Berlin Beatet Bestes. Folge 285.

Schwieriger, als Kaiser zu sein

Berlin Beatet Bestes. Folge 285. Jazz und Shimmy: Brevier der neuesten Tänze (1921).

Iiiih! Geh’ weg damit! Das riecht nach Friedhof!«, sagt meine Freundin, als ich ihr stolz mein neuestes Fundstück zeige. Sie kann alte Sachen und Flohmärkte nicht leiden. »Na, was hat das gekostet? Zeig mal her, das olle Teil«, fordert sie. »Nein«, antworte ich. »Leider wirst du niemals einen Blick in das Buch werfen dürfen. Weil du so doof reagiert hast. Leider …«
Wie zur Dekoration lag das Buch im Antiquariat auf einer Plattenkiste. Oder als hätte es ein anderer Kunde nur kurz abgelegt. Ich blätterte schnell durch die Seiten, ging zur Kasse, bezahlte und verließ das Geschäft. Nur zwei Euro! Weil der Buchrücken fehlt, ansonsten ist es in einem guten Zustand.
»Jazz und Shimmy« von Franz Wolfgang Koebner ist 1921 erschienen. Es ist eines der ersten Jazz-Bücher, die in Deutschland veröffentlicht wurden, wenn nicht sogar das erste auf der ganzen Welt. Da der Jazz auch der Ursprung der populären Musik des 20. Jahrhunderts ist, kann dieses Buch auch als eines der ersten Pop-Bücher gelten. Bezeichnenderweise geht es darin nicht vornehmlich um Musik, sondern ums Tanzen. Als der Jazz neu war – die erste Jazz-Platte stammte von der Original Dixieland Jass Band und erschien 1917 – , wirkte er zwar unmittelbar mitreißend, aber auch chaotisch. Die Leute fragten sich, wie dazu getanzt werden sollte. Zu Ragtime, dem Vorläufer des Jazz, wurde der 1914 eingeführte Foxtrott getanzt.
Koebner (1887–1978), Spross einer großbürgerlichen jüdischen Familie, gehörte zu den Mitbegründern der kleinformatigen Zeitschrift Das Magazin, die bis heute existiert. Sein Tanz-Brevier zählte lange zu den Standardwerken der Branche, nach wie vor gilt Koebner als Erfinder des Begriffs »Tanzsport«. Seine Aufgabe sah er da-rin, Jazz-Tänze wie den Shimmy und den Dixieland One Step, die sich in Amerika gerade entwickelten, einem größeren Publikum zu vermitteln. »Jazz und Shimmy« enthält aber nicht nur Tanzanleitungen. Ein Kapitel geht der Frage nach, ob der Tanz nun Sport oder Kunst sei, ein anderes heißt »Konservenmusik« und beschäftigt sich mit der kleinen Anzahl der in Deutschland bis zum Frühjahr 1921 bereits veröffentlichten Jazz-Schallplatten.
Das Buch ist voller lustiger Fehler und Missverständnisse. Peter Panter, alias Kurt Tucholsky, behauptet beispielsweise, der Jazz sei in Südamerika entstanden. Über allem steht jedoch die Begeisterung für das neue Phänomen. So schreibt der Journalist und Sozialist Hans Siemsen: »Und noch eine nette Eigenschaft hat der Jazz! Er ist so völlig würdelos. Er schlägt jeden Ansatz von Würde, von korrekter Haltung, von Schneidigkeit und Stehkragen in Grund und Boden. Wer Angst davor hat, sich lächerlich zu machen, kann ihn nicht tanzen. (…) Wären doch alle Minister und Geheimräte und Professoren und Politiker verpflichtet, zuweilen öffentlich Jazz zu tanzen. Hätte der Kaiser Jazz getanzt – niemals wäre das alles passiert. Aber ach! Er hätte es nie gelernt. Deutscher Kaiser zu sein, das ist leichter, als Jazz zu tanzen.«
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.