Der neue Dokumentarfilm des Österreichers Nikolaus Geyrhalter

Was das Leben bringt

Der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter zeigt Orte und
Menschen, für die sich sonst niemand interessiert.

Die ersten Bilder der Filme »Über die Jahre« und »Unser täglich Brot« trennt gerade einmal ein Jahr, dazwischen aber liegen Welten. Wie so viele Filme von Nikolaus Geyrhalter dokumentieren auch diese beiden die Arbeit von Menschen und Maschinen, doch während die klinisch-surrealen Aufnahmen von Schlachthöfen, Legebatterien und Monokulturen in »Unser täglich Brot« (2005) bisweilen wie Science Fiction wirken, glaubt man sich in »Über die Jahre« (2015) eher in die siebziger Jahre zurückversetzt. 2004 hat Geyrhalter zum ersten Mal in der Textilfabrik im österreichischen Waldviertel nahe der tschechischen Grenze gefilmt. Von ehemals 250 Arbeiterinnen und Arbeiter waren zum damaligen Zeitpunkt nur noch wenige dort beschäftigt. Verloren stehen sie in den viel zu großen Fabrikhallen an veralteten Maschinen, eine Angestellte verpackt Stoffwindeln sorgfältig in Plastikfolie, in einem der computerfreien Büroräume sitzt ein Buchhalter mit Stift und Lineal über seiner akkuraten Papierwirtschaft. Trotz einer gewissen Schrulligkeit sind diese Beobachtungen eines von der post-industriellen Gesellschaft unberührten Handwerks frei von Nostalgie. Vielmehr zeigt sich, wie sehr sich der allmähliche Niedergang der Fabrik in die Körper, Gesten und die Sprache der Beschäftigten eingeschrieben hat. Von Entschleunigung mag man bei diesem fortschreitenden Versteinerungsprozess jedenfalls nicht sprechen. Fast hat man den Eindruck, dass die Bilder mit den Maschinen und Menschen sogleich zum Erliegen kommen. Beim nächsten Besuch des Filmemachers ist die Anderlfabrik in Schrems geschlossen, der Betrieb hat Konkurs angemeldet.
Über einen Zeitraum von zehn Jahren hat der österreichische Dokumentarist Nikolaus Geyrhalter einige der Arbeiterinnen und Arbeiter immer wieder aufgesucht und mit der Kamera begleitet. Manche Biographien geraten in Bewegung, schlagen neue Richtungen ein, bei anderen scheinen sich Unbeweglichkeit und Verdruss eher zu verfestigen. Der Buchhalter, der pflichtgemäß die Besuche beim Arbeitsamt absitzt, aber nie wieder in den regulären Arbeitsmarkt zurückkehrt, findet etwa in der Katalogisierung seiner umfassenden Schlagersammlung eine erfüllende Aufgabe. Eine ehemalige Büroangestellte reichert ihren Lebenslauf dagegen mit immer neuen Berufsfeldern an und vermag sich mit jedem neuen Gegenstand zu identifizieren, egal ob es sich dabei um Tupperware oder Pflastersteine handelt. Der anfangs – auch ästhetisch – sorgfältig aufgezogene Rahmen des Films wird im Laufe der Langzeitbeobachtung buchstäblich geöffnet. Die präzise kadrierten zentralperspektivischen Tableaus, die seit dem Debütfilm »Angeschwemmt« (1994) als die filmkünstlerische Signatur von Geyerhalter gelten, weichen einer bewegten Kamera. »Über die Jahre« entwickelt sich vom Porträt eines aussterbenden Indus­triezweigs zu einer grundlegenden Befragung des Arbeitsbegriffs unter ökonomischen Krisenbedingungen.
In Geyrhalters besten Arbeiten verbinden sich bildgestalterische Präzision mit größtmöglicher Offenheit und einem lebendigen Interesse für Orte und Menschen. Der 1972 geborene Österreicher zählt nicht zu den Thesenfilmern und Welterklärern unter den Dokumentaristen, die für das, was sie eh schon zu wissen glauben, nur noch die passenden Bilder suchen. Am Anfang seiner Filme stehen meist Orte, verbunden mit einem einschneidenden Ereignis und seinen Nachwirkungen. »Das Jahr nach Dayton« (1997) sammelt Beobachtungen im ersten Jahr nach dem dreieinhalbjährigen Krieg in Bosnien und Herzegowina, in »Pripyat« (1999) sucht Geyrhalter zwölf Jahre nach Tschernobyl die gleichnamige ukrainische Stadt im Epizentrum des Reaktorunfalls auf.
Geyrhalter hat immer die globale Geschichte im Blick, etwa wenn er sich ins Wiener Umland begibt oder Enklaven in Grönland und Nordindien aufsucht. Für »Else­where« (2001), einen vierstündigen Film in zwölf »Kapiteln«, reiste er ein ganzes Jahr lang an entlegene Orte der Welt. Schon in seiner auf körnigem 16mm-Schwarz-Weiß-Material gedrehten Donau-Studie, die er im Alter von 22 Jahren als Autodidakt realisierte, geht die Perspektive über die regionalen Grenzen hinaus und erfasst größere Zusammenhänge. »Angeschwemmt« ist ein Porträt des Flussufers und seiner Bewohner. Josef Fuchs, Wärter am Friedhof der Namenlosen, erzählt von 50 herausgefischten Donau-Leichen, vom Alltag mit dem Tod und von Grabschändungen durch Gruftis. Ein passionierter Fischer grantelt gegen den geplanten Nationalpark und die »Leck mi do am Oasch«-Haltung der Wiener Schnösel. Ein rumänisches Ehepaar lebt schon seit 53 Jahren auf einem Frachtschiff, das Zement transportiert. Die Frau, eine ehemalige Matrosin, zeigt dem Filmemacher, wie sie wohnt; »ein Leben in diesem Blech« nennt sie es.
Geyrhalters Aufmerksamkeit gilt dem Besonderen von Orten und Lebensräumen. Tatsächlich sind seine Filme präzise Raumerkundungen. Die Kamera, die Geyrhalter stets selbst führt, folgt den Menschen auf ihrem Weg von einem Ort zum anderen; dabei wahrt sie immer einen gewissen Abstand, nie schmeißt sie sich authentizitätsheischend an die Protagonisten heran. Vielmehr wird der Aufführungscharakter von Interviews unterstrichen und die Kadrage erscheint mitunter wie eine Bühne. In »Pripyat« lässt sich Geyrhalter von einer Laborantin minutenlang den Weg zu ihrer ehemaligen Wohnung in der kontaminierten Zone führen, sie bahnen sich einen Pfad durch dichtes Gestrüpp, vorbei an verfallenen und ausgeweideten Häusern, quer über ein verwaistes Gelände, das einst ein belebter Schulhof war. Erst durch das Erleben von Zeit entfalten die Geisterorte in »Pripyat« ihre nachhaltige Präsenz.
Die Anwesenheit des Regisseurs, die trotz des Verzichts auf Off-Kommentare und dramaturgische Zurichtungen wie Musik oder dynamisierende Montagen in den frühen Arbeiten deutlich spürbar ist, zersetzt sich mit der Zeit immer mehr und auch die Menschen werden zunehmend ungreifbar, wenn sie nicht ganz verschwinden. In »Unser täglich Brot« und »Abendland« (2011) scheint sich Geyrhalter ganz auf die Position des distanzierten, unbeteiligten Beobachters zurückzuziehen. Diese Filme sind ungemütlich. »Abendland« ist eine Aneinanderreihung frostiger Bilder aus verschiedenen Orten Europas: Überwachungstechnologien an Grenzzäunen, eine Sitzung im Europäischen Parlament und ihr vielsprachiger Dolmetscherchor, die ärztliche Betreuung von Bierleichen auf dem Oktoberfest. Die Mechanik und Anonymität der Abläufe greift dabei auch auf die Bilder über, die Geometrie der Einstellungen wird zum vordergründigen Element. »Über die Jahre« markiert insofern nicht nur eine Rückkehr zu den Menschen, sondern auch eine in den filmischen Rahmen selbst. Manchmal hört man Geyrhalter aus dem Hintergrund fragen: »Seit wann haben Sie denn einen Computer, Herr Semper?« Auch die Interviewten, deren Auftreten vor der Kamera immer selbstverständlicher wird, adressieren ihn mitunter direkt. »Über die Jahre« ist nicht zuletzt das Dokument einer Langzeitbeziehung.

Werkschau Nikolaus Geyrhalter. Kino Arsenal Berlin. Vom 8. bis 20. Mai. Gezeigt werden acht Kinodokumentarfilme aus den Jahren 1994 bis 2015. Am Eröffnungswochenende werden der Filmemacher und sein Schnittmeister und Koautor Wolfgang Widerhofer zu Gast sein. In einem Werkstattgespräch am 10. Mai geben die beiden Einblicke in ihre Arbeitsweise.