»Predictive policing« und Überwachungsmethoden der Polizei

Ich weiß, was du morgen getan hast

Vorausschauend handeln – was Geheimdienste seit jeher treiben, schlägt sich längst auch als predictive policing in der Polizeiarbeit nieder.

Am 19. Februar veröffentlichte die von Glenn Green­wald gegründete US-Website The Intercept Informationen aus dem Datenbestand von Edward Snowden, denen zufolge die amerikanische National Security Agency (NSA) und das britische Government Communications Headquarter (GCHQ) in den Jahren 2010 und 2011 bei führenden europäischen Herstellern von Sim-Karten die Verschlüsselungscodes der vertriebenen Karten erbeutet haben sollen. Die demokratischen Spione erlangten ihre intelligence den Dokumenten zufolge mittels systematischer weltweiter Durchforstung der privaten Telekommunikation von Angestellten der betroffenen Unternehmen.
Bei diesen handelt es sich zunächst um den niederländischen Kartenhersteller Gemalto, der mit dem Slogan »Security to be free« um Kundenvertrauen wirbt und derzeit als international größter Produzent von elektronischen Chipkarten einen Weltmarktanteil von etwa 50 Prozent hält. Die deutschen Telekommunikationsfirmen Vodafone und Deutsche Telekom räumen offen ein, von Gemalto produzierte Karten einzusetzen. Man habe jedoch den Standardverschlüsselungsalgorithmus der Karten geändert, teilte die Telekom mit. Vor oder nach Kenntnis der Ausspähung? Darauf ist derzeit keine Antwort zu erlangen. Dafür herrscht aber verhaltener Optimismus. »Aktuell habe das Unternehmen keine Kenntnis, dass dieser zusätzliche Schutzmechanismus kompromittiert worden sei«, berichtete die FAZ. »Aktuell« dürfte hier wohl heißen: bis die nächsten Informationen aus Snowdens Dokumenten publik werden.

Ohnehin scheinen hierzulande die Nerven wieder einmal blank zu liegen. »Die Attacke greift das Fundament der mobilen Kommunikation an«, räsonierte die FAZ, um sodann Linus Neumann vom Chaos Computer Club (CCC) zu zitieren: »Sim-Karten sind der Vertrauensanker aller Sicherheitsvorkehrungen in Mobilfunknetzen.« Die gegenwärtige Aufregung ist freilich nichts Neues. Wiederholt war in den 20 Monaten, die seit den ersten Enthüllungen Snowdens vergangen sind, der an die »Freunde« jenseits des Atlantiks gerichtete Aufschrei zu hören: »Ihr nehmt uns alles, und nun wollt ihr auch noch unser Netz- und Kommunikationsvertrauen!« Wie so mancherlei Geschrei hat auch dies bislang für alle Beteiligten keine Auswirkungen gehabt. Zu schwer wiegen offenkundig die Gemeinsamkeiten der politischen Interessen der transatlantischen Bündnispartner, auch in Sachen Überwachung. Deutsche und andere europäische Geheimdienste profitieren wohl nicht unerheblich vom US-amerikanischen Erkenntnismaterial, auch wenn sie dieses nur selektiv in die Finger bekommen. Auch haben gerade deutsche Dienste überzeugend gezeigt, dass sie Ähnliches zu leisten in der Lage sind wie ihre großen US-Geschwister (Jungle World 35/14).
Neu allerdings ist der rüde antiamerikanische Tonfall in explizit staatstragenden Medien wie der FAZ. Deren Kommentator Jasper von Altenbockum schimpfte am 21. Februar: »Warum aufwendig entschlüsseln, wenn Stehlen doch viel schneller und leichter geht?« Die rhetorische Frage des wütenden Kommentators könnte variiert werden: Warum aufwendig elektronische Verbindungsdaten sammeln, warum zeitraubend Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung durch die Instanzen bringen, wenn doch à la américaine alles viel schneller und leichter geht? Kurz: Die scheinbar aufsässige Anklage gegen den Verbündeten kann auch als projektive Umkehrung des Wunsches nach Machtzuwachs für den deutschen Staat gelesen werden.

Dieser befindet sich wie seine Konkurrenten in einem grundsätzlichen Dilemma der Souveränität: Sich selbst als naturgegebener Garant gesellschaftlichen Lebens verstehend, stößt er stets an Begrenzungen von Raum und Zeit. Räumliche Grenzen können, wenn’s sein muss gewaltsam, mit inneren und äußeren Konkurrenten geregelt werden. Was zeitliche Grenzen betrifft, sind im demokratischen Staat konkurrierende Historiker für die Vergangenheit zuständig, für die Zukunft neben den randständigen Sekten der Marktforscher und Demoskopen vor allem Polizei und Geheimdienste. Denn jeder Staat will seine Definition des Gemeinwohls gegen andere Definitionen und deren Wirkungsansprüche absichern, und dann beginnt die Zukunft mit dem nächsten Atemzug. Was werden »die anderen« kurz-, mittel- und langfristig als Nächstes anstellen? Erforderlich ist hier eine voraussehende polizeiliche Arbeit – das predictive policing.
Predictive policing als Überwachungskonzept gilt deutschen Medien als originär US-amerikanische Erfindung, die in Großbritannien weiterentwickelt wurde und nun allmählich in Deutschland adaptiert wird. Das ist aber falsch, auch in vielen internationalen Veröffentlichungen zum Thema wird stets ein deutscher Name genannt: Horst Herold, Präsident des Bundeskriminalamtes von 1971 bis 1981 (Jungle World 44/14). Herold gilt hierzulande als einer der Helden des »Deutschen Herbstes« 1977, der maßgeblich zur Niederringung der »Bedrohung« durch den RAF-Terrorismus beigetragen habe. Seine exekutiv-technokratischen Mittel, mit denen die Polizei zunächst alle unter Verdacht stellte, sodann mittels Raster- und Schleierfahndung Verdächtige von wahrscheinlich Unverdächtigen schied und aus den Verdächtigen die Staatsfeinde sonderte, gelten als Pioniertaten des predictive policing. Eine Sympathisantin sagte anlässlich des 80. Geburtstags ihres Herolds 2003 in der Zeit: »Weil er nicht erst aktiv werden wollte, wenn die Leute kriminell geworden waren, ging er zur Polizei, um Straftaten möglichst zu verhindern.«
Straftaten zu verhindern, fällt aber nach traditionellen Konzepten der Tätigkeit kapitalistischer Staatsorgane nicht in die Zuständigkeit der Polizei. Dafür sind eher die Bereiche Bildung und Erziehung sowie Soziales zuständig. Die Polizei tritt nach Straftaten auf den Plan, sucht und fasst die Verdächtigen und führt sie der Justiz zu, die mit ihrem Urteil den durch die Straftaten verletzten »Rechtsfrieden« wiederherstellt. Geheimdienste waren da – trotz aller gesetzlichen Bindung an die staatliche Gewaltenteilung – stets weiter und häufig Ermittler, Richter und Vollstrecker in Personalunion. An diesen dem allgemeinen Geschwätz durchaus vertrauten Umstand knüpft auch der bereits zitierte Kommentator in der FAZ an: »Sie mögen zwar eine Stecknadel suchen, aber dafür wollen sie erst einmal den ganzen Heuhaufen: also alles.«

Sie wollen alles! Alles will man heutzutage in Deutschland aus rein pragmatischen Gründen noch nicht. Man möchte nicht wie einst die ostdeutsche Staatssicherheit in einer Datenflut ertrinken. Im Dezember 2014 klagte in der FAZ der Stuttgarter Generalstaatsanwalt: »Bei allen Ermittlungsverfahren wegen Sexualstraftaten, Wirtschaftskriminalität und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz sind allein im württembergischen Teil des Bundeslandes 20 129 Datenträger mit einem Volumen von 1 237 Terabyte beschlagnahmt worden. Das ist eine Datenmenge, die dem Informationsgehalt von 500 Millionen Büchern mit jeweils 500 Seiten entspräche, wenn man die Maßstäbe des analogen Zeitalters anlegen würde.« Oh my fucking democracy, wer soll das alles lesen? Das überlässt man vorerst noch den Yankees.