Die Graphic Novel »Ghetto Brother«

HipHop, Peace und Judentum

Die Graphic Novel »Ghetto Brother« erzählt von Benjamin Melendez, der Anfang der siebziger Jahre ein vielbeachtetes ­Friedens­abkommen zwischen verfeindeten New Yorker Jugendgangs initiierte.

Ghetto Brothers Power«: 1971 erschien in der New Yorker Bronx mit »Power-Fuerza« die einzige LP der Ghetto Brothers, einer Band um die aus Puerto Rico stammenden Brüder Benjamin, Victor und Robert Melendez, die Funk mit Salsa mischten und Prä-HipHop-Percussion mit an die Beatles erinnernden Harmoniegesängen kombinierten. Hört man das Album heute, glaubt man kaum, dass Mitglieder der Band zur selben Zeit eine gleichnamige Straßengang mit über 2000 Mitgliedern anführten. Die Band war ein Teil dieses großen Netzwerks mit dem gleichen, durchaus politischen Anspruch, den das Album formuliert. Auf dem Backcover der in kleiner Auflage veröffentlichten und nur von Hand zu Hand in der Bronx vertriebenen Schallplatte erklärten die Musiker ihr eigenes Verständnis als Band wie auch als Gang: »Die Ghetto Brothers, eine Community- Organisation zur Überbrückung der ständig wachsenden Kluft zwischen Gesellschaft und Minderheiten, glauben, dass Musik die gemeinsame Sprache der Welt sein kann. Musik kann die Gesellschaft mit der Not der kleinen Leute und ihrem Streben nach Anerkennung bekannt machen.«
Genervt von den Strukturen anderer Straßengangs – in den Sechzigern waren über 11 000 vor allem puertoricanische und afroamerikanische Jugendliche in der Bronx und in Harlem in etwa 100 Gangs organisiert – hatte der damals 14jährige Benjamin Melendez mit seinen Brüdern 1967 die Ghetto Brothers gegründet, die im Laufe ihres Bestehens einiges anders machten als die anderen Gangs; vor allem brachen sie 1971 ein Friedensabkommen zwischen allen Gruppierungen in der Bronx zustande und ebneten damit den Weg für einen Frieden in der Nachbarschaft, in der wenige Jahre später der HipHop gedeihen konnte.
Benjamin Menledez oder »Yellow Benjy«, wie sein Gangname lautete, ist einer der interessantesten Charaktere innerhalb der Szene in der Bronx. Nicht nur, dass er als HipHop-Pionier den politischen Anspruch von Musik als Artikulationsform von Minderheiten propagierte, er nahm zudem als Vermittler zwischen den Gangs eine zentrale Rolle in der South Bronx ein. Yellow Benjy, der in den Siebzigern seine jüdische Herkunft für sich entdeckte, lebt heute in Spanish Harlem. Der aus Münster stammende und in New York lebende Fotograf und Journalist Julian Voloj hat die faszinierende Geschichte der Ghetto Brothers in Gesprächen mit Menledez dokumentiert und in Zusamenarbeit mit der Hamburger Zeichnerin Claudia Ahlering in eine Graphic Novel umgesetzt, die vieles gleichzeitig ist: eine Kulturgeschichte der Gangs in der South Bronx wie auch der puerto-ricanischen jüdischen Minderheit, eine Sozialgeschichte der USA der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, eine Geschichte der Anfänge von HipHop und der Konflikte zwischen Puert-Ricanern und Afroamerikanern.
Puerto-Rico hatte einen Sonderstatus innerhalb der USA; den Bewohnern der Insel wurde zwar die amerikanische Staatsbürgerschaft gewährt, jedoch nicht alle Rechte der auf dem Festland lebenden Amerikaner. Von dort kamen in den Fünfzigern viele Migranten nach New York, unter ihnen die Familie Menledez. 1963 siedelte sie sich in der South Bronx an. Nachdem Juden, Italiener, Iren und Deutsche das zunehmend dem Verfall preisgegebene Viertel verlassen hatten, kamen die Puerto Ricaner an. Melendez erinnert sich daran, dass sein Viertel zu jener Zeit einem Trümmerhaufen glich und von der Gewalt der Gangs dominiert war. »Wir waren die Könige dieses Trümmerhaufens«, erzählt Melendez. »Es waren gefährliche Zeiten. Du gingst vor die Tür und wusstest nie, ob es nicht dein letzter Tag auf Erden sein würde.«
Hier verlebten Melendez und seine Brüder ihre Jugend, sie gewannen einen Beatles-Cover-Gesangswettbewerb und wurden Mitglied der Gang Cofon Cats. 1967 entstanden die Ghetto Brothers. »In den Sechzigern kam es zur Spaltung zwischen den Schwarzen und den Puerto Ricanern. Wir hatten nicht viel für die Kultur des anderen übrig. Die Ironie war, dass die Armut uns zwang, in denselben Vierteln zu leben. Aber anstatt gegen das System zu kämpfen, bekämpften wir uns gegenseitig. Irgendwie überbrückten die Gangs die Kluft zwischen Schwarzen und Puerto Ricanern.«
Die Ghetto Brothers wurden schnell zu einer der größten und einflussreichsten Gangs der South Bronx. Als sich im Viertel Drogen verbreiteten, begann Yellow Benjy in seiner Funktion als Sprecher der Ghetto Brothers gemeinsam mit seinem »Peace Counselor« Cornell »Black Benjy« Benjamin die Aufgaben der Gang neu zu organisieren. Dealer wurden aufgefordert, das Viertel zu verlassen, weigerten sie sich, wurden sie gewaltsam vertrieben.
Damals nahm jedoch auch die Gewalt zwischen den rivalisierenden Gangs zu. Wichtig für die neue politische Ausrichtung von Melendez, der zu dieser Zeit bereits mit der puerto-ricanischen Sozialistischen Partei sympathisierte, war seine Freundschaft mit dem Black-Panther-Mitglied Joseph Matumaini, der die Gangmitglieder über soziale Fragen wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeitslosigkeit aufklärte. Ihm verdankte Melendez eine neue Sichtweise. »Die Konflikte zwischen den Gangs geraten außer Kontrolle. Ihr verschwendet all eure Zeit und Energie damit, euch gegenseitig zu bekämpfen, aber seht nicht den wahren Feind«, erklärte Matumaini.
Doch erst der Mord an Black Benjy im Dezember 1971 führte zu einer Wende in der South Bronx. Black Benjy war als Vermittler für einen Waffenstillstand zwischen den Ghetto Brothers und den Mongols, Seven Immortals und Black Spades zu einem Versammlungsort der Gangs gegangen und hatte dort einen Friedensschluss angeboten. Die drei Gangs hatten durch wiederholte Angriffe auf Mitglieder der Ghetto Brothers provoziert und Melendez versuchte nun, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Denn von Joseph Matumaini hatte er gelernt: »Die anderen Gangs sind nicht der Feind. Diejenigen, die uns unterdrücken, sind die wahren Feinde.«
Doch die Gewalt war nach Jahren der Kämpfe für die Jugendlichen zu wichtig, Gewaltlosigkeit galt als Zeichen der Schwäche: Black Benjy erlag kurz nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus den Verletzungen, die ein wütender Mob ihm zugefügt hatte. Doch auch nach diesem Mord an seinem Freund blieb Yellow Benjy besonnen: »Black Benjy starb für den Frieden, und wenn du Rache übst und den Krieg erklärst, war seine Mission vergeblich«, erklärt er seinen auf Rache sinnenden Gang-Mitgliedern. Und so kam es zum legendären Waffenstillstand, der zwischen den zwölf einflussreichsten Gangs der South Bronx geschlossen wurde. Das öffentliche, von Polizei, Presse und Sozialarbeitern begeleitete Treffen mündete in einem für alle verbindlichen Vertrag, der unter anderem festhielt: »Wir stellen fest, dass wir alle unter gleichen Bedingungen leben und mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben. Wir stellen fest, dass der Kampf unter uns unsere Probleme nicht lösen wird. Wenn wir unsere Gemeinden aufbauen und zu einem besseren Ort für unsere Familien und uns selbst machen wollen, müssen wir zusammenarbeiten.«
In der Folge wurden viele Gangs zu wichtigen sozialen Akteuren in den politische und wirtschaftlich abgehängten Statdteilen: Sie unterstützten die Nachbarschaft, hielten Dealer fern, organisierten kulturelle Veranstaltungen und soziale Proteste. Trotzdem zerfielen die Strukturen ab Mitte der Siebziger und die Drogen kehrten zurück in die Bronx. Parallel dazu entstanden die ersten HipHop-Crews, die ihre Kämpfe nun auf kreative Weise austrugen. Der ehemalige Warlord der Black-Spades-Gang überführte seine Anhänger in die Universal Zulu Nation und wurde unter dem Namen Afrika Bambaataa einer der berühmtesten DJs aus der Bronx. Und der ehemalige Cofon-Cats-Kämpfer Clive Campbell nannte sich von nun an DJ Cool Herc und entwickelte die musikalischen Grundlagen von HipHop. Dass in den Gangs wie auch im frühen HipHop Frauen nur am Rande vorkommen, schmückendes Beiwerk sind, thematisiert der Comic nicht explizit, es ist aber die Kehrseite dieser Erfolgsgeschichte.
Benjamin Melendez, mittlerweile verheirateter Familienvater, zog sich aus dem Gang-Leben zurück, arbeitete als Sozialarbeiter und zog mit seiner Familie nach Highbridge, weil er nach seinem Rückzug aus der Gang im Viertel bedroht wurde. Seine ehemalige Lehrerin Rita Fecher brachte ihm das Judentum näher. Schon als Kind hatte Benjamin bemerkt, dass seine Familie anders war als die seiner Freunde: »Meine Eltern hatten seltsame Traditionen. Jeden Freitag zog Mutter die Vorhänge zu und zündete zwei Kerzen an … Mein Vater ging in sein Zimmer und wickelte sich in ein Betttuch, um zu meditieren.« Benjamins Vorfahren waren Marranen, zur Zeit der spanischen Inquisition zur Taufe gezwungene Juden, die im Geheimen ihre religiösen Traditionen weiterführten. Viele gingen nach Südamerika, wie auch die Vorfahren der Familie Melendez. Yellow Benjy begann, die Synagoge zu besuchen, fand in Rabbi Moses einen Vaterersatz und im Intervale Jewish Center, der letzten Synagoge in der South Bronx, eine neue Heimat und Familie – vor allem nachdem seine Ehe in die Brüche gegangen war. Der Rabbi brachte ihm jüdische Bräuche und Riten, Kultur und Geschichte bei, erklärte ihm die Entwicklung jüdischer Ghettos. Ohne den Ursprung und die Geschichte des Ghettos zu kennen, hatte Menledez seiner Gang den passenden Namen – Ghetto Brothers – gegeben. »Du, deine Eltern, deine ganze Familie, ihr leidet unter dem Spa­nischen Inquisitionstrauma. Aber tief in deinem Herzen hast du immer gewusst, dass du Jude bist. Die Maske, die du draußen getragen hast – die kannst du hier ablegen«, erklärt Rabbi Moses dem nach Identität suchenden Ben­jamin Menledez.
Mit einem Spaziergang in der Gegenwart zur nunmehr geschlossenen Synagoge endet die Graphic Novel »Ghetto Brother«, die es schafft, das Leben des Friedensstifters der Bronx in seiner Komplexität einzufangen. Im finalen Song von »Power-Fuerza« singt Benjamin Melendez: »We are gonna take you higher with Ghetto Brothers Power!«

Julian Voloj/Claúdia Ahlering: Ghetto Brother. Eine ­Geschichte aus der Bronx. Avant-Verlag, Berlin 2015, 128 Seiten, 19,95 Euro