Wie die antizionistische Ideologie das internationale Recht beeinflusst

Israel vor Gericht

Der Internationale Strafgerichtshof und die antizionistische Ideologie.

Seit Anfang dieses Jahres wird ein neues Kapitel in der Geschichte des Antizionismus aufgeschlagen: Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH), der 2002 seine Tätigkeit aufgenommen hat, macht ihn nunmehr zu seiner Mission – und findet damit zu sich selbst. Die antisemitischen Ausschreitungen in Europa während des Gaza-Kriegs vom Sommer 2014 sind noch in guter Erinnerung, da visiert man schon an, den »Juden unter den Staaten« (Léon Poliakov) vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen: Zusätzlich zu einer Kommission, die ihren Bericht über »Kriegsverbrechen« in diesem Konflikt im März dem UN-Menschenrechtsrat vorlegen soll, hat die Chefanklägerin in Den Haag, Fatou Bensouda, Vorermittlungen gegen Israel in derselben Sache eingeleitet – kurz nachdem Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas die Mitgliedschaft seines »Staats« in dieser Institution beantragt hatte, um eben solche Ermittlungen zu initiieren.
Bisher scheiterten ähnliche Versuche daran, dass die Palästinenserbehörde als Staat nicht anerkannt war, jetzt aber reicht offenkundig der durch die UN-Vollversammlung verliehene Status eines »permanenten Beobachters«. Abbas weiß dabei die Hamas hinter sich und die Mitgliedschaft wurde rückwirkend akkurat ab dem 13. Juni 2014 beantragt. Am 12. Juni waren drei israelische Jugendliche im Westjordanland entführt und ermordet worden, dies löste die israelische Aktion gegen die Hamas aus.

Allein, dass ein solcher Antrag überhaupt ernst genommen wird, sagt bereits einiges darüber aus, mit welcher Unverfrorenheit der IStGH das internationale Recht in antizionistische Ideologie zu transformieren sucht. Offenbar will man um jeden Preis den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu auf dieselbe Stufe gestellt sehen wie afrikanische Bandenführer oder den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir, deren Taten bisher den Gerichtshof beschäftigten.
Anders als der Menschenrechtsrat ist dieser Strafgerichtshof nicht eine Unterorganisation der UN-Generalversammlung. So vermag er für sich so etwas wie Neutralität zu beanspruchen – als sei er wirklich ein unabhängiger Weltgerichtshof, der wie bei der Gewaltenteilung innerhalb des Staats auf der Trennung von Justiz und Exekutive beruht. In Wahrheit ist der IStGH aber Resultat eines Staatenbündnisses, das sich 1998 in Rom auf ein Statut geeinigt hat, daher das sogenannte Rom-Statut, er wurde also per Vertrag geschaffen. Als solcher ist der Internationale Strafgerichtshof von Den Haag nicht zu verwechseln mit den vom Sicherheitsrat eingesetzten, zeitlich begrenzten Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, aber auch nicht mit dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag. Letzterer wurde 1945 von der Uno gegründet, um in einzelnen Fällen das Völkerrecht zwischen den Staaten zu regeln, in ihm können also auch nur Staaten Parteien sein. In der Berichterstattung wird beständig alles durcheinandergeworfen, aber selbst das Logo des IStGH, das die Logos der anderen Gerichtshöfe imitiert und beim UN-Symbol willkürlich Anleihe nimmt, trägt bereits dazu bei.
Der neue Strafgerichtshof tagt hingegen in Permanenz und kennt, seine Zuständigkeit betreffend, keine nationalen Grenzen; und er sitzt über Individuen zu Gericht – in der Regel Personen, die politische, administrative beziehungsweise militärische Funktionen hatten oder noch immer haben. So wird in gewisser Weise suggeriert, dass es nun eine Instanz gäbe, zu der sich alle Individuen auf der Welt in gleichsam »reichsunmittelbarer« Stellung befänden – jenseits der Staaten, in denen die Staaten jeweils Funktionen und Bürgerrechte haben können. Dabei sind es doch diese Staaten und niemand anders, die sie an den Internationalen Strafgerichtshof ausliefern – je nach dem, ob sie jenes Statut unterzeichnet und ratifiziert haben, mit dem sie sich hierzu verpflichten. Israel hat das Statut in weiser Voraussicht und im Bewusstsein seiner Souveränität nicht unterzeichnet. Aber auch seine größten Feinde, darunter die Islamische Republik Iran, nahmen bisher davon Abstand, könnte es doch ihren Bewegungsspielraum einschränken.
Die US-Regierung hatte seinerzeit zwar zunächst das Statut paraphiert, vermutlich um Einflussnahme bei den Verhandlungen zu haben, aber schon zwei Jahre später die Unterzeichnung zurückgenommen. Durch spezielle bilaterale Verträge suchen die USA vielmehr ihre Staatsbürger vor möglicher Auslieferung zu schützen. Sollte dies doch misslingen, ermächtigt der »American Service-Members’ Protection Act« den Präsidenten, ihre militärische Befreiung anzuordnen: Wenn also alle Stricke reißen, springen möglicherweise US-Marines in spezieller Mission mit Fallschirmen über Den Haag ab. Den US-Behörden ist überdies jede direkte Zusammenarbeit mit dem Gericht verboten. So versuchen die USA ihre hegemoniale Position zu verteidigen, die bislang noch immer etwas von politischer Restvernunft enthält, hervorgegangen aus dem Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland. Würden sie den Vertrag über den IStGH hingegen ratifi­zieren, würden sie tatsächlich diese Position preisgeben. Davor schreckt sogar die Regierung Barack Obamas zurück.

Wenn bisher gegen kongolesische Bandenchefs oder al-Bashir ermittelt wurde, dann gab sich die Praxis des Gerichtshofs zugleich als Kompromiss mit den Interessen der USA zu erkennen. In der Mehrzahl der Fälle wurde dabei der Situation von failed states entsprochen – das heißt von Staaten, die aus eigener Kraft heraus nicht imstande oder auch nur willens sind, ihre eigenen politischen Verbrecher, etwa nach einem Bürgerkrieg, vor Gericht zu stellen. Beschränkte sich der IStGH darauf, könnte er eine in gewissen Maßen sinnvolle Aufgabe erfüllen, als ein Instrument, bestimmte Schritte gegen Anführer und Mitglieder von Terrorgruppen wie überhaupt gegen die schlimmsten Zerfallserscheinungen staatlicher Einheit international zu koordinieren. Tatsächlich beschränkt er sich aber nur dann auf solche Fälle, wenn er durch den Druck, den die hegemoniale Macht der USA (in Übereinstimmung mit dem UN-Sicherheitsrat oder auch ohne ihn) ausübt, dazu angehalten wird. Wenn aber nun Vorermittlungen gegen Israel stattfinden, so zeigt dies nicht zuletzt die Schwächung jener Macht – oder eine Änderung ihrer Prioritäten.
Die Öffentlichkeit, insbesondere die europäische, scheint indessen von der fixen Idee besessen, in der kontinuierlichen Tätigkeit solcher Rechtsprechung einen Beweis dafür zu sehen, dass Recht international genauso gelten könnte wie innerhalb eines Staats – als ob es möglich wäre, auf der ganzen Welt einen einzigen Rechtsstaat zu etablieren. Das Phantastische dieser Vorstellung, worin Theorien wie die von Jürgen Habermas und Judith Butler exzellieren und wogegen noch die Möglichkeit einer klassen- und staatenlosen Weltgesellschaft als das Einfache erscheint, das leicht zu machen ist, wird bereits durch die schlichte Erkenntnis bloßgelegt, dass es außerhalb der Staaten kein Gewaltmonopol gibt und geben kann, welches die Exekution dieses Rechts garantieren würde. Zwischen den Staaten, die jeweils das Gewaltmonopol auf ihren Territorien besitzen, vermag zwar der stärkere unter ihnen zeitweise als Hegemon hervorzutreten, aber er kann keineswegs als ein Souverän über ihnen regieren. Selbst innerhalb der Euro-Zone kann das heutige Deutschland im Verhältnis zu den anderen Staaten nur als Hegemon agieren, obwohl doch deren Souveränität erheblich zurückgestutzt wurde – freilich auch die Deutschlands, so dass dieser Staat über die EU-Institutionen seine hegemoniale Macht ausüben muss.
Zum Wesen des internationalen Rechts gehört, dass dessen Grundsätze wie auch alle Verträge zwischen den Staaten letztlich Konventionen bleiben, die je nach dem jeweiligen Kräfteverhältnis unter den Staaten eingehalten werden oder eben nicht. Dieses Recht besteht letztlich aus Absprachen und Bündnissen, es ist kein Recht, das von einer übergeordneten und adäquat bewaffneten Macht gedeckt wird. Als System von Konventionen ist es von nicht geringer Bedeutung, und es kann auch gar nicht darum gehen, diese Bedeutung in Abrede zu stellen, bietet es doch grundsätzlich formale Möglichkeiten, Konflikte friedlich zu regeln oder in vernünftigere Bahnen zu lenken. Aber eben nur dann, wenn die Kräfteverhältnisse zwischen den Staaten es erlauben, wenn etwa ein Hegemon oder ein hegemoniales Bündnis in einem bestimmten Fall sich für seine Durchsetzung engagiert.

Zur Ideologie des internationalen Rechts jedoch gehört, es mit dem Recht, das innerhalb der Rechtstaaten gilt, zu identifizieren, um seinen Institutionen gleichsam mehr Bedeutung zuzusprechen, als sie haben können. Das geschieht, indem das Gewaltverhältnis zwischen den Staaten, welches etwa die Theorien von Hobbes und Hegel, aber auch Marx und Freud noch im Auge hatten, ausgeblendet wird; indem verdrängt wird, dass die Form des Staats als Gewaltmonopol und organisierter Zwang, der die Kapitalakkumulation gewährleistet, auf diesem Gewaltverhältnis fußt. Solche Verdrängung mag in der einen oder anderen Gestalt als Utopie sympathisch erscheinen wie die Kantische Idee vom »ewigen Frieden«, aber (Kants eigenem Zögern in dieser Frage zum Trotz) die Voraussetzungen staatlicher Macht und geltenden Rechts zu verschweigen, bedeutet gerade für den Staat der Juden eine große Gefahr, wie eben die jüngste Politik des IStGH es demonstriert. Wer Israel internationale Verträge als Alternative für dessen eigenes militärisches Potential empfiehlt, möchte mit diesem neuen, besonders undurchsichtigen Assimilationsangebot an die Juden im Grunde ihrem Staat die Souveränität nehmen, die sie im Ernstfall allein schützt.
Aber Israel ist nicht die Ukraine, und alle seine maßgeblichen politischen Kräfte werden sich hüten, so zu handeln wie die ukrainische Regierung, als diese sich 1994 im Budapester Memorandum bereit erklärte, die Nuklearbewaffnung abzugeben, und dafür Unabhängigkeit zugesichert bekam. Denn Israels Souveränität bedeutet immer zugleich mehr als bloße Souveränität, so wie der Verlust der Unabhängigkeit hier Vernichtung bedeutet: Sein »Law of Return« von 1950 ist auf den Ernstfall für jeden Juden und jede Jüdin gerichtet, und das heißt nicht zuletzt darauf, dass auch das wirklich geltende Recht innerhalb der anderen Rechtsstaaten vor dem weltweiten Antisemitismus keineswegs hinlänglich schützen kann – selbst wenn diese in Krise und Ausnahmezustand ihren vielzitierten »jüdischen Mitbürgern« die staatsbürgerlichen Rechte nicht aberkennen sollten. Anders als Israel, aber der allgemeinen Konstitution staatlicher Herrschaft und bürgerlicher Gesellschaft gemäß, kennen diese Staaten kein spezielles Einwanderungsrecht, das an »every jew« gerichtet wäre. Die besondere Erwähnung der jüdischen Mitbürger ist zwar nach der Shoa zur gebräuchlichen Attitüde im Rechtsstaat geworden, an ihrem rechtlichen Status in und zwischen den Staaten hat sich indessen nichts geändert, kann sich auch nichts ändern – außer, dass eben nun ein eigener, jüdischer Staat mit jenem speziellen Einwanderungsgesetz für alle vom Antisemitismus Betroffenen existiert. Und daran entlarvt sich jede antizionistische Ideologie: Sie will Jüdinnen und Juden so schutzlos wissen, wie es am 9. Januar dieses Jahres die Menschen im koscheren Supermarkt von Paris vor dem Sturmgewehr des Attentäters waren.