Die finnische Punkband Pertti Kurikan Nimipäivät

Drei Akkorde gegen die Pediküre

Behinderung und Rebellion: Die finnische Punkband Pertti Kurikan Nimipäivät wird der Hype des European Song Contest.

Es ist durchaus denkbar, dass es im Rahmen des European Song Contest 2015 zu etwas irritierenden Begegnungen kommen wird. Sollte dieser schlaksige, ergraute Lockenkopf in Lederjacke Jurymitgliedern und Konkurrenten vorgestellt werden, könnte es sein, dass er sich nach einem Handschlag ihren Schulterpartien zuwendet, um sie mit seinem Zeigefinger entlangzufahren. Am Ende der Untersuchung käme der Gitarrist Pertti Kurikka zu einem Befund, der zum Beispiel so lauten könnte: »Sehr giftig.«
Seit seinen Kindertagen im Waisenhaus hat der heute Ende 50jährige Pertti Kurikka diese Marotte. Sein ganzes Erwachsenenleben schon begleitet sie ihn durch Werkstätten und Wohnheime, bis in den Musikworkshop im integrativen Aktivitätszentrum Lyhty in Helsinki, der seinem Leben 2009 eine unerwartete Wendung gab. Und die ist schuld daran, dass Pertti Kurikka, der sich zur ersten Punk-Generation in Finnland zählt, seither auch außerhalb Finnlands Schulternähte inspiziert. Norwegen, England, Deutschland, Schweiz – nun wird ihm der European Song Contest neues Anschauungsmaterial liefern.
Ende Februar gewann die nach ihm benannte Band Pertti Kurikan Nimipäivät (PKN, »Pertti Kurikkas Namenstag«, von dem er nach Aussage der anderen Bandmitglieder gerne erzählt) das Finale der finnischen ESC-Ausscheidung. Die Fach-Jury hatte andere Kandidaten vorne gesehen, wurde aber von der Zuschauerwertung klar überstimmt. Und so wird die Punk-Band, die aus besagtem Workshop für Menschen mit Lernproblemen hervorging, in Wien nicht nur Finnland vertreten, sondern, unabhängig vom Ausgang des Wettbewerbs, der Veranstaltung ihren Stempel aufdrücken.
Kurikka, Drummer Toni Välitalo, Bassist Sami Helle und Sänger Kari Aalto – vier Männer zwischen Anfang 30 und Ende 50 mit vier Diagnosen: Down-Syndrom, Williams-Syndrom, MBD und Intelligenzschwäche. Das Handicap steht an der Wiege dieser Band. Und der Song Contest, in den vergangenen Jahren markttauglich durchgestylt, nachhaltig entstaubt vom Muff der Schlageridiotie und seit Conchita Wursts Triumphzug auch mit dem Nimbus emanzipatorischen Potentials versehen, heißt sie herzlich willkommen. Bereits während der finnischen Ausscheidung war klar: Hier lauert ein perfect match.
Freilich begrüßt das ESC-Publikum diese Entwicklung nicht ungeteilt – und nicht alle Kri­tiker sind Rednecks mit Gender-Abneigung. Es gibt Stimmen, die im Fall von Conchita Wurst oder PKN den künstlerischen Wert als Kriterium vernachlässigt sehen – zugunsten einer Agenda der Emanzipation von Minderheiten. Nun eilt dem ESC sein seichter Ruf nicht zu Unrecht voraus. Dennoch ist bei den Punks aus Helsinki kaum abzustreiten, dass die Musik tatsächlich reichlich kurz kommt, und zwar wörtlich: Ins Rennen gehen sie mit sperrigen 90 Sekunden, die an die sehr frühen Ramones erinnern oder an gemütlich wippende Bäuche auf einer Maifeier der Gewerkschaft.
Neben dem hausbackenen Sound stechen die Texte der Band heraus: »Aina mun pitää« ist der Titel des ESC-Stücks, »Immer muss ich«. Aufräumen, abwaschen, arbeiten, zum Arzt: Pertti Kurikan Nimipäivät räumen den gesamten Tisch eines fremdbestimmten Lebens mit Handicap in einem Schwung ab. Deutlich erkennt man das Zeitreglement eines Wohnheims, in dem Fernsehen, Computerbenutzung und soziale Kontakte festgelegt sind, das Essen vorgeschrieben und Alkohol verboten ist. In einem älteren Lied hieß es bereits: »Ich will etwas mehr Gleichheit in meinem Leben«, und: »Ich will nicht in einer Einrichtung leben.«
Einem größeren Publikum bekannt wurden PKN erstmals 2012. Damals erschien der Dokumentarfilm »Punk Syndrome« der finnischen Regiseure Jukka Kärkkäinen und Jani-Petteri Passi. Er begleitet die Protagonisten bei Proben und Gigs, auf Tour, im Supermarkt und auf Festen. Das Ergebnis: eine ebenso radikale wie authentische Collage des Bandlebens und eine faszinierende Abhandlung über das Verhältnis von Behinderung und Rebellion. »Eines Tages zünde ich das Wohnheim an«, sagt Kari Aalto, der Sänger. Auch so kann ein Aufruf zur Revolte aussehen.
Mit gönnerhafter Bevormundung haben Pertti Kurikan Nimipäivät jedenfalls keinen Vertrag. »Wir bringen eine andere Perspektive in den Punk«, erklärt Bassist Sami Helle, der zum Teil in den USA aufwuchs, fließend Englisch spricht und in diesem Frühjahr mehr denn je zum Sprachrohr der Band wird. Politiker bekommen in dem Film ebenso eine Breitseite ab – »Sie kümmern sich einen Scheiß um uns Behinderte« –, wie auch die von Kari Aalto verhasste Fußpflegerin – »verfluchte Pediküre, sie ist beschissen!« –, die er regelmäßig aufsuchen muss. Besonders nervt ihn, dass die Heimleitung ihn überall gemeinsam mit dem Bassisten hinschickt.
Diese Reibung ist durchaus provokant, gerade in einer Zeit, in der das Stichwort »Inklusion« Konjunktur hat. Die Gesellschaft hat sich an rollstuhlgerechte Busse gewöhnt und widmet den Paralympics weitaus mehr Aufmerksamkeit als noch vor 20 Jahren, wenn auch selbstredend weniger als den Olympischen Spielen. Wohlwollend nimmt sie zur Kenntnis, dass Behinderte »auch« Dinge tun: auch Fußball spielen, auch kreativ sind, auch Sex haben. Aber rebellieren, den »Schweinefraß« im Wohnheim verfluchen und der Fuck-you-Attitüde des Punk frönen? Wie reagiert die Öffentlichkeit auf die Mittelfinger, die der Sänger im Video zum kürzesten ESC-Beitrag aller Zeiten demonstrativ in die Kamera hält?
Pertti Kurikan Nimipäivät sind bemerkenswert ambivalent. Ihre rebellische Attitüde befeuert ihre Popularität, verbunden mit der Tatsache, dass diese Band nun einmal aus vier verdammt sympathischen Punkervisagen besteht. Bereits 2012 bei der Premiere ihres Films beim Visions-du-Réel-Festival in Nyon konnte das Publikum im Anschluss gar nicht genug von ihnen bekommen. Damals schon sah man ihr ungeheures Potential als Everybody’s Darlings. Drei Jahre später setzen Pertti Kurikan Nimipäivät dies in die Tat um – mit einem der plakativsten Songs ihrer Geschichte.
Nicht nur solche Mechanismen relativieren die vermeintliche Exotik der »Handicap-Punkrocker«. Auch die bandinterne Dynamik trägt dazu bei. Wer einen näheren Blick auf die Besetzung wirft, stößt durchaus auf bekannte Charaktere: den charismatischen Frontmann etwa, der raucht, trinkt und die Aufnäher von Motorradclubs auf der Weste spazieren trägt; den jugendlichen Drummer, der Anarchie-As und Killernieten zur Schau trägt, und gleichzeitig die Freundlichkeit in Person ist; den riesigen stoischen Bassisten mit seinem notorischen Basecap, der kein Stück nach Punk aussieht und in der Band spielt, weil er ein guter Kumpel ist. Und schließlich den Gitarristen und Kopf der Band, einen hochemotionalen Zweifler, der auf der Bühne mit um so saftigeren Flüchen um sich schmeißt. Nur eben, dass er keine Hotelzimmer zerlegt, sondern lieber Nähte analysiert.