Die jüngsten Ausfälle von Jean-Marie Le Pen

Familiäre Rollenspiele

Der Gründer des Front National, Jean-Marie Le Pen, provoziert erneut mit einer Verharmlosung der Gaskammern im Zweiten Weltkrieg. Die amtierende Parteivorsitzende Marine Le Pen kritisierte daraufhin ihren Vater, zugleich profitiert sie von der Aufmerksamkeit, die solche Skandale bringen.

Der Kater lässt das Mausen nicht. Am Donnerstag voriger Woche machte Jean-Marie Le Pen, der 1972 den Front National (FN) gegründet hatte und mittlerweile dessen Ehrenvorsitzender ist, auf sich aufmerksam, indem er erneut seine relativierenden Aussagen über die Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg bekräftigte. In einem Interview wurde er dazu aufgefordert, noch einmal Stellung zu nehmen zu seiner erstmals 1987 getätigten und 1997 in München wiederholten Aussage über »die Existenz der Gaskammern, ein Detail der Geschichte«. Wegen Leugnung von Verbrechen gegen die Menschheit war Jean-Marie Le Pen für diese Äußerung, die er erstmals im Rahmen eines Fernsehinterviews vor bald 28 Jahren tätigte, 1991 zu einer Geldstrafe von umgerechnet rund 200 000 Euro verurteilt worden.
Doch Jean-Marie Le Pen wäre nicht er selbst, hätte er seine Aussage nicht erneut bekräftigt, als der TV-Starjournalist und Sensationsreporter Jean-Jacques Bourdon ihn fragte, ob er seine damaligen Worte bedaure. »Absolut nicht, zu keinem Zeitpunkt. Was ich sagte, entspricht dem, was ich denke. Dass die Gaskammern ein Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs waren – es sei denn, man möchte behaupten, der Krieg sei ein Nebenumstand der Gaskammern.« Die Staatsanwaltschaft Paris leitete daraufhin ein strafrechtliches Vorermittlungsverfahren ein.

Nicht alle in seiner Partei sind darüber glücklich, dass der alternde Parteigründer, der im Juni 87 Jahre alt wird, einmal mehr auf seinen eigenen Pfaden wandelt. Angefangen bei seiner Tochter Marine Le Pen, der derzeitigen Parteivorsitzenden des FN, die noch am selben Tag sagte, es gebe eine »tiefe Meinungsverschiedenheit« mit ihrem Vater. Der ihr nahestehende Parlamentsabgeordnete der extremen Rechten, Gilbert Collard, ein stets die Aufmerksamkeit der Medien heischender Anwalt, beeilte sich, per Twitter seinen Widerspruch zu bekunden. Die Shoah sei »das Grauen des Grauens« und Jean-Marie Le Pen sei inzwischen »ein wandelndes Flugblatt für Manuel Valls«. Der sozialdemokratische Premierminister Valls gilt derzeit als politischer Hauptgegner des FN. Dieser politische Zwist war nicht nur vorgetäuscht, Jean-Marie Le Pen konterte umgehend öffentlich: »Halt doch dein Maul! Du Collard!«. Diese Anrede ist eine Anspielung auf das Wort »con-nard«, das im Französischen für »Vollidiot« steht.
Keineswegs ausgemacht ist allerdings, ob solche Ausfälle der modernisierten neofaschistischen Partei auch wirklich schaden. Die Abendausgabe von Le Monde zitierte die in den USA lehrende französische Sprachwissenschaftlerin Cécile Alduy: »Diese Art von Aussprüchen schwächt nicht unbedingt Marine Le Pen. Es verstärkt das Storytelling bezüglich der ›Entdiabolisierung‹.« Die seit Januar 2011 amtierende Parteivorsitzende vertritt seit ihrem Amtsantritt eine Strategie der dédiabolisation, unter anderem indem sie sich von jeglichem offen geäußerten Antisemitismus distanziert. Alduy sagte, solche Aussagen ermöglichten es »Marine Le Pen, sich von ihrem Vater zu unterscheiden, indem sie angibt, es bestehe eine tiefgreifende Differenz«. Darüber hinaus bescheren solche Eklats der Partei noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit.

Vor den jüngsten Bezirksparlamentswahlen in 97 von 101 Départements, die am 22. und 29. März stattfanden, hatten sich die Leitmedien auf skandalträchtige Äußerungen einiger FN-Kandidaten konzentriert (Jungle World 12/2015). Wirklich geschadet hat das der Partei nicht. Einige besonders skandalumwitterte Kandidaten des FN erzielten hohe Wahlergebnisse, sofern ihre Bewerbungen nicht durch die Partei annulliert worden waren. Chantal Clamer in Südwestfrankreich, die im Wahlkampf ebenso gegen Muslime wie gegen Lesben gehetzt hatte, erzielte über 33,5 Prozent der Stimmen. In Umfragen erklärten 64 Prozent der Wähler des FN, ihr Stimmverhalten werde ohnehin nicht durch solche Affären beeinflusst. Die Berichte über Skandale brachten dem FN demzufolge eher mehr Aufmerksamkeit. Ansonsten war der Wahlkampf weitgehend farblos, was nicht überraschend war, schließlich stand vor der Abstimmung noch nicht einmal fest, welche Kompetenzen die frisch gewählten Bezirksregierungen und Départementsräte künftig haben sollen. Im Zuge einer Fusion, bei der sich die Anzahl der Regionen von 22 auf 13 verringern soll, werden auch die anderen Gebietskörperschaften reformiert, mit derzeit offenem Ausgang. In der Wahlkampfberichterstattung vieler Leitmedien erschien angesichts der diffusen Lage das Abschneiden des FN als wichtigste Frage überhaupt.
Nachdem der FN dadurch in den Umfragen mit bis zu 33 Prozent der Stimmen teilweise als stärkste Partei gehandelt worden war, fiel er gegenüber solchen Prognosen zurück. Mit 25,2 Prozent erzielte er dennoch ein Rekordergebnis. Nie zuvor konnte er landesweit ein so hohes Wahlergebnis verbuchen. Gegenüber der Europaparlamentswahl vom Mai 2014 legte er noch einmal um 0,3 Prozentpunkte zu. In absoluten Zahlen erhielt der FN bei der Europawahl 4,8 Millionen Stimmen, im ersten Durchgang der Bezirksparlamentswahlen kam er auf 5,1 Millionen Stimmen. Möglicherweise war es auch dieses Bedrohungsszenario eines astronomisch hohen Wahlerfolgs der extremen Rechten, das viele zögerliche Wähler noch an die Urne trieb. Die Mobilisierung gegen den FN, gerade bei den Stichwahlen im zweiten Durchgang, hat dem Einfluss der rechtsextremen Partei tatsächlich Grenzen gesetzt. So hat sie, entgegen mancher Erwartungen, nun keine Aussicht darauf, eine Bezirksregierung zu stellen.

Wo er angetreten war, erhielt der FN bei den Stichwahlen zwar hohe Stimmenanteile, was in 1 107 von 2 054 Wahlkreisen der Fall war. Je nach Konstellation erreichte der FN durchschnittlich 28 Prozent dort, wo drei Kandidaten in den zweiten Wahlgang gingen, doch 41 Prozent im Duell mit einem Konservativen; im Duell mit einem Vertreter der Sozialdemokratie oder sonstiger linker Parteien erzielte der FN im Schnitt 46 Prozent der Stimmen. Im letztgenannten Fall spaltete sich die konservative Wählerschaft auf. Erste Auswertungen haben ergeben, dass sich bei der Wahl zwischen einem sozialdemokratischen und einem neofaschistischen Bewerber 18 Prozent der konservativen Wähler sozialdemokratisch, 22 Prozent jedoch rechtsextrem stimmten.
Ihre Parteiführung hatte sie dazu aufgefordert, im Sinne eines »weder noch« für keine der beiden Optionen zu stimmen. Die sozialdemokratische Wählerschaft zeigte sich hingegen motiviert, wo es galt, einen Wahlsieg des FN durch die Stimmabgabe für konservative Kandidaten zu verhindern. Selbst dort, wo sozialdemokratische Kandidaturen entgegen dem Willen der Parteiführung nicht zurückgezogen wurden, so dass es zu Stichwahlen zwischen drei Kandidaten kam, wurden die »unverantwortlichen« sozialdemokratischen Bewerber von ihren eigenen Wählern bestraft. Oft verloren sie 15 bis 20 Prozent zugunsten bürgerlicher Kandidaten, um Erfolge des FN zu verhindern.
Auch das Wahlrecht hat eine Art Sperrfunktion, denn die französischen Bezirksparlamente werden ähnlich wie die Nationalversammlung nach dem Mehrheitswahlrecht besetzt, Stadt- und Regionalparlamente hingegen nach dem Verhältniswahlrecht. In manchen Bezirken wurden aus hohen Stimmenanteilen für den FN nur im geringem Ausmaß Sitze im Bezirksparlament. Im Bezirk Oise nördlich von Paris erzielte der FN beispielsweise mit 41,5 Prozent der Stimmen nur vier Sitze, die Konservativen hingegen 30 Sitze mit 42,2 Prozent Stimmenanteil. Dies ist allerdings nicht nur dem Wahlergebnis geschuldet, sondern auch dem Mangel an Bündnispartnern. Ohne Alliierte im bürgerlichen Lager wird es der FN auch weiterhin schwer haben, an institutionelle Machtpositionen zu gelangen.