Die Reform des Verfassungsschutzes

Frischer Wind für den Zitronenfalter

Noch ist die Reform des Verfassungsschutzes nicht beschlossen, aber eines ist jetzt schon klar: Die Behörde, die den NSU – zumindest fahrlässig – mitaufgebaut und finanziert hat, wird noch größer und stärker.

»Der Verfassungsschutz schützt die Verfassung, so wie Zitronenfalter Zitronen falten.« Mit diesem Zitat beginnt die Ausstellung »Versagen mit System« des Forums für kritische Rechtsextremismusforschung (FKR) zu Geschichte und Wirken des Verfassungsschutzes (VS), die an der Universität Leipzig bis morgen, 13. März, zu sehen ist. Die Ausstellung zeigt, dass der VS zwar vieles getan, aber sicher nie die Verfassung geschützt hat. Ganz im Gegenteil: Nach dem Krieg hat der VS alten NS-Schergen eine neue dienstliche und politische Heimat geboten, kurz darauf als antikommunistisches Repressionsorgan Oppositionelle bespitzelt, drangsaliert und deren Bürgerrechte missachtet und im Laufe seiner Geschichte nicht wenige Straftaten geduldet, wenn nicht sogar aktiv vorbereitet und durchgeführt, die seinem selbstgesetzten politischen Auftrag dienlich erschienen.
Den bisher größten Skandal stellt ohne Zweifel die fragwürdige und bis heute nur ansatzweise geklärte Rolle des VS in der neonazistischen Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) dar.

Zunächst einmal die Fakten: Zwischen 1997 und 2003 warb das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Rahmen der »Operation Rennsteig«, benannt nach einem Wanderweg im Thüringer Wald, insgesamt acht »Quellen« aus dem Umfeld des neonazistischen Thüringer Heimatschutzes an. Aufgebaut hatte den Heimatschutz maßgeblich Tino Brandt, NPD-Landesvorsitzender und zugleich V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes. Brandt war es auch, der Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – die drei Haupttäter der NSU-Mordserie – für den Heimatschutz rekrutierte. Nach ihrem Abtauchen sollte Brandt – gegen den während seiner VS-Tätigkeit 35 Mal ermittelt wurde, ohne dass es je zu einer Verurteilung kam – im Auftrag und mit Geld des thüringischen VS gefälschte Pässe für das Nazi-Trio organisieren. Insgesamt hat der Nazi-Kader für seine Dienste 200 000 DM vom Staat bekommen. Als am 4. November 2011 Mundlos und Böhnhardt in Eisenach tot in einem Wohnmobil gefunden wurden, bekam Beate Zschäpe einen bisher ungeklärten Anruf von einem auf das sächsische Innenministerium zugelassenen Mobiltelefon. Kurz darauf sprengte sie ihr Haus in Zwickau in die Luft. Wenige Tage später ordnete ein VS-Mitarbeiter die Vernichtung von Akten der »Operation Rennsteig« an.
Nach dem Auffliegen des NSU und dem Bekanntwerden der fragwürdigen Rolle des VS in der neonazistischen Mordserie wurde nun drei Jahre lang über sogenannte Pannen, Fehler und das vermeintliche Versagen des VS diskutiert – und welche Lehren daraus zu ziehen seien. Die ersten Bauernopfer dieser Debatte waren der Präsident des BfV, Heinrich Fromm, sowie die Leiter verschiedener Landesämter des VS, die im Laufe des Jahres 2012 ihren Rücktritt einreichten. Anschließend leitete das BfV im September 2012 einen internen Reformprozess ein, dessen »Kernanliegen« es sei, »das BfV zukunftsfähig aufzustellen und verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen«. Als Schwerpunktziele wurden »Priorisierung des Wesentlichen, Optimierung der Arbeitsprozesse, Erhöhung der Transparenz, Stärkung der Cyber- und IT-Kompetenz, Intensivierung der Zusammenarbeit« angegeben, was nach den Vorschlägen einer x-beliebigen Unternehmensberatung klingt. Weder die tatkräftige Unterstützung des NSU und seines Umfeldes noch die Verschleierung, Vertuschung und Aktenvernichtung, die Behinderung polizeilicher Arbeit oder auch nur mangelndes Wissen und Verständnis hinsichtlich rassistischer Gewalt werden erwähnt. Stattdessen ist, wie zu erwarten war, nur von Extremismus die Rede, unter völliger Ausblendung des neonazistischen Hintergrundes der Taten. Im Zuge der Reform wurde dann auch gleich noch die »koordinierte Internetauswertung (KIA)« für den »Linksextremismus« eingerichtet.

In einem jüngst veröffentlichten Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion zur VS-Reform ist immerhin als Ausgangspunkt der Überlegungen der »Blackout gegenüber rechtsextremistischem Terror« angegeben. Aber auch die sozialdemokratische Antwort auf das Totalversagen des VS besteht in der Zentralisierung und Stärkung der Behörde – obwohl im NSU-Prozess offensichtlich geworden ist, dass der VS aktiv gegen die Aufklärung und Verhinderung weiterer Morde des rechten Terrornetzwerkes gearbeitet hat. Nach Meinung der SPD wird der VS aber auch zukünftig als »politisches und gesellschaftliches Frühwarnsystem« benötigt, mit dem Ziel, »jede Form von Extremismus in unserem Lande entschlossen zu bekämpfen«. Als Ursachen für das Versagen werden »mangelnde Koordination, Konkurrenzdenken und Eitelkeiten« sowie »unbewusste Verdachts- und Vorurteilsstrukturen« unter den VS-Mitarbeitenden genannt, die Lösung sei ein »grundlegender Mentalitätswechsel« und »frischer Wind« in der Behörde. Hinsichtlich des viel kritisierten und  – jedenfalls was die Verhinderung von Straftaten angeht – offenbar wirkungslosen Einsatzes von V-Leuten stellt die SPD in ihrem Positionspapier zu Recht fest, dass über Jahrzehnte hinweg überzeugte Neonazis als V-Leute staatliche Unterstützung bekommen haben, »die das Jahresgehalt eines Polizisten bei weitem übertrafen«, und dass V-Leute eingesetzt wurden, »um extremistische Strukturen zu unterstützen oder sogar aufzubauen«. Nun ist diese Feststellung nichts Neues. Immerhin war das erste Verbotsverfahren gegen die NPD im Jahr 2003 genau daran gescheitert, dass zu viele NPD-Vorstandmitglieder Geld vom VS bekommen hatten und sich das Verfassungsgericht aufgrund »fehlender Staatsferne« der Partei weigerte, den Antrag überhaupt anzunehmen.
Inzwischen sind mehr als zehn Jahre vergangen. Die SPD gibt sich weiterhin empört, dass sich wohl bis zu zwei Dutzend V-Leute im Umfeld des NSU aufhielten – will aber trotzdem nicht auf sie verzichten. Nur solle man bitteschön sicherstellen, dass zukünftig nicht mehr »psychisch beeinträchtigte« Personen oder wegen versuchten Mordes Verurteilte angeworben werden – wie im Falle des NSU-Unterstützers Carsten Szczepanski alias Piatto geschehen, dessen damaliger V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath mittlerweile den sächsischen VS leitet. Ein im Februar bekannt gewordener Gesetzentwurf des CDU-geführten Innenministeriums zur Verfassungsschutzreform geht indes in eine andere Richtung. V-Leute sollen ohne Angst vor Strafverfolgung im Rahmen ihres Staatsdienstes kriminelle Handlungen begehen dürfen, wenn nötig auch solche von »erheblicher Bedeutung«, sofern es »alternativlos« erscheint. Damit würde die kritisierte Praxis nun legalisiert. Außerdem soll die Behörde 261 zusätzliche Stellen, zehn Millionen Euro und erweitere Befugnisse bei der Überwachung bekommen.
Interessanterweise ist es ein ehemaliger Verfassungsschützer, der sich für ein Ende der V-Leute stark macht: Windfried Ridder, der fast 20 Jahre als Referatsleiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz für die Bekämpfung und Überwachung des »linksextremistischen Terrorismus« zuständig war, veröffentlichte bereits 2013 das Buch »Verfassung ohne Schutz«, eine grundlegende Kritik an Arbeitsweise und Struktur seines ehemaligen Arbeitgebers. In einem Positionspapier zur VS-Reform spricht er nun erneut von einer »tiefen Krise« und einem »Systemversagen« der Behörde. Nachdrücklich fordert er, zukünftig vollständig auf V-Leute zu verzichten, da sie »im Umfeld terroristischer Beobachtungsfelder immer aus dem Ruder gelaufen« seien. Angesichts der Rolle des VS in der neonazistischen Mordserie stellt sich jedoch die Frage, ob die V-Leute tatsächlich aus dem Ruder gelaufen sind – oder nicht vielmehr ihren Dienst nach Vorschrift und politischem Willen einzelner Behörden und Beamter erledigt haben. Der Kasseler Mord in einem Internetcafé, bei dem ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes anwesend und möglicherweise gar vorab über die Mordpläne informiert worden war, ist dabei nur der eklatanteste Fall im NSU-Komplex, der auch außerhalb verschwörungstheoretischer Kreise die Frage des cui bono der aktiven Mitarbeit staatlicher Behörden an den rassistischen Morden aufwirft.

Aus diesen Gründen wurde im ersten Jahr nach Bekanntwerden des NSU und dessen Mordserie auch weit über linke Kreise die Abschaffung des Verfassungsschutz gefordert. Heribert Prantl schrieb damals in der Süddeutschen Zeitung, dass der VS im besten Falle überflüssig, im schlimmsten Falle gefährlich sei. Selbst in der FAZ konnte man 2011 lesen: »Die großen, durch niemanden kontrollierten Apparate schaffen sich den Gegenstand, der ihre Existenz rechtfertigt, irgendwann selbst. Heute können wir nur ihr völliges Versagen feststellen. Die Dienste dienen nur sich selbst. Es ist darum richtig, sie aufzulösen.« Voller Hoffnung stellten dann auch Claus Leggewie und Horst Meier – zwei Wissenschaftler, die sich schon lange kritisch mit dem VS auseinandersetzen – in den Blättern für deutsche und internationale Politik Ende 2012 fest: »Das Unbehagen am Verfassungsschutz wächst und lässt sich nicht länger mit jenen Reformplacebos beruhigen, die nach jedem größeren Skandal verabreicht werden.« Leider ist von dieser gesamtgesellschaftlichen Stimmung nicht viel übrig geblieben.
Zwar fordern neben der Linkspartei mittlerweile auch die Grünen die Auflösung der Behörde, ebenso wie der Chaos Computer Club, die Humanistische Union und weitere Gruppen. Stattdessen wird aber wohl eine »Reform« kommen, die die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Landes- und Bundesbehörden verstärkt, deren Befugnisse erweitert und als Trostpflaster etwas mehr parlamentarische Kontrolle einführt. Dafür bekommt der VS mehr Personal und Geld – mit dem er dann wieder zum Schutze der Verfassung neonazistische Gruppen finanzieren kann, während seine Mitarbeitenden an Schulen über »linksextremistische Gewalt« aufklären.