Die Deutschen und ihre Vergangenheitsbewältigung

Der Himmel ist wieder blau

Eine deutsche Erfolgsgeschichte. Über nationale Versuche der Traumabewältigung.

Die Deutschen – eine Volksgemeinschaft von Sonnenanbetern? 1948 dichtete der einstige expressionistische Rebell und spätere Stalin-Vergötterer Johannes R. Becher der jungen DDR folgenden Imperativ in ihre Nationalhymne: »Denn es muss uns doch gelingen,/dass die Sonne schön wie nie/über Deutschland scheint.« Spätestens 30 Jahre danach war offenkundig, dass ihnen dies nicht gelungen war und der Dichter schon seinerzeit um die Unzuverlässigkeit der Sonne bei deutschen Nationalambitionen hätte wissen können. Denn kaum eine historische Darstellung verzichtet auf die Erwähnung des guten Wetters am 1. September 1939, als mit dem deutschen Überfall auf Polen der offizielle Zweite Weltkrieg begann: sommerliche Temperaturen im gesamten Reichsgebiet, strahlender Sonnenschein und 27 Grad Celsius in der Reichshauptstadt. In deutschen Veröffentlichungen wird bis heute dieses Wetter meist als Rechtfertigung für den Kriegsoptimismus der Bevölkerung herangezogen.
Am Samstag, dem diesjährigen 2. Mai, schien wieder die Sonne über der deutschen Hauptstadt. Und wieder wurde ihr vermeintlich segensreiches Wirken beschworen. »Frühling in Berlin« beginnt ein Redner seinen Vortrag im Abgeordnetenhaus bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes. Der Mann, es handelt sich um den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, hält einige Sekunden inne, das Gewicht der drei Worte will so unterstrichen sein, und fährt schließlich mit einem Zitat aus dem Bericht eines »Zeitzeugen« über den 2. Mai 1945 fort: »Es ist ein wunderschöner Tag, die Sonne strahlt am blauen Himmel, man riecht den Frühling.« Wieder ein kurzes Innehalten, und bevor noch Zuhörer überlegen, ob künftig Zeitzeugen auch für Wetterberichte bürgen, folgt eine geniale Paraphrase des Zitierten durch den Außenminister: »Der Himmel war blau.« Noch ein Innehalten, kürzer als die vorherigen, dann aber: »Und was war unter diesem Himmel?« Na, was wohl? Selbstverständlich Zerstörung, Leid und Elend, das war auch allen von der Steinmeierschen Rhetorik Beeindruckten sofort klar. Klar war auch, dass der Redner dies nicht auf metaphysisch begründete »Schrecken des Krieges« oder Ähnliches zurückführen, sondern die Verantwortung des untergegangenen NS-Deutschland betonen würde.
Ebenso klar war, dass die Frühlingserzählung des Herrn Außenministers so freundlich und banal enden würde, wie sie begonnen hatte: »70 Jahre später. Es ist der 2. Mai 2015. Wieder Frühling in Berlin. Wieder blauer Himmel.«
Was ja auch stimmte. Tristeste Banalität – »Normalität« würde ein Ghostwriter des Ministers formulieren – hatte tags zuvor die Straßen im unweit des Berliner Abgeordnetenhauses gelegenen Kreuzberg bestimmt. Dort hatten optimistische Linksradikale, wie seit 28 Jahren, zu einer »Revolutionären 1.-Mai-Demonstration« aufgerufen. »Berlin. Athen. Kobanê. Die letzte Schlacht gewinnen wir!« lautete diesmal ein selbstbewusstes Motto. Die etwa 20 000 aus allen Landesteilen angereisten Teilnehmer bekamen zu ihrem Erstaunen wenig Ärger mit der Polizei, mussten aber feststellen, dass sie gegen die mehr als doppelte Anzahl von Bürgern und Touristen, die den Kreuzberger 1. Mai nutzten, um bei grauenhaft schlechter Musik, schalem Bier und ödem Multi-Kulti-Fraß besinnungslos Straßen und Plätze mit Müll und Fäkalien zu bedecken, einfach keine Chance hatten. Um dies als Triumph »konsumistischen (Pseudo-)Hedonismus« über »moralischen Idealismus« zu werten, muss man wohl weder Ghostwriter eines Ministers noch besonders zynisch veranlagt sein.

Irgendwie »hedonistisch« präsentieren sich auch manche Public-Relations-Produkte der aktuellen 70-Jahre-Kriegsende-Kampagne. An nicht wenigen Berliner Bushaltestellen und Plakatwänden wirbt gerade ein stark vergrößertes Schwarzweißfoto für eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums: »1945 – Niederlage. Befreiung. Neuanfang«. Auf dem offenbar im Sommer 1945 geschossenen Foto tummeln sich einige leicht bekleidete junge Frauen an einem Badesee. Wessen Betrachtung bald an der schlechten Belichtung und übermäßigen Vergröberung der abgelichteten Frauen scheitert, wird schnell auf den unteren Bildraum gelenkt, wo sich ein aus Birkenstämmen gezimmertes Holzkreuz befindet, an dem symbolträchtig drei Stahlhelme hängen: Drei junge Burschen, die sich wohl besser mit den Mädels als mit Kriegspielen beschäftigt hätten, liest der beflissene Betrachter die Bildsprache. Weniger Beflissenen fällt angesichts der lasziven Gelassenheit der Nachkriegsgrazien die zeitgenössische deutsche Sterbehilfe-Parole »Der Tod gehört zum Leben« ein.
Das ist – wenn auch in einer alles andere als kritischen Intention – durchaus beabsichtigt. Der Anlass der Bildpräsentation verliert sich in einem breiten pseudophilosophischen Erzählstrom über Leben und Sterben. Darauf verweist auch der Untertitel der Ausstellung: »Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg«. Das heißt scheinbar bescheiden Deutschland unter anderen und meint: Trotz aller politischen und medialen Beschwörung der »Beispiellosigkeit« deutscher Verbrechen, alle – darunter auch die Deutschen – spielen ihre Rolle im ewigen Welttheater von Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau.
Dieser Methode, Relativierung durch Narrativierung, befleißigt sich auch Der Spiegel. Die Titelseite der Ausgabe vom 25. April (»Der Tag des Jahrhunderts«) zeigt die kitschig nachkolorierte Aufnahme einer von Kriegstrümmern gesäumten Straße in Nürnberg. Rechts unten sieht man drei ältere Leute – zwei Frauen, in ihrer Mitte ein Mann – gesenkten Kopfes quasi aus dem Bild herausgehen. Sie verlassen, so legt das Arrangement nahe, die Vergangenheit, während zwei offenbar jüngere Frauen, flotten Schrittes und einander untergehakt, an ihnen vorbei quasi in das Bild hineingehen, schon dabei sind, eine weit offene Zukunft zu betreten. Derart literarisch eingestimmt trifft der Leser in der Titelstory »Wie die Deutschen das Kriegsende erlebten« auf eine Volksgemeinschaft besonderer Art.
Nacherzählt werden hier 8.-Mai-Erlebnisse recht unterschiedlicher Personen: Ein der Vernichtung knapp entronnener Jude ist hier gemeinsam mit einem KZ-Kommandanten und Hermann Göring untergebracht, auch Konrad Adenauer ist dabei, der Emigrant Thomas Mann ebenso wie der NS-Claqueur Ernst Jünger.
Angesichts dieses seltsamen Ensembles könnte das stets fragwürdig gewesene denunziative Attribut »obszön« durchaus angemessen sein. Nach Abflauen des ersten Erstaunens erschließt sich aber bald der Sinn des gewagten »Kunstgriffs«. Abzüglich des KZ-Kommandanten und Görings, die beide von den Alliierten hingerichtet wurden, könnten alle, so sie noch lebten, in einer ideellen demokratischen Volksgemeinschaft Platz finden.

Jedenfalls heute, 30 Jahre nachdem der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker erstmals den 8. Mai als »Tag der Befreiung« auch für Deutsche proklamierte. Der als Wehrmachtsoffizier ab 1941 aktiv am antisowjetischen Vernichtungskrieg beteiligte Weizsäcker hatte 1985 gegen zunächst erhebliche Widerstände den Startschuss fürs neue, diesmal explizit antifaschistische Selbstbewusstsein des wenige Jahre später als Großmacht reüssierenden postfaschistischen Deutschland abgeben.
Dafür wird Weizsäcker heute als nationale Lichtgestalt verehrt. Auf ihn nahm auch Außenminister Steinmeier in seiner Berliner Rede am 2. Mai Bezug: »Diese Befreiung, von der Weizsäcker sprach, war nicht nur die Befreiung von etwas (…), vom dunkelsten Irrweg unserer Geschichte, (…) wir wurden auch befreit zu ›mehr Licht‹ auf unserem Weg nach vorn.« »Mehr Licht« bedeutet für deutsche Sonnenanbeter Inanspruchnahme einer Eliteposition: »Gerade wir müssen heute, vielleicht noch mehr als andere, Verantwortung übernehmen für den Erhalt einer friedenserhaltenden Ordnung.« An deutsche »Partner« – namentlich wurden die USA, Russland und Polen erwähnt – adressierte Steinmeier die durchaus auch als beunruhigend zu interpretierende Botschaft: »Die Hand, die Sie uns Deutschen gereicht haben, lassen wir nie wieder los.«
Ebenso interpretationsfähig war die Kennzeichnung der deutsch-israelischen Beziehungen als »fast ein Wunder«. Was heißt das in einem Land, in dem Antisemiten jeder politischen Richtung als »Israel-Kritiker« Achtung genießen, solange sie nicht den Fehler der gesetzlich verbotenen Holocaustleugnung begehen? Was heißt das in einem Land, dessen höchste Repräsentanten erklären »Der Islam gehört zu Deutschland«, wenn Tage zuvor in einem Nachbarland Islamisten ein antisemitisches Massaker verübt haben?

Gehen wir noch einmal zurück zu den vom Spiegel erzählten 8. Mai-Geschichten. Zwei Personen aus dieser bizarren Sammlung wurden bisher noch nicht erwähnt, zwei Selbstmörder. Der eine war als hoher Militär ein Unterhändler zwischen deutschen und US-Truppen und schluckte lieber Zyankali, als sich den peinlichen Fragen der Sieger zu stellen. Der andere war der interessantere Fall, denn der Mann war nicht einmal NSDAP-Mitglied, nur Lehrer und gewöhnlicher Deutscher. Kurz vor Einmarsch der Roten Armee in seinen vorpommerischen Heimatort erschoss er seine drei Kinder, seine Ehefrau und sich selbst. Die Geschichte dieses Endes ist dem kürzlich im Berlin Verlag erschienenen Buch des Journalisten Florian Huber »Kind, versprich mir, dass du dich erschießt« entnommen, eine der wenigen erkenntnisfördernden Publikationen zum diesjährigen 8. Mai. Der Autor beschreibt und untersucht darin die außergewöhnliche Selbstmordwelle unter Deutschen kurz vor Ende des Kriegs, die sich mancherorts als Massenselbstmord gestaltete und der insgesamt an die 100 000 zum Opfer fielen. »Nach dem Verlöschen von Führer und Reich«, so Huber, »fürchteten sie in die Leere zu versinken. Das Nichts wurde fühlbar. Die moralischen, gesellschaftlichen und quasireligiösen Normen, die die Volksgemeinschaft ausgemacht hatten, brachen zusammen.«
Die NS-Gesellschaft erscheint so mit Recht als gigantische Selbstmordsekte. Deren zunächst ideologische Volksgemeinschaft hatte sich durch den von der Mehrheit aller sozialen Segmente unterstützten Mord an den europäischen Juden in eine reale transformiert. Nach deren politischem Ende, für das heute der 8. Mai steht, mussten Erfahrungen von »Leere« und »Nichts« zwangsläufig folgen. »Trauma« nennt man so etwas nicht nur im wohlfeilen deutschen Neusprech. Die gegenwärtig in Deutschland grassierende »Israel-Kritik« und die mehrheitliche Islamophilie können als Versuche von Traumabewältigung, als fatale Anstrengungen, den faktischen Untergang Nazideutschlands nicht akzeptieren zu müssen, gedeutet werden.
Sowohl verständlich als auch »fast ein Wunder« ist es da schon, dass der junge Lufthansa-Copilot Andreas Lubitsch bisher nicht als erster deutscher Selbstmordattentäter anerkannt wird, der möglicherweise weder über Korankenntnisse noch über die richtige Aussprache von »Allahu akbar« verfügte.