Aufstieg und Absturz

<none>

Fast ein halbes Jahr lang verließ Rober Steinhäuser an jedem Schultag sein Elternhaus. Wo er hinging, ist unbekannt, denn er war wegen eines gefälschten Attests der Schule verwiesen worden. Eine Abiturprüfung konnte er nicht mehr ablegen, nach dem Schulgesetz Thüringens hatte er keinerlei Abschluss. Am 26. April 2002, dem letzten Tag der schriftlichen Abiturprüfungen, erschoss er im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen, bevor er sich selbst tötete.
Wer ergründen will, warum Andreas Lubitsch 149 Menschen und sich selbst tötete, sollte sich eher mit Taten wie der von Steinhäuser befassen als mit der psychischen Erkrankung des Piloten. Denn eine Depression hat nichts mit dem Entschluss zu tun, einen Massenmord zu verüben. Im Polizeijargon wird es als »erweiterter Selbstmord« bezeichnet, wenn jemand Familienangehörige ermordet, bevor er sich selbst tötet. Dieser Begriff macht deutlich, dass die Ansicht der Täter, Familienangehörige seien so etwas wie Körperteile oder Besitztümer, Ermittlern und Gesellschaft nicht fremd ist. Bei Lehrern und Schülern oder Passagieren wird das anders ­gesehen, für Täter wie Steinhäuser und Lubitsch aber war das Umfeld in Ausbildung oder Beruf in gleicher Weise eine Verfügungsmasse wie für andere die Familie. Beide verfolgten keine politischen Ziele, das unterscheidet sie von islamistischen Selbstmordattentätern. Doch sie mordeten nicht wahllos oder zufällig. Steinhäuser hätte auch im Supermarkt oder im Kino schießen, Lubitsch sich eine Waffe für einen klassischen »Amoklauf« beschaffen oder noch mehr Menschen töten können, wenn er das Flugzeug in bewohntem Gebiet hätte zerschellen lassen. Beiden ging es um die Zerstörung jenes Umfelds, das für ihren sozialen Status maßgeblich war. Im Fall Steinhäusers ist es offensichtlich, dass er tötete, kurz bevor der Verlust seines Status der Familie bekannt geworden wäre, im Fall Lubitschs lassen es die Ermittlungsergebnisse sehr wahrscheinlich erscheinen, dass er den dauerhaften Verlust der Flugerlaubnis und damit seiner gehobenen Stellung zu erwarten hatte.
»Kinder und Karriere« heißt es in den Medien meist ganz selbstverständlich, wenn die Vereinbarkeit von Kindererziehung und Lohnarbeit gemeint ist – undenkbar ist es, gar keine hohe Position in der kapitalistischen Hierarchie anzustreben. Wer einen prekären Job hat, gilt, wie die Berichterstattung über Rekruten des »Islamischen Staats« zeigt, als »Verlierer« oder gar als »Nichts« (Süddeutsche Zeitung). Mit dem Begriff »Aufstieg« bekommt der berufliche Erfolg eine mythische Note, die Karriere wird zur kapitalistischen Himmelfahrt. Nicht alle verkraften da die Gewissheit, dass ihr Absturz bevorsteht. Bei Lubitsch kam wohl der Wille hinzu, zu töten und eine Art Nachruhm zu erlangen. Sein Massenmord war eine ex­treme Form der konformistischen Rebellion.