»Stadtentwicklung von unten in Leipzig«

Leipzig ist nicht Anti-München

Die Zeiten des großen Leerstands sind in Leipzig vorbei. Auch dort lohnt sich mittlerweile das Immobiliengeschäft. Die Georg-Schwarz-Straße ist ein gutes Beispiel für die Entwicklung.

Die Georg-Schwarz-Straße in Leipzig ist an ihrer schmalsten Stelle gerade einmal 13 Meter breit. Wenn die Straßenbahn vorbeifährt, fühlt es sich in den Häusern aus der Gründerzeit so an, als würde sie mitten durch das Zimmer rumpeln. Die Fassaden sind oft grau, immer wieder liegt der charakteristische Geruch der Kohlenheizung in der Luft.
Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass eine neue Klientel den Stadtteil Leutzsch für sich entdeckt hat. Zwischen Getränkemarkt, Schnellimbiss und Altreifenhändler finden sich neuerdings auch ein Bioladen und zwei Läden mit Selbstgeschneidertem, demnächst soll hier ein Antiquariat eröffnen. Dazu gibt es allerlei Soziokulturelles wie eine Selbsthilfewerkstatt mit dem schönen Namen »Café Kaputt«, eine autodidaktische Initiative und den Veranstaltungsraum »Hinz und Kunz«. Die Straße hat sich rasant entwickelt. »Stadtteilentwicklung von unten« heißt dies in einer jüngst erschienenen Selbstbeweihräucherungsbroschüre der Stadt Leipzig mit dem Titel »Kaleidoskop Georg-Schwarz-Straße«.

»Von unten«, das bedeutet in diesem Falle unter Beteiligung von Bürgern, die willens und in der Lage sind, jede Menge Zeit und Ressourcen in die Entwicklung ihres Stadtteils zu stecken. Einer von ihnen ist Roman Grabolle. Der studierte Archäologe wohnt, arbeitet und engagiert sich hier in der Straße, er hat gemeinsam mit anderen das Haus mit der Nummer 11 gekauft, um es zu sanieren. Das Etikett des Pioniers, das Menschen wie ihm häufig angeheftet wird, die auf der Suche nach bezahl- und gestaltbarem Wohnraum in immer neue Viertel drängen, lehnt er ab. »Es haben ja schon immer Menschen hier gewohnt«, sagt er.
Allerdings waren es etliche weniger: Noch im Jahr 2008 standen 51 der 177 Gebäude der Georg-Schwarz-Straße, meist Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit, vollständig leer, in anderen waren nur noch vereinzelt Mieter zu finden. Etwa ein Drittel der Häuser war noch unsaniert, einige davon waren baufällig. Diese Daten hat nicht die Stadt Leipzig erhoben, sie stammen aus Analysen, die Bürger angefertigt haben. Der Bürgerverein Leutzsch und der Stadtteilverein Lindenau haben den Leerstand beschrieben, Hausbesitzer recherchiert und die Potentiale der Straße analysiert. Arbeitsgruppen wurden etabliert, weitere Vereine und schließlich auch die zuständigen Stellen der Stadtverwaltung einbezogen. Bei den Behörden stießen die engagierten Bürger auf offene Ohren. Schnell waren Workshops organisiert, um Konzepte für die Zukunft der Straße zu entwickeln. »Wir haben von Anfang an auf Augenhöhe mit der Verwaltung zusammengearbeitet und an den Konzepten mitgeschrieben«, sagt Grabolle.
Zunächst interessierten sich Hausgruppen wie die, in der Grabolle Mitglied ist, für die Gebäude am Anfang der Straße. Im benachbarten, sehr viel angesagteren Plagwitz waren die Räume knapper geworden und die Immobilienpreise in die Höhe geschnellt. Dagegen waren die Konditionen in der Georg-Schwarz-Straße noch günstig. Zwischen 40 und 80 Euro pro Quadratmeter zahlten die Gruppen je nach baulichem Zustand für ihre Mehrfamilienhäuser. Vier davon etablierten sogenannte Hausprojekte: Die Gebäude wurden in Kollektiveigentum überführt, werden gemeinschaftlich saniert und verwaltet. Andere schufen gemeinsam klassisches Privateigentum. Die Stadtverwaltung stand diesen Hausprojekten durchaus wohlwollend gegenüber und half sogar bei der Kreditbeschaffung. Einige Projektbetreiber engagierten sich zudem im Kiez.
2011 wurde mit Mitteln aus dem Bund-Länder-Programm »Aktive Stadt- und Ortsteilzentren« ein Verfügungsfonds für die Georg-Schwarz-Straße geschaffen und ein sogenanntes Magistralenmanagement eingerichtet. Seither teilen sich sechs Personen anderthalb Stellen. »Das sind Leute, die den Stadtteil kennen und schon vorher aktiv waren«, freut sich Karsten Gerkens, Leiter des städtischen Amtes für Stadtentwicklung und Wohnungsbauförderung (ASW). »Das geht nicht überall.«

Diese Manager, zu denen auch Grabolle gehört, beraten Hausbesitzer beim Verkauf oder bei der Sanierung und vermitteln Käufer oder Mieter für die Ladenflächen. Sie halten Kontakt zur Stadtverwaltung, zu den zahlreichen Vereinen und den Gewerbetreibenden vor Ort, betreuen den Internetauftritt der Straße, organisieren Stadtteilrundgänge und einmal im Jahr ein Straßenfest. Als in einem Mehrfamilienhaus eine Flüchtlingsunterkunft mit 35 Plätzen entstehen sollte, informierte das Magistralenmanagement die Anwohner und warb für das Vorhaben. Der Einzug der Flüchtlinge ging ohne Zwischenfälle über die Bühne – im Gegensatz zur Unterbringung von Flüchtlingen in anderen Stadtteilen. »Hier gibt es eine generelle Offenheit im Denken, die Bürger interessieren sich für das Wohl des Stadtteils«, sagt Ina Lackert, die die Geflüchteten sozial betreut. »Unsere Bewohner fühlen sich hier wohl.«
Doch die Zeiten, in denen sich außer einigen Anwohnern und Hausgruppen niemand für die Georg-Schwarz-Straße interessierte, sind vorbei. Leipzig ist für Investoren attraktiv geworden, der Markt ist in Bewegung. Inzwischen haben auch professionelle Immobilienentwickler die Straße für sich entdeckt. Sie kaufen Häuser, sanieren sie und verkaufen dann Eigentumswohnungen.
Eine der ersten Firmen, die in der Georg-Schwarz-Straße tätig wurde, war die Leipziger Stadtbau AG. Bereits 2010 kaufte sie vier Karrees mit insgesamt 61 Gründerzeithäusern. Seither saniert sie die Immobilien Stück für Stück. In einem Eckgebäude entstand zwischenzeitlich ein sogenanntes Wächterhaus. Dabei erlaubt der Eigentümer eines leerstehenden Baudenkmals Interessenten, für eine kleine Miete oder sogar umsonst in seinem Haus zu wohnen. Die Bewohner, häufig sogenannte Kreative, verpflichten sich im Gegenzug, das Gebäude vor dem Verfall zu bewahren. Für Amtsleiter Gerkens ist dies ein Beispiel dafür, was zum gegenseitigen Vorteil möglich ist, »wenn es gelingt, die Ideologie beiseitezulassen«.
Doch zum Jahreswechsel war Schluss mit dem Wächterhaus, nun wird saniert. Die Stadtbau AG vermarktet ihre sanierten Karrees als »Brunnenviertel«. Verschiedene Wohnungsgrößen, zum Teil barrierefrei und betreut, ökologisch nachhaltig, mit begrünten Innenhöfen und mittlerer bis gehobener Ausstattung – das Angebot richtet sich ganz eindeutig an die Mittelschicht.

»Die Spielräume, innerhalb derer wir etwas gestalten können, werden langsam enger«, sagt Grabolle. »Im Kleinen kann man noch was drehen, aber die großen Linien geben inzwischen die großen Immobilienentwickler vor.« Um den bunten Anfang der Straße ist es Grabolle dennoch nicht bange. »Hier vorne hat sich eine Nische einbetoniert. Wir haben eine kritische Masse erreicht.« Daraus will auch das ASW lernen. Es entwickelt derzeit mit Anwohnern aus der Georg-Schwarz-Straße Konzepte, wie selbstbestimmtes und preisgünstiges Wohnen mit kommunaler Hilfe auch für ein breiteres Publikum ermöglicht werden könnte. »Auch der DHL-Fahrer und die Zahnarzthelferin sollen diese Projekte machen können«, sagt ASW-Leiter Gerkens. Er nennt dieses Konzept auch »Anti-München«.