Die Biographie des Autors Danilo Kiš

Der letzte jugoslawische Autor

Mark Thompson hat sich dem Leben von Danilo Kiš gewidmet. In seiner Biographie begegnet man einem Autor, der auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aneckte.

Mein Vater wollte sich nicht mit dem Alter und dem Tod abfinden, nahm die Gestalt eines Ahasvers an, kam, meist als deutscher Tourist verkleidet, um meine Neugier anzustacheln, mich im Traum zu quälen und an seine Anwesenheit zu gemahnen«, schrieb Danilo Kiš im Roman »Garten, Asche«. Einem Gespenst gleich geistert sein Vater Eduard Kiš durch das Werk des 1935 in Subotica geborenen jugoslawischen Autors und scheint keine Ruhe zu finden. »Hätte sich mein Vater bereitgefunden, sich in angemessener Weise von der Welt zurückzuziehen, sich mit dem Tod abzufinden – ich hätte von alledem kein Aufhebens gemacht.« Der Ewige Jude, der Ahasver, zu dem Kiš’ Vater in den Romanen geworden ist, der rastlos um die Welt zieht und den Protagonisten der Bücher an den unterschiedlichsten Orten und in den verschiedensten Gestalten begegnet, konnte erst in »Die Enzyklopädie der Toten« zur Ruhe kommen. In Kiš’ letztem Werk stirbt der Vater im hohen Alter an Lungenkrebs und der Leser erfährt, dass »sein Leben nicht vergebens gewesen war, dass es auf der Welt immer noch Menschen gibt, die jedes Leben, jedes Leid, jede menschliche Existenz festhalten und bewerten«.
Der Antrieb des Autors Kiš, seinem Vater ein literarisches Denkmal zu setzen, seine Bücher zu einer »Schatzkammer der Erinnerungen« zu machen, tritt hier zum Vorschein. Er hat den 1898 als Eduard Mendel Kohn geborenen ungarischen Juden – Eduards Vater änderte 1902 den Familiennamen der Kohns ins Ungarische Kiš – niemals wirklich kennenlernen können: »Im Jahre 1944 wurden mein Vater und all unsere Verwandten nach Auschwitz deportiert, und von dort ist fast keiner zurückgekehrt«, so Danilo Kiš in dem kurzen Text »Geburtsurkunde« von 1983. »Von diesem Verschwinden (…) war ich als Kind und als Heranwachsender verfolgt. Dieses mysteriöse Verschwinden von Menschen, das den Kern meiner Literatur darstellt, ist ein wesentliches Phänomen des 20. Jahrhunderts«, hat er anderswo formuliert.
Und so kreisen die meisten Texte um diese Abwesenheit, um die Leere, die die Deportation seiner Familie zurückgelassen hat. Die Gestalt des Vaters, in der sich das Schicksal aller ermordeten Juden Europas spiegelt, ist vor allem in der autobiographischen Roman-Trilogie »Frühe Leiden«, »Garten, Asche« und »Sanduhr« präsent. Kiš’ Biograph Mark Thompson schreibt im soeben auf Deutsch erschienenen »Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš« über dieses Hauptwerk des Autors: »Für Kiš waren die drei Bücher sein ›Triptychon‹, und jedes erzählt dasselbe Leben: als wäre das Kind aus dem ersten Buch zu dem Mann herangewachsen, der sich auf den Tod vorbereitet.« Die drei Romane schildern aus verschiedenen Perspektiven das Leben der literarischen Figur Eduard Sahm, deren Denken, Handeln und Ängste mal aus der Sicht des Kindes Danilo beziehungsweise seines literarischen Alter Ego Andi Sahm, mal in Form von Verhören oder inneren Monologen beschrieben werden.
Eduard Kiš wurde 1941 zur Zwangsarbeit in einer Ziegelei verpflichtet, überlebte 1942 nur dank eines glücklichen Zufalls ein Massaker ungarischer Faschisten im serbischen Novi Sad und wurde 1944, nach seiner Flucht zu Verwandten aufs Land, ins Ghetto von Zalaegerszeg deportiert, kurz darauf nach Auschwitz. Eine der letzten Erinnerungen von Kiš an seinen Vater ist ein Besuch im Ghetto, den er literarisch in »Garten, Asche« verarbeitet hat. Das Kind Danilo beziehungsweise Andi gibt seine Aggressionen gegenüber dem Vater, der resignativ dazu neigte, seine Verfolgung als Schicksal anzunehmen und selbst den Antisemitismus zu verinnerlichen, ungefiltert an die Leser weiter: »Er war in einem kleinen, klösterlich leeren und finsteren Junggesellenzimmer am Rande des Ghettos untergebracht. (…) Er legte eine außergewöhnliche Toleranz gegenüber seiner neuen Lage an den Tag, lobte die Vorzüge und Bequemlichkeiten seines Zimmers und betrachtete sich als Günstling des Schicksals. Sein Kapitulatentum, seine Schicksalsergebenheit und die Sehnsucht nach Zuhause hatten ihn völlig degradiert.«
Kiš’ Mutter Majka Milica Kiš, eine serbisch-orthodoxe Montenegrinerin, hat mit ihren beiden Kindern Danica und Danilo die Verfolgung in Ungarn überlebt. In »Autobiographie« schrieb Kiš: »Ich war vier Jahre alt, als mich meine Eltern, nach Ausrufung der antijüdischen Gesetze in Ungarn, in der Himmelfahrtskathedrale in Novi Sad orthodox taufen ließen, was mir das Leben rettete.« 1947 siedelten die drei zu Verwandten nach Montenegro über die einzige Erinnerung an den ermordeten Vater waren Briefe, amtliche Dokumente und dessen in seiner Funktion als Oberinspektor beim Jugoslawischen Handelsministerium verfasster »Jugoslawischer und Internationaler Fahrplan« für das Jahr 1938, der für Danilo zu einem literarischen Fetisch wurde, ein »Mülleimer großer Städte (…) eine Art Kabbala«.
Nach dem Abitur begann Kiš in Belgrad ein Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und schrieb mit 25 Jahren den Kurzroman »Psalm 44«, sein einziges Buch, in dem die Leser ganz explizit ein Konzentrationslager zu betreten haben; später hat er sich von dem literarisch eher schwachen Text distanziert, vor allem wegen der Anmaßung, KZ-Erfahrungen und das Überleben beschreiben zu können. Seine späteren Texte zeigen vielmehr das Scheitern einer solchen Annäherung, bilden die Leere ab, die nach der Shoah zurückbleibt. Und dies in einem ganz materiellen Sinne: In einer Szene in »Sanduhr«, in der Eduard Kiš beziehungsweise Sahm am Ufer der Donau seine Hinrichtung erwartet, der er lediglich entkommt, weil die eigens für die Leichen in die dicke Eisschicht des Flusses geschlagenen Löcher bereits überfüllt sind, bricht der Text unvermittelt ab. »Dieses Gefühl, vom eigenen Ich im Stich gelassen worden zu sein, diese Vision seiner selbst aus der Sicht eines andern, dieses Verhältnis zu sich selbst als einem Fremden« – »Unvollendet. Es fehlt ein Blatt«, lautet die entsprechende Anmerkung des Autors in einer Fußnote.
Der historische Hintergrund dieser Episode ist der Einmarsch der ungarischen Armee in der Vojvodina im Januar 1942. Sie hatte sich den Achsenmächten angeschlossen und begann in Novi Sad mit der Exekution Tausender Juden und Serben. Die Folgen der Erfahrung des bevorstehenden Todes für seinen Vater hat Kiš in einem Interview beschrieben: »Mein Vater tauchte in den späten Nachmittagsstunden zu Hause auf, ein gebrochener Mann, plötzlich gealtert, das Grauen in den Pupillen. Dieser Tag an der Donau und das Warten vor den Kabinen, im Vorhof der Hölle, das Warten darauf, an die Reihe zu kommen (…), all das erschütterte seinen an sich schon angegriffenen Gesundheitszustand vollends.« Dieser »Vorhof der Hölle«, in dem sein Vater zu leiden hatte, wurde für Kiš der Ausgangspunkt der Frage, auf welche Weise ein Schreiben nach Auschwitz, nach dem Verschwinden von Menschen und angesichts der zurückbleibenden Leere, noch möglich sein könne. »Bruchstücke dieses wachen Traums und Alptraums verwüsteten mein Bewusstsein und Inneres, in meinem ganzen Wesen liefen gleichzeitig zwei Prozesse ab, Traum und Wirklichkeit, Alptraum und Luzidität«, hält die Vaterfigur in »Sanduhr« fest.
Danilo Kiš hat in seinen Texten das Schreiben selbst zum Thema gemacht, das Ringen um Worte und das Ringen mit den Bruchstücken der Erinnerung, den eigenen und den vorgefundenen Alpträumen des 20. Jahrhunderts. »Eine fortlaufende Erzählung der Ereignisse hätte das obszön Irrationale zu etwas unanständig Rationalem gemacht, eine vertraute Form den absolut anormalen Kontext normalisiert«, schreibt Mark Thompson in seiner Kiš-Biographie über die Struktur von »Sanduhr«. Seine Ästhetik nach Auschwitz, die Kiš vor allem in »Sanduhr« verwirklicht hat, lässt sich als ein zunehmendes Abwerfen gewohnter Erzählstrukturen beschreiben. Immer mehr Raum nehmen Listen, Aufzählungen, Register und Kataloge ein, in deren Dichte Kiš eine Form gefunden hat, davon zu reden, was sich der Sagbarkeit entzieht. Listen von Freunden des Protagonisten und ihrer Tode ziehen sich über Seiten, aus »dokumentarischen Speisekarten« bilden sich Menschenschicksale.
Auch ist »Garten, Asche« von 1965 bereits durchzogen von zwei sich widerstreitenden Erzählerstimmen, einem kindlich-naiven Erzähler, der auch in »Frühe Leiden« von 1969 ein Tableau absurder Eindrücke der Welt präsentiert, und dem Blickwinkel eines »Schriftstellers, der sich mit diesem Kind identifiziert«, wie Kiš es 1973 in einem Essay beschrieb. Die beiden Perspektiven stehen nebeneinander, wechseln manches Mal in einem einzigen Satz und spiegeln möglicherweise das, was Kiš als seine ungelöste Mehrfachidentität beschrieben hat: »Ohne die ›beunruhigende Andersheit‹, die das Judentum mit sich bringt, und ohne die Missgeschicke meiner Kindheit während des Krieges, wäre ich zweifellos nicht Schriftsteller geworden.«
Die Bedrohung jüdischen Lebens, die diese Andersheit so beunruhigend macht, steht im Zentrum der »Familienzirkus«-Trilogie. Ihr Abschluss »Sanduhr« wird von der Übersetzerin Ilma Rakusa im Nachwort auch als der Versuch einer »archäologischen Sondierung oder Ausgrabungsarbeit« beschrieben, der Schichten der Historie freilegt: »Aus Fragmenten und mithilfe poetischer und dokumentaristischer Stilmittel rekonstruiert er das untergegangene jüdische Mitteleuropa, für das pars pro toto die Vaterfigur steht.« Zur Poetik von Kiš gehörte auch eine Skepsis gegenüber »reinen Erfindungen« in der Literatur, vielmehr arbeitete er mit erfundenen Kommentaren zu nicht erfundenen Dokumenten, schrieb fiktionale Texte, die nichtfiktionale Formen imitierten: »Der Rahmen, den das Dokument bietet, verbietet meiner Phantasie, sich Freiheiten herauszunehmen und aus dem Schicksal der mitteleuropäischen Juden eine Art reiner psychologischer Erfindung zu machen.«
»Wenn ich heute um Kartoffeln bettle, muss ich unweigerlich an die verblüffende Ähnlichkeit (…) zwischen der Kartoffel und dem Juden denken. Wir stammen, ich sagte es schon, aus demselben Dunkel der Geschichte. Doch weshalb, meine Herren, ist die Kartoffel langlebiger als wir?« schrieb Kiš in »Sanduhr«. Das Judentum spielte für Kiš jenseits der Verfolgungserfahrung keine große Rolle, vermutlich ist sein Werk auch aus diesem Grunde nicht in den Kanon jüdisch-europäischer Post-Shoah-Literatur aufgenommen worden. Für ihn bedeutete Judentum vor allem eine »beunruhigende Andersheit«: »Ich denke, mein Schicksal ist das Schicksal eines Ewigen Juden: Das kann ich nicht ändern, das ist einfach so.« Er ist sich jedoch sicher: »Es ist besser, man gehört zu den Verfolgten als zu den Verfolgern.«
Nachdem Kiš 1976 »Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch« veröffentlichte, eine Sammlung von Biographien hauptsächlich jüdischer Pro­ta­gonisten, die in stalinistischen Lagern ermordet worden waren, kam es zum größten literarischen Skandal Jugoslawiens der Nachkriegszeit, der vor allem geprägt war von einem antisemitischen Ton: Kiš sei ein heimatloser Kosmopolit, ein Zionist und Antikommunist. Einen gegen ihn angestrebten Gerichtsprozess gewann Kiš, er lebte zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits in Frankreich.
Als Kommunist hat sich Kiš ebenso wenig verstehen wollen wie als prowestlicher Dissident, vielmehr hat er stets jegliche Definition weit von sich gewiesen und sich vehement geweigert, sich ethnisch, national oder politisch irgendwo zu verorten. In seinen letzten Jahren versteifte er sich darauf, zwischen Auschwitz und den stalinistischen Lagern bestehe kein Unterschied und ließ gleichzeitig an der westlichen Toleranz gegenüber dem Islam nach der Fatwa gegen seinen Freund Salman Rushdie kein gutes Haar. Bis zuletzt gelang es ihm, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs anzuecken; er hielt das Ideal der Weltliteratur hoch, verfeinerte seine Poetik der Listen und Enzyklopädien und dekonstruierte nationale Mythen. Sein letztes geplantes Romanprojekt über einen jüdischen Renaissance-Dichter aus Dubrovnik konnte er nicht mehr verwirklichen der »letzte jugoslawische Autor« Kiš, wie er sich selbst einmal bezeichnete, starb kurz vor dem Mauerfall im Oktober 1989 in Paris an Lungenkrebs, zwei Jahre, bevor die Nationalismen in Jugoslawien wieder kriegerisch die Oberhand gewannen.

Danilo Kiš: Familienzirkus. Die großen Romane und Erzählungen. Hanser-Verlag, München 2014, 912 Seiten, 34,90 Euro
Mark Thompson: Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš. Hanser-Verlag, München 2015, 512 Seiten, 29,90 Euro