In Kenia steigert al-Shabaab den Terror

Das Massaker von Garissa und der Jihad in der Region

Der Anschlag der Terrorgruppe al-Shabaab auf die Universität von Garissa verändert Kenia. Mit ihren harten Maßnahmen beschert die Regierung der Miliz, die längst in Kenia angekommen ist, womöglich sogar weiteren Zulauf.

Die Trauernden, die am Ostersonntag an der Chiromo-Leichenhalle nahe der naturwissenschaftlichen Fakultät in Nairobi zusammenkamen, gedachten jener 148 Menschen, die bei dem bisher blutigsten Angriff der Terrormiliz al-Shabaab in Kenia ums Leben gekommen waren. Die Trauergäste stellten aber auch deutliche Forderungen: »Wir wollen, dass alle nicht-muslimischen Studierenden aus der North-Eastern-Provinz evakuiert werden. Wir sind dort nicht erwünscht«, sagte Titus Matata, ein Studierendensprecher, der britischen Zeitung The Observer.
Die Regierung folgte den Forderungen des Studierendensprechers. Sie schloss die Universität Garissa und versprach, alle Studierenden, die nicht aus der Gegend kommen, auf andere Universitäten im Land zu verteilen. Studierende, die die Stadt im Bus verließen, riefen »No more Garissa«. Obwohl es in Garissa Militärbaracken und ein Polizeihauptquartier gibt, dauerte es 15 Stunden, bis Kenias Sicherheitskräfte die Angreifer überwältigen konnten. Nach dem Angriff wurde bekannt, dass die Sicherheitsbehörden Warnungen über einen bevorstehenden Angriff auf die Universität erhalten hatten. Während Journalisten, die aus dem fast 400 Kilometer entfernten Nairobi nach Garissa gefahren waren, bereits vom Ort des Geschehens berichteten, bereitete die Sondereinsatztruppe Recce noch immer ihre Abfahrt aus der Hauptstadt vor. Selbst Politiker landeten vor der Spezialeinheit in Garissa.
Nach dem Anschlag twitterte Kenias Außenministerin Amina Mohamed Jibril, dass Terrorbekämpfung an die Arbeit eines Torwarts erinnere: »Niemand erinnert sich an die vielen gehaltenen Bälle, nur an das eine erzielte Tor.« In einem CNN-Interview auf die stundenlange Verspätung der Sondereingreiftruppe angesprochen, sagte Mohamed: »Wir haben unser Bestes getan mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen.« Doch das Vertrauen in die staatlichen Sicherheitsor­gane schwindet. Einige Kirchen heuerten zum Schutz ihrer Gläubigen am Osterwochenende lieber bewaffnete Wachleute an. Busfahrer scannen ihre Fahrgäste mit Metalldetektoren auf Bomben.
Al-Shabaab dürfte indes die Evakuierung der Studierenden aus Garissa als Niederlage der Regierung feiern. Die Terrorgruppe bezeichnete das Gebiet im Nordosten Kenias in einem Bekennervideo als »kolonisiertes Land«, in dem Nichtmuslime nichts zu suchen hätten. Die Universität von Garissa war erst 2011 eröffnet worden, um den Nordosten Kenias stärker in den Rest des Landes zu integrieren. Keine andere Gegend Kenias ist derart arm. Die britische Kolonialverwaltung betrachtete das Gebiet lediglich als Pufferzone zu den Gebieten rivalisierender Mächte am Horn von Afrika. Nach Kenias Unabhängigkeit 1963 sympathisierten lokale Eliten aus der Bevölkerungsgruppe der Somali mit der Idee eines Groß-Somalia, das alle von Somalis bewohnten Gebiete umfassen sollte. Die Regierung zerschlug die sezessionistische Bewegung. Seither wurde die Region systematisch vernachlässigt. Heutzutage leben in Kenia etwa zwei Millionen Somalis, die meisten in der Provinz »North-Eastern«, wo fast drei Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben (zum Vergleich: In der Provinz »Central« sind es etwa 30 Prozent). Um diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, leitete die Regierung zuletzt mehr Gelder aus dem Zentrum in die Peripherie. Unter Kenias neuer Verfassung, die unter anderem die Provinzen neu aufteilte, fallen Gesundheitsversorgung, Wasserverteilung und Grundschuldbildung in die Zuständigkeit der Provinzgouverneure.

Eine andere Forderung al-Shabaabs ignorierte die Regierung. Die Terrorgruppe hatte nach dem Anschlag von Garissa erneut gefordert, dass Kenia seine Truppen aus Somalia zurückziehen solle. Seit Kenia sich im Oktober 2011 der Eingreif­truppe der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom) anschloss, verübte al-Shabaab nach einer Zählung der kenianischen Zeitung The Standard über 100 Anschläge in Kenia. Während der ehemalige kenianische Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer Raila Odinga einen Truppenabzug ins Gespräch bringt, setzte die Armee ihre Angriffe in Somalia fort. Zuletzt hatte al-Shabaab in Somalia an Boden verloren. Die Gruppe musste ihre Hochburgen im Süden Somalias aufgeben und zog sich in ländliche Gebiete zurück. Der Anführer al-Shabaabs, Ahmed Abdi Godane, wurde im vergangenen September getötet. Drei weitere Führungskader der Gruppe kamen seit Dezember bei Drohnenangriffen der USA ums Leben.
Gleichzeitig haben der »Islamische Staat« (IS) und auch Boko Haram das Gesicht des globalen Jihad verändert. Vor allem der IS rekrutiert seine jungen Kämpfer mit professionell erstellten Videos via Internet auf der ganzen Welt. Gegen den islamistischen Pop des IS wirken al-Shabaabs Propagandavideos altmodisch: statische Aufnahmen von Männern, die Koransuren rezitieren. Im März jedoch veröffentlichte die Miliz ein Video von bis dahin ungekannter Brutalität: Unbewaffnete Männer wurden an einem Strand zusammengetrieben und gezwungen, in den Indischen Ozean hinauszuschwimmen, wo sie mit Maschinengewehren beschossen wurden und ertranken. Beim Angriff in Garissa soll al-Shabaab Studierende enthauptet haben. Es könnten Anzeichen eines Strategiewechsels sein: weg von dem Versuch, flächendeckende Kontrolle zu erringen, hin zu punktuellen, grausamen Anschlägen, mit denen al-Shabaab wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu treten versucht, um an Attraktivität für Rekruten und Geldgeber zu gewinnen.
Doch das Attentat von Garissa könnte womöglich für einen noch tiefer greifenden Strategiewechsel stehen, denn durch Angriffe auf säkulare Bildungseinrichtungen und Geiselnahmen war al-Shabaab bislang kaum aufgefallen. Solche Aktionen zählen eher zum Repertoire von Boko Haram. Sollte das Attentat von Garissa tatsächlich dem Vorbild Boko Harams gefolgt sein, könnte dies einen Hinweis auf eine neue Terror-Allianz darstellen. Seit 2012 gilt al-Shabaab als Ableger von al-Qaida. Doch wie brüchig solche Bündnisse sein können, zeigte sich im März, als Boko Haram – bis dahin mit Verbindungen zu al-Qaida im Maghreb – die Verbrüderung mit dem IS verkündete. Führende IS-Kämpfer ermutigen die »Brüder in Somalia« bereits, sich ihnen anzuschließen. Ob sich al-Qaida tatsächlich von al-Shabaab abwendet, wie ein Deserteur unlängst behauptete, bleibt abzuwarten – zumal die Verbindung aufgrund der geografischen Nähe zwischen Jemen und Somalia aktuell lohnend erscheint.
Während al-Shabaab in Somalia ohne Zögern Muslime tötet (weshalb Ussama bin Laden zu Lebzeiten eine Kooperation mit der Gruppe abgelehnt haben soll), ließen die Angreifer in Garissa Muslime frei und erschossen gezielt christliche Studierende. Dieses Vorgehen, das auf eine religi­öse Spaltung der kenianischen Gesellschaft zielen könnte, scheint seine Wirkung nicht zu verfehlen. Vor allem junge muslimische Frauen, die aufgrund eines Kopftuchs als solche zu erkennen sind, berichten seit dem Anschlag in Garissa von islamfeindlichen Anfeindungen.

Präsident Uhuru Kenyatta warnte zwar davor, Muslime pauschal zu Sündenböcken zu erklären, fügte aber hinzu, dass »die Radikalisierung, die zum Terrorismus wird, nicht im Busch bei Nacht passiert. Sie passiert in vollem Tageslicht in Koranschulen, in den Familien und in den Moscheen mit unverantwortlichen Imamen.« Die Aufgabe, den Terrorismus zu bekämpfen, sei schwer geworden, weil »die Planer und Finanziers dieser Grausamkeiten tief in unsere Gemeinschaften integriert sind und als normale, harmlose Leute angesehen werden«.
Hassan Ole Naado, der stellvertretende Generalsekretär der Vereinigung muslimischer Organisationen in Kenia, schrieb in einem Beitrag für die Zeitung The Daily Nation, sein Verband habe »sehr gelehrte und angesehene Islamgelehrte gebeten, ein Gegennarrrativ auf der Basis des wahren Islam und der klassischen Tradition zu erarbeiten«. So solle der Islam aus der »Gefangenschaft« von selbsternannten Gelehrten des Jihad befreit werden. Präsident Kenyatta bevorzugt in seinem Kampf gegen den Terror andere Mittel. Die paramilitärische Polizeieinheit GSU tötete in den vergangenen Jahren Dutzende populäre Imame. Nach dem Anschlag auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi im September 2013 stellte die Polizei das Stadtviertel Eastleigh, in dem mehrheitlich Somalis leben, unter Generalverdacht: Tausende Unschuldige wurden aus ihren Wohnungen gezerrt, auf offener Straße schikaniert und ohne Begründung inhaftiert.

Besonders hart trifft der Aktionismus der Regierung Flüchtlinge aus Somalia. Seit der Staat dort Anfang der neunziger Jahre kollabierte, flohen rund eine Million Menschen nach Kenia. Da die Flüchtlinge keine Arbeitserlaubnis haben, sind die meisten auf humanitäre Hilfsgüter auf Überweisungen von Freunden oder Verwandten aus dem Ausland angewiesen. Doch in der vergangenen Woche entzog die Regierung 13 auf solche Überweisungen spezialisierten Unternehmen die Lizenzen, mit der Begründung, das Geld diene der Terrorfinanzierung.
Nördlich von Garissa liegt die Stadt Dadaab, in deren Umgebung die größten Flüchtlingslager der Welt liegen; dort leben Schätzungen zufolge derzeit 600 000 Menschen. Bereits in der Vergangenheit hatte Kenias Regierung behauptet, die Camps dienten al-Shabaab als Rückzugs- und Rekrutierungslager. Am Wochenende forderte Vizepräsident William Ruto das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen auf, die Camps binnen drei Monaten zu räumen und die Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland Somalia zurückzuschicken. Ruto sagte: »So, wie sich die USA nach dem 11. September verändert haben, wird sich Kenia nach Garissa verändern.« Bereits im März hatte die Regierung den Bau einer Mauer an der Grenze zu Somalia verkündet. Dassdie neben Terroristen vor allem Flüchtlinge abhalten soll, scheint das unausgesprochene Ziel zu sein.
Der Terror gedeiht indes längst in Kenia selbst. Der mutmaßliche Drahtzieher des Angriffs von Garissa, Mohamed »Dulyadin« Kuno, ist kenianischer Staatsbürger. Er lehrte an einer Koranschule in Garissa, bevor er 2007 nach Somalia verschwand, wo er später zu einem führenden Mitglied al-Shabaabs aufstieg. Der ehemalige Journalist John Kitongo twitterte, die übliche »Hunger-PR« greife zu kurz, womit er die These kritisierte, dass sich vor allem arme muslimische Jugendliche der Terrorgruppe anschlössen. »Al-Shabaab nährt sich aus unseren eigenen Widersprüchen und ihre Anführer beuten diese clever aus.« Tatsächlich handelte es sich bei einem der Angreifer von Garissa um den Sohn eines kenianischen Beamten aus Mandera, einem Verwaltungsdistrikt im Nordosten. Er studierte Jura in Nairobi – mit einem Einser-Schnitt.