Das Polnische Filmfestival in Berlin

Nonnen und Spione

Das größte polnische Filmfestival Deutschlands findet in diesem Jahr zum
zehnten Mal statt.

Kaum etwas weist so deutlich und unmittelbar auf Vergangenheit hin wie eine vergilbte Fotografie: Die sichtbaren Zersetzungsspuren, die sich in einem fotochemischen Trägermedium im Laufe der Jahre sammeln, kommunizieren einen historischen Abstand. Im Kino wird dieser physikalische Effekt zum visuellen Klischee: Die Vergangenheit hat in Historienfilmen oft keine Farben. Oder zumindest nicht allzu viele. Mit der Farbe wird der historischen Kulisse nicht selten auch jede Lebendigkeit entzogen – und vor allem werden alle Verbindungen zur Gegenwart gekappt. Der Erinnerungsblick legt Farbfilter über die vergangene Welt, um sie sich vom Leib zu halten. Allerdings tut er das auf jeweils unterschiedliche Art und Weise. Pawel Pawlikowskis international äußerst erfolgreicher Film »Ida« verzichtet durchweg auf Farben und taucht seinen Blick auf die polnischen sechziger Jahre in ein gespenstisches Schwarzweiß. In den siebziger Jahren, in denen der allerdings sehr schön fotografierte Film »Jack Strong« spielt, sind immerhin jede Menge kalte, gedeckte Grün- und Blautöne übrig geblieben. Bei Andrzej Wajdas in derselben Ära angesiedelten Biopic »Walesa: Man of Hope« dominieren warmes Braun und Rot. Alle drei Filme sind im Rahmen des Festivals Film Polska zu sehen, das vom 22. bis 29. April in verschiedenen Berliner Kinos stattfindet.
Ausgerechnet der Altmeister Wajda sorgt zunächst, mit der ziemlich camp-artigen ersten Szene seines Films, für Irritation. Freilich beschränkt sich die Originalität von »Walesa: Man of Hope« auf eine Rahmenhandlung, die ein legendäres Interview nachstellt, das die italienische Journalistin und Schriftstellerin Oriana Fallaci mit Lech Wałęsa 1981, auf dem Höhepunkt der Solidarność-Bewegung, geführt hatte. Die beiden Akteure, die die historischen Figuren verkörpern, liefern sich ein sagenhaftes Overacting-Duell; vor allem scheinen sie einen Wettkampf auszutragen, wer in der Lage ist, affektierter an einer Zigarette zu ziehen. Die Rück- und später Vorausblenden, die von diesem Gespräch ihren Ausgang nehmen, erweisen sich als filmtechnisch solide, aber in keiner Hinsicht überraschende Geschichtsrekonstruktion, die sich hauptsächlich an der charakterlichen Disposition von Wałęsa abarbeitet. Und immerhin einige schöne polnische Punksongs aus den Achtzigern ausgräbt.
Der interessantere der beiden Filme über die polnischen siebziger Jahre und den sich damals ankündigenden Kollaps des Warschauer Paktes ist »Jack Strong«. In den neunziger Jahren hatte dessen Regisseur Wladyslaw Pasikowski das Kino nach dem Warschauer Pakt mit reißerischen, ungehobelten Genrefilmen wie »Psy« modernisiert. Jetzt hat er einen souveränen, kontrollierten, durch und durch klassizistischen Agentenfilm vorgelegt, der einen historisch verbürgten oder jedenfalls einigermaßen aktenkundigen Spionagefall zum Ausgangspunkt nimmt: Ryszard Jerzy Kukliński übermittelte im Laufe der siebziger Jahre der CIA eine Reihe wichtiger Dokumente, 1981 gelang ihm gemeinsam mit seiner Familie die Flucht nach West-Berlin.
Als Politthriller mag »Jack Strong« mäßig interessant sein – Verwicklungen, Loyalitätskonflikte, Ambivalenzen gibt es kaum, es läuft alles recht eindimensional auf die mit Penetranz wiederholte Behauptung heraus, dass ein Pole für die USA den kalten Krieg gewonnen habe. In einem harten Gegensatz zu avancierteren Genrevertretern wie dem ästhetisch auf den ersten Blick ähnlichen »Dame, König, As, Spion« (2011) gerät »Jack Strong« vor allem, weil der Film mit Vehemenz darauf besteht, dass die infantil anmutenden Versteckspiele der Agenten einen realhistorischen Gegenwert haben: Die CIA-Leute versichern sich immer wieder gegenseitig, dass alle Informationen, die ihnen der polnische Spion zusendet, ganz wichtig und vor allem absolut wahr seien.
Diese positivistische Schlagseite bricht sich an der Melancholie der rückblickenden Erzählperspektive, an der zurückgenommenen, eleganten Inszenierung (die von einem sehr schönen, bläserlastigen Score unterstützt wird, der sich von all den hektisch im Leerlauf hyperventilierenden Soundtracks der Mainstream-Actionfilme der vergangenen Jahre angenehm abhebt), erst recht an dem empathischen Blick auf die sozial beengende Atmosphäre, in der die Kuklińskis ihr Leben organisieren mussten. Als Familienfilm ist »Jack Strong« am Ende stärker denn als Agentenfilm – wobei es durchaus seinen Reiz hat, dass ein so kompetent gemachter polnischer Film auch nicht davor zurückschreckt, genremäßig in die Vollen zu gehen und eine waschechte CIA-Sitzung inklusive Telefonanruf vom Präsidenten zu inszenieren (davor, natürlich: ein Blick aufs Washington Monument und das Lincoln Memorial), einen Sowjet-Apparatschik dafür richtig schön ausrasten zu lassen – und schließlich in den bis dahin das Tempo bewusst niedrig haltenden Film eine spektakuläre, dynamische Autoverfolgungsjagd über vereiste Straßen einbrechen zu lassen.
Neben einem Film wie »Ida« wirken sowohl »Walesa: Man of Hope« als auch »Jack Strong« wie Relikte. Nicht nur, weil die beiden letzteren eindeutig Männer- und bis zu einem gewissen Grad auch klassische Machofilme sind (»Jack Strong« übrigens trotz des Titels deutlich weniger als »Walesa«), während »Ida« von einer jungen jüdischen Frau erzählt, die mit ihrer Tante durch das Polen der sechziger Jahre reist und vom grausamen Tod der Eltern erfährt; sondern auch, weil Wajda und Pasikowski sehr deutlich ein primär polnisches Publikum adressieren und Geschichten erzählen, die auf nationale Selbstverständigung hinauslaufen. »Ida« dagegen hat von Anfang an, darauf verweist schon die karge Schönheit der minimalistischen Bildsprache, ein internationales Arthauskino im Blick.
Ästhetisch ist »Ida« über jeden Zweifel erhaben, genau wie die beiden Hauptdarstellerinnen: die zynisch abgeklärte Agata Kulesza und vor allem die völlig zurecht allseits gefeierte Agata Trzebuchowska mit ihrem Kinogesicht, das zunächst noch von einer Nonnenhaube gezähmt wird und nur langsam, Schritt für Schritt, seine ganze Strahlkraft entwickelt. Und doch lässt sich nicht ganz nachvollziehen, warum Pawlikowskis Film sich in den vergangenen Monaten zu everybody’s darling entwickelt hat, erst den Europäischen Filmpreis und dann auch noch den Auslandsoskar gewonnen hat. Auf die periphere Komplizenschaft des polnischen Alltagsantisemitismus mit dem deutschen Vernichtungsantisemitismus hatte Claude Lanzmanns »Shoah« bereits vor 30 Jahren hingewiesen, und zwar um einiges deutlicher als Pawlikowski. Auch zum Beispiel Christian Petzolds von der erzählerischen Anlage her fast identischer Film »Phoenix« ist deutlich wagemutiger, weil er zeigt, wie sich auf einem verdrängten Massenmord eine ganze Gesellschaft begründet. In der affektiven Konstruktion von »Ida« wird der Holocaust eher als ein Katalysator eingesetzt, der das coming of age und die sexuelle Erweckung einer jungen Nonne ermöglicht.
Insgesamt präsentiert die diesjährige Ausgabe des Festivals die polnische Kinematographie als eine, die souverän über die Vergangenheit oder zumindest über das dramaturgische Potential jener zahlreichen politischen Verwerfungen verfügt, welche die Geschichte Polens im 20. Jahrhundert geprägt haben. Freilich sei gleich gesagt, dass Film Polska sich über die Jahre so weit ausgedehnt und intern ausdifferenziert hat, dass man kaum noch allgemeine Aussagen über Programmschwerpunkte zu treffen wagt – ganze zehn Veranstaltungsorte werden inzwischen bespielt, neben neuen Spiel- und Dokumentarfilmen präsentiert das Festival gleich vier verschiedene historische Specials. Neben den manchmal etwas didaktisch daherkommenden Versuchen der Vergangenheitsaufarbeitung sind beispielsweise auch großartige Horrorfilmsonderbarkeiten von Walerian Borowczyk (»Doctor Jekyll et les femmes«) und Andrzej Zulawski (»Possession« mit Isabelle Adjani und der besten U-Bahnszene der Filmgeschichte) zu sehen.

Film Polska findet vom 22. bis 29. April in verschiedenen Berliner Kinos statt. www.filmpolska.de