnen wird als Persönlichkeit dargestellt. Nur einmal ist zu sehen, wie eine Romni empört den Arm wegzieht, als ein Polizist sie anpacken will, damit sie schneller in den Bus zum Abtransport einsteigt. Der etwas konstruierten Dramaturgie des Filmes hätte es nicht geschadet, wenn er auch die Perspektive der Roma berücksichtigt hätte.
Dies ist umso ärgerlicher, als es mit »The truth lies in Rostock« einen eindrücklichen Dokumentarfilm über die Gewalt in Rostock-Lichtenhagen gibt. Darin kommen viele Opfer zu Wort, der gewalttätige Antiziganismus der deutschen Dominanzgesellschaft wird ausführlich kritisiert. »The truth lies in Rostock« wurde vom Jugend-Aktiv-Zentrum Rostock produziert und nur in ausgewählten Kinos, aber noch nie im deutschen Fernsehen gezeigt.

»Wir sind jung. Wir sind stark« (D 2014). Regie: Burhan Qurbani; Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke; Kamera: Yoshi Heimrath; mit: Jonas Nay, Trang Le Hong, Devid Striesow, Joel Basman, Saskia Rosendahl. Im Kino ab 22. Januar.