Der vermeintliche Skandal um Brechts »Kälbermarsch« im Unterricht

Wer Faschist ist, bestimme ich

Der traditionelle Antifaschismus ist in Deutschland nur noch ein Relikt. Das musste eine Berliner Lehrerin erfahren, der die »Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen« vorgeworfen wird.

Irgendwann hörten sie dann auf, die seit den achtziger Jahren von Justiz und Polizei sporadisch unternommenen Versuche, Antifa-Aktivitäten zu behindern, indem man Anstecker, Aufkleber und Plakate, die ein durchgestrichenes Hakenkreuz oder das demonstrative In-den-Müll-Werfen des Nazisymbols zeigten, als ein »Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen« inkriminierte. Diese Praxis, zu Recht als absurd und häufig auch als staatliche Protektion des deutschen Neonazismus gedeutet, verschwand irgendwann, nachdem im Herbst 2000 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den »Aufstand der Anständigen« ausgerufen hatte. In dessen Folge wandelte sich das öffentliche Bild vom Neonazi als verwirrtem, jungem Mann mit »übersteigertem Nationalgefühl« zum volks- und staatsfeindlichen Monster des »Rechtsextremisten«.

Neuartige Bündnisse von autonomen Streetfightern bis zu christdemokratischen Sesselfurzern erblickten das Licht der freiheitlich-demokratischen Welt. Zuvor von Friedhofsruhe geprägte Orte und Vororte verwandelten sich in Schauplätze des vieltausendköpfigen »Widerstands«, der kümmerliche »Aufmärsche« nationaler Wurzelzwerge heroisch »zum Stehen« brachte. Auch in pekuniärer Hinsicht änderte sich einiges: Konnten sich noch bis zur Jahrtausendwende rechtslastige »Bildungswerke« und andere Tarnadressen »Ewiggestriger« direkter und indirekter staatlicher Zuwendung erfreuen, fließt heutzutage Geld des Innen- und Familienministeriums in die »Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus«. Nicht nur eine Handvoll linker Veteranen gelangt so in den Genuss eines bescheidenen Gnadenbrots.
Die durchgestrichenen und weggeworfenen Hakenkreuze gibt es immer noch. Es scheint, als hätten sie sich – ungeachtet aller glorreichen Verhinderungen von »Aufmärschen« – sogar vermehrt, und nicht etwa als sentimentale Andenken an vergangene Zeiten, sondern als Denunziationsmarken in der politischen Alltagskonkurrenz. Bei den von Staat und Massenmedien geförderten Anti-Pegida-Manifestationen kommen sie ebenso zum Einsatz wie bei den bislang nur von russischen Medien unterstützten Pegida-Kundgebungen. Der auf Youtube dokumentierte Livestream der Dresdner Pegida-Kundgebung vom 13. April zeigt am Ende zwei junge Anhängerinnen von Pegida mit sehr langen Fahnenstangen, an deren Ende ein durchgestrichenes Hakenkreuz mit dem Slogan »Keine Nazis« im sächsisch-abendländischen Frühlingswind flattert. Eigentlich fehlten hier nur noch die aus dem Off erklingende Melodie von »Doktor Schiwago« und »Wir sind die Moorsoldaten« auf sächsisch.
Wenn nationale Erwecker mit Straßenanhang wie Pegida und Anti-Pegida sich gegenseitig die Nazikeule um die Ohren hauen, geht das nicht ohne Kollateralschäden ab. Werden die Trümmer geräumt, stellt man aber fest, dass einiges schon zuvor recht brüchig war: etwa der traditionelle Antifaschismus. Dieser hatte sowohl in seiner westlich-spätbürgerlichen wie in seiner östlich-parteikommunistischen Ausrichtung stets auf Argumentation gesetzt, deren wesentliche Elemente, wie gegensätzlich ausgeprägt auch immer, in Erkenntnis und Ethik bestanden. Die pädagogische Praxis galt beiden neben der staatlichen Gewalt und den Massenmedien als kardinaler Hebel der Faschismusprävention. Hier sollten die heranwachsenden Staatsbürger lernen, warum und wie der Faschismus schädlich für die Nation war.

Auch wenn beide Fragewörter in den unterschiedlichen Systemen verschiedene Antworten erforderten, glichen sich doch die pädagogischen Imperative: Durch Quellenstudium und Nachvollzug von Interessen und politischen Standpunkten sollte dem Nachwuchs zu antifaschistischer Positionierung verholfen werden. Als probates Mittel galt beiden Systemen das Verständnis für das nicht zu verhehlende Mitmachen der deutschen Mehrheit. Auf unterschiedliche Weise sollte man analytisch zu verschiedenen Ergebnissen kommen: Proletarier erlagen zumindest temporär der »sozialen Demagogie des Faschismus« (DDR) beziehungsweise Bürger »der Verführung des Totalitarismus« (BRD).
Der traditionelle Antifaschismus der Argumentation fand sein Ende in der individuellen Verallgemeinerung. Wer Faschist ist, bestimme ich, sieh zu, dass du’s nicht bist – das ist die Botschaft von Anti-Pegida wie Pegida und offenbar auch eine Waffe im alltäglichen Konkurrenzkampf. So konnte es zumindest einer Berliner Musiklehrerin erscheinen, an deren Arbeitsplatz kurz nach den Osterferien die Polizei erschien. Die Beamten des Berliner Staatsschutzes konfrontierten die Lehrerin mit einer – bis heute anonym gehaltenen – Strafanzeige wegen »Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen« nach Paragraph 86a des Strafgesetzbuchs. Sie hatte im Unterricht einer 11. Gymnasialklasse den »Kälbermarsch« von Bertolt Brecht und Hanns Eisler behandelt, und zwar als Satire und Parodie in antifaschistischer Absicht.
In Brechts »Kälbermarsch« – ein Song aus seiner 1943 entstandenen Groteske »Schwejk im 2. Weltkrieg« – heißt es: »Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen/Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt./Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen/Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit./ (…) /Sie tragen ein Kreuz voran/Auf blutroten Flaggen/Das hat für den armen Mann/Einen großen Haken.« Dabei handelt es sich um eine satirische Zuspitzung des im Nationalsozialismus häufig mit der deutschen Nationalhymne gesungenen »Horst-Wessel-Lieds«, dessen Rhythmus Hanns Eisler beibehielt und dessen Melodie er parodistisch verfremdete. Inhaltlich also traditioneller Antifaschismus, der »arme Mann«, obgleich Komplize, ist doch armes Opfer.
Die Lehrerin hatte wohl auch die nationalsozialistische Vorlage für Brechts und Eislers Parodie behandelt. Ob sie das »Horst-Wessel-Lied« auch singen ließ, ist anhand der öffentlich bekannten Details nicht zu verifizieren. Denkbar wäre es aus allerlei pädagogischen Gründen, was freilich keinen Zweifel an ihrer antifaschistischen Gesinnung erlauben würde. Gegenüber dem Berliner Staatsschutz berief sich die Lehrerin zu Recht auf den Rahmenplan für die gymnasiale Oberstufe: »Die Schülerinnen und Schüler untersuchen die Rollen am Kulturleben Beteiligter und entwickeln ein Verständnis für die Funktionalisierung von Musik im Dienste politischer, religiöser und wirtschaftlicher Interessen.«

Die lokalen Medien sahen das aber anders: Von »Lehrerin ließ ihre Schüler das verbotene ›Horst-Wessel-Lied‹ summen« (Berliner Zeitung) bis »›Die Fahne hoch‹ und losmarschiert! Eine Musiklehrerin (…) hat eine 11. Schulkasse strammstehen und das verbotene Horst-Wessel-Lied singen lassen« (Berliner Kurier) war vieles möglich. Interessanterweise hatte das Neue Deutschland die Kampagne losgetreten: Eine Musiklehrerin habe »Schüler das verbotene faschistische ›Horst-Wessel-Lied‹ singen und dazu marschieren« lassen, hatte die Zeitung als allererste vermeldet. In genervten Lehrerkreisen wird man wohl dennoch am traditionellen Antifaschismus festhalten, auch wenn er einem unter der Hand leicht entgleitet: Keiner weiß, wo die durchgestrichenen Hakenkreuze demnächst auftauchen werden.