Die staatliche Gedenkpolitik am Beispiel des Kreuzstadl-Mahmals

Vergessene Verbrechen, verschüttete Erinnerungen

Das Gedenken in Österreich ist oft ein hohles Ritual, weil die Opfer hinter den betrauerten Tätern verschwinden. Dem zu widersprechen, ist die wichtige Funk­tion des Kreuzstadl-Mahnmals.

Christa Wolf hat in ihrer Erzählung »Kassandra« (1983) die Frage aufgeworfen: »Wann (der) Krieg beginnt, kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?« Im Falle Österreichs wäre zu fragen: Wann ist der Krieg zu Ende? Das ist ebenso schwierig zu beantworten wie die Frage nach dem »Vorkrieg«. Psychologisch gesehen war der Krieg am 8. Mai 1945 sicher nicht vorbei. Und auch militärisch war er es nicht, zumindest nicht in Kärnten, wo die Deutsche Wehrmacht bis zum 12. Mai auf ihrem verspäteten Rückzug vom Balkan den Partisanen erbitterte Gefechte lieferte, und wo in Ferlach noch an die 100 Tote zu beklagen waren: keine »Nachkriegstoten«, sondern »echte« Kriegstote. Aber auch im übrigen Österreich, wo die Waffen tatsächlich am 8. Mai ’45 schwiegen, gab es viele Anzeichen, dass der Krieg noch nicht vorbei war. Desertierte Soldaten wurden in den letzten Kriegstagen noch von der SS exekutiert und unmittelbar nach Kriegsende starb mancher Augenzeuge dieser Taten unter merkwürdigen Umständen. Der »Nachkrieg« setzte also den Krieg fort, weil auch nach dem historischen Faktum der militärischen Kapitulation die in den Subjekten fortlebenden psychosozialen Strukturen immer noch aktualisierbar waren: Strukturen der Gewaltbereitschaft, Strategien der aggressiven Abwehr der »nationalen Schmach« der Niederlage und der Kränkung des gesteigerten narzisstischen Gefühls, früher zu den »Herrenmenschen« gehört zu haben und jetzt plötzlich nicht mehr. Auch in dieser neuen Situation galt es, »keine Schwäche« zu zeigen, vor allem keine Empathie für die Opfer.

Im »Nachkrieg« hat sich also erhalten, worüber die Menschen nicht sprechen wollten oder konnten, nämlich eine gesellschaftliche Struktur, von der Theodor W. Adorno schon Ende der fünfziger Jahre sagte, sie sei die Grundbedingung für das »Nachleben des Faschismus«. Seine zentrale These lautet: »Dass der Faschismus nachlebt, dass die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, dass die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten.« Der Sozialpsychologe Gerhard Vinnai fasste diesen Gedanken kürzlich so zusammen: »Kriege hören nie auf, sie gehen in der Psyche der Menschen immer weiter.« Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die massenhafte Ermordung von Juden, Sinti und Roma, von Behinderten, Alten, Schwachen, von geistig und psychisch kranken Menschen mit dem »Krieg« (im herkömmlichen Sinn) nichts zu tun hatte. Die Nazi-Mordmaschine in Gang zu setzen, war keine Kriegsnotwendigkeit. Die Nachkriegszeit sah aber darüber hinweg und vergaß lange Zeit diese Opfergruppen schlichtweg oder subsumierte sie unter die »Kriegsopfer«. Meistens wurde dadurch auch die persönliche Geschichte dieser Menschen ausgelöscht, ihre Identität einer Umdeutung unterworfen.
Dazu zwei typische Beispiele aus Kärnten: Euthanasieopfer des damaligen Gaukrankenhauses von Klagenfurt wurden in der Nachkriegszeit aus dem Massengrab am Zentralfriedhof in Klagenfurt-Annabichl exhumiert und am Kriegerfriedhof in Spittal in namenlosen Einzelgräbern bestattet. Dort liegen jetzt die anonymen Opfer neben den Tätern, auf deren Grabsteinen nicht nur die Namen, sondern auch die Rangbezeichnungen stehen. Andere Gräber der Euthanasieopfer wurden aufgelassen und die Grabstätten neu belegt, das heißt (widerrechtlich) weiterverkauft. Zweites Beispiel: Auf einem Kriegerdenkmal nördlich des Wörthersees steht eingemeißelt »Gewidmet von der Gemeinde St. Martin a. T. ihren gefallenen Heldensöhnen«. Unter dieser Überschrift wurden in der Rubrik »im 2. Weltkrieg vermisst« auch fünf Namen von Männern verzeichnet, die keineswegs im Krieg gefallen sind, sondern die von den Nazis ermordet wurden: Alle fünf waren ortsansässige Zeugen Jehovas, die wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet wurden, die meisten davon in Berlin. Auf dem Denkmal steht sinnigerweise: »vermisst in Deutschland«.
Auch heute wird unter dem Vorzeichen des christlichen Versöhnungsgedankens oftmals gesagt: Im Tode sind alle Menschen gleich, und auch Schmerz und Trauer, die wir angesichts der Toten fühlen, seien unteilbar, also gleich. Es geht nun nicht darum, das individuelle pietätvolle Gedenken abzuwerten. Es geht nicht um den Tod der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten, sondern es geht um die Toten abseits der großen Kriegsschauplätze, um die Toten der Massenmorde »im Schatten des Krieges« – es geht um den heutigen »gesellschaftlichen Erinnerungsbedarf« (Farkas) hinsichtlich dieser »vergessenen Opfer«. Schlägt man auch sie unzulässigerweise unterschiedslos dem Kollektiv der »Kriegsopfer« zu, entsteht ein unverfängliches, unverbindliches und letztlich belangloses Gedenken. Die individuelle Trauer ist sehr wohl zu unterscheiden von den kollektiven Gedenkritualen, mit denen die Gesellschaft als Ganzes »ihrer« Toten gedenkt und sie in der Erinnerung würdigt. Denn die Gesellschaft erinnert auf der einen Seite an den ehrenhaften Tod von Soldaten, während auf der anderen Seite das permanente Sterben der Bevölkerung in den besetzten Gebieten und die Opfer des Holocaust, das heißt die Toten der Konzentrations- und Vernichtungslager, der Todesmärsche, der Geiselerschießungen und Massenexekutionen, nur ungern erwähnt werden. Jean Améry hat diesen Unterschied einmal so ausgedrückt: »Der Soldat starb den Helden- oder Opfertod; der Häftling den des Schlachtviehs.«

Weil der Nazismus sein außergewöhnliches, ex­tremes Vernichtungspotential europaweit entfesselte, könne auch, so der Holocaustforscher Saul Friedländer, das Gedenken an den Widerstand und an die Opfer des Holocaust kein gewöhnliches sein: »Es ist das erste Mal in der neueren Geschichte, dass eine Gesellschaft nicht ohne weiteres ihrer Toten gedenken kann, ohne einen Schritt über das traditionelle Nationalgefühl hinauszugehen. (…) Wäre es nicht historisch und moralisch verständlich und notwendig, dass eine vollkommen normale Gesellschaft einer vollkommen unnormalen Vergangenheit auf außergewöhnliche Weise gedächte?« Insofern hat man es in Österreich offensichtlich nicht mit einer »normalen Gesellschaft« zu tun, denn hierzulande legt man die für die Hakenkreuzfahne gefallenen Kriegstoten in scheinbarer Unparteilichkeit, eben gleich-gültig, neben die Opfer des nazistischen Rassenwahns und schickt sich an, mit Zahlenspielen »objektive« Vergleiche anzustellen. Die Befreiung vor 70 Jahren soll nur als »sogenannte Befreiung« gelten, denn die Besatzungsmächte, zumal »die Russen«, hätten doch unter anderen Vorzeichen den Krieg gegen alles Deutsche fortgesetzt. Das Ziel dieser ahistorischen Argumentation ist die Diskreditierung der versuchten Umerziehung nach 1945 und letztlich eine Desavouierung des Versuchs der Alliierten, die Nachkriegsgesellschaft auf eine neue, demokratische Basis zu stellen. Diese Strategie bewirkte übrigens auch, dass die Erinnerung an die Nazitäter bald entschwand. Ihre Taten wurden relativ rasch der moralischen Bewertung entzogen. Und bald danach traten die Täter als Vorkämpfer für die Versöhnung auf. Dies hat ein Überlebender des Holocaust, der jü­dische Schriftsteller Soma Morgenstern, in seinem Schlüsselroman »Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth« schon zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geahnt und angeklagt: »Überall, wo ein Stück Acker in der Sonne erglänzt, liegt das geschlagene Gebein unserer Brüder. Überall, wo zwischen seinen grünenden Ufern ein Fluß um einen Hügel so lieblich biegt, war er einmal rot von unserem Blut. Überall, wo in den Stürmen wilder Nächte ein Weinen war, war es das Weinen unserer Mütter, unserer Schwestern, unserer Kinder. (…) Die rechtlose Welt, sie schickt sich bereits an, zu vergessen, was man uns und ihr angetan hat. Aus allen falschen Kehlen bricht schon ein Geschrei aus: Barmherzigkeit. Barmherzigkeit für wen? Für die Opfer? Nein, Barmherzigkeit wollen sie für die Henker …«

Und diese Henker waren auch beim Massaker von Rechnitz am Werk. Es war als sogenanntes Endphaseverbrechen ein Verbrechen an der »Heimatfront«. Die Todesmärsche schrieben gleichsam »das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords«, so Daniel Blatman. Das Massaker durch Angehörige der SS an den jüdischen Zwangsarbeitern geschah im Bereich der militarisierten Zivilverwaltung des damaligen Südostwallbaus, hatte also mit dem direkten Kriegsgeschehen nichts zu tun. Die ungarischen Juden im immer noch nicht gefundenen Massengrab von Rechnitz sind als unschuldige Opfer und nicht als Kriegstote zu bezeichnen. Sie hatten alle einen Namen, der ihnen in ihrem früheren Leben eine unverwechselbare Identität verliehen hat. Ihnen diese wenigstens symbolisch wiederzugeben, beispielsweise durch ein »Denkmal der Namen«, wäre eine ehrenvolle Aufgabe (noch keine Wiedergutmachung!) der österreichischen Gesellschaft. Beim neugestalteten Kriegerdenkmal in Rechnitz, gegenüber dem ehemaligen Schloss der Grafen Batthyány, wurde dem jedenfalls nicht Rechnung getragen. In dem Heldengedenkensemble, in dem alle zu Tode gekommenen einheimischen Wehrmachtssoldaten mit Fotos und Namen repräsentiert sind, haben die ermordeten Juden zwar auch einen Gedenkstein bekommen, aber eben einen namenlosen Stein, quasi unter ferner liefen. Damit sollten wir uns nicht zufriedengeben.
Sollte sich die »verschüttete Erinnerung« doch noch einmal offenbaren, müsste die Gesellschaft dieser Toten in einer »außergewöhnlichen Weise« (Friedländer) gedenken.

Gekürzte, redaktionell bearbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten am 21. März auf der Tagung »Und wenn der Krieg vorbei ist … ? 70 Jahre Kriegsende – 70 Jahre Massaker beim Kreuzstadl« im burgenländischen Oberwart.

Peter Gstettner war von 1981 bis 2004 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Klagenfurt und gründete 1994 das Mauthausen Komitee Kärnten/Koroška und den Verein Memorial Kärnten Koroška.