In Baltimore provozierten Polizisten die Ausschreitungen

Baltimore in Flammen

In der US-amerikanischen Linken fallen die Reaktionen auf die Ereignisse der vergangenen Wochen in Baltimore sehr unterschiedlich aus. Jenseits der blinden Identifikation mit den Riots und einer linksliberalen Kritik an »weißen Privilegien« fehlt ein Ansatz, der die sozioökonomische Dimension der Proteste mit Kapitalismuskritik verbindet.

Freddie Gray lebte in West-Baltimore, einem mehrheitlich von armen Schwarzen bewohnten Viertel, wie es in den Vereinigten Staaten viele gibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien dank des Wachstums der Industrie einerseits, der Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegungen andererseits ein Bruch mit der alten Rassenunterdrückung denkbar, die seit ihren Anfängen in der Sklaverei auf der Spaltung zwischen schwarzer unfreier Arbeit und weißer freier Lohnarbeit beruhte und sich in der Segregation fortgesetzt hatte. Doch dieser Bruch führte nicht zu einer Befreiung vom Rassismus.
Kapitalflucht und Deindustrialisierung brachen das Nachkriegsarrangement zwischen Kapital und Arbeit auf, das auf Produktivitäts- und Lohnzuwächsen fußte, mit dem Ergebnis, dass der Zugang zu entlohnter Arbeit allgemein prekär wurde. Zusammen mit der Flucht von Weißen in die Vororte bedeutete dies, dass Produktion und besteuerbares Einkommen aus den Städten verschwanden. Diese doppelte Bewegung setzte die Rassentrennung auf einer neuen Basis wieder in Kraft: Schwarze wurden Nicht-Arbeiter mit höchst ungewisser Aussicht auf Lohnarbeit sowie Einwohner deindustrialisierter, verarmter Städte. Als sich diese Zustände von den späten sechziger bis in die nuller Jahre ausbreiteten, erlebte die auf Drogenhandel und Sexgewerbe beruhende Schattenwirtschaft ein exponentielles Wachstum, auf das der Staat mit der Militarisierung der Polizei und zunehmender Inhaftierung von Schwarzen antwortete. Die in manchen Städten in den Achtzigern, in Baltimore erst in den nuller Jahren einsetzende Gentrifizierung vertiefte diese Spaltung noch und bot die Rechtfertigung für ein immer stärker militarisiertes Vorgehen der Polizei.
Die Polizei tat somit nichts Neues, als sie Freddie Gray verhaftete, weil er vor einer Streife weglief, ihm bei der Festnahme die Gliedmaßen verbog, auf dem Transport zur Wache die Wirbelsäule brach und im Festnahmeprotokoll log. Der Mord an Freddie Gray reiht sich in eine lange Reihe solcher Fälle ein. Die gemeinnützige Journalistenorganisation ProPublica kam auf der Grundlage von Daten aus den Jahren 2010 bis 2012 zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei getötet zu werden, bei jungen schwarzen Männern im Alter von 15 bis 19 etwa 21mal so hoch ist wie bei ihren weißen Altersgenossen. Diese Zahlen sind schlimm genug, aber sie basieren auf noch sehr lückenhaften Daten.

Seit Grays Tod am 19. April haben jeden Tag Demonstrationen mit Hunderten und später Tausenden Teilnehmern aus den unterschiedlichsten Milieus stattgefunden. Am 25. April wuchsen sie unterschiedlichen Schätzungen zufolge auf 1 200 bis 5 000 Menschen an. Am selben Tag kam es vor dem Baseballstadion, in dem gerade die Baltimore Orioles spielten, abends erstmals zu Gewalt. Einige entschlossene Demonstranten trafen auf betrunkene weiße Baseballfans, die sie rassistisch provozierten, und auf Polizisten, die nur zu gern beim kleinsten Anlass in die Menge preschten und Leute festnahmen. Die Berichterstattung der Mainstreammedien konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Gewalt der Demonstranten, die kaum mehr getan hatten, als ein paar Scheiben einzuwerfen und einen 7-Eleven-Shop zu plündern. Festgenommene gaben dagegen später an, sie seien in ihren Zellen von Beamten mit Pfefferspray traktiert worden.
Obwohl sie zum Brennpunkt der Ereignisse wurden, hatten die Riots am Montag, den 27. April, nur indirekt mit den Protesten zu tun – de facto war es die Polizei, die die Voraussetzungen dafür schuf. Als Reaktion auf einen durch diverse Social-Media-Kanäle kursierenden Aufruf, sich zu einer mutmaßlich gewaltsamen Aktion in der Mondaw­min Mall zu versammeln, einem ärmlichen Einkaufszentrum unweit des Ortes, wo Freddie Gray gelebt hatte und zu Tode gekommen war, wurde die Mall geschlossen. Den Schülern der gegenüberliegenden Frederick Douglass High School wurde vorzeitig frei gegeben. Viele Schüler sagten ihren Lehrern, sie wollten die Gegend verlassen, bevor etwas Schlimmes passiere. Die Polizei ließ dies jedoch nicht zu: Sie leitete Busse auf dem Weg zur Schule um und zwang Schüler, aus den Bussen auszusteigen. Faktisch zwang sie die Schüler, dort zu bleiben, wo sie sich 200 bis 300 Beamten in Kampfmontur gegenübersahen, die auf sie zumarschierten.
Nachdem sich beträchtliche Spannungen aufgebaut hatten, begannen Schüler, die Polizisten, die sie in eine Ecke gedrängt hatten, mit Steinen zu bewerfen. Als der Damm einmal gebrochen war, entlud sich die aufgestaute Wut in Straßenschlachten, die bis weit in die Nacht andauerten. Mehr als ein Dutzend Polizisten wurde verletzt und rund 200 Menschen wurden festgenommen. Etwa 15 Gebäude wurden in Brand gesetzt und es kam auch zu Plünderungen, allerdings nicht in dem Ausmaß, welches man angesichts der vielen Geschäfte in der Gegend hätte erwarten können.

Die Rolle der Polizei bei diesem Riot wurde allerdings nicht öffentlich thematisiert – und vom demokratischen Präsidenten Barack Obama über ultrarechte Bloggern bis hin zu Baltimores Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake, ebenfalls eine Demokratin, war zu vernehmen, wie furchtbar es sei, dass diese thugs (»Schläger«) Sachschaden anrichteten und Polizisten verletzten. Dass die Polizei Freddie Gray getötet hatte, nahmen sie kaum zur Kenntnis. Stattdessen hieß es, die Proteste müssten friedlich sein. Sie unterstellten, dass die an den Demonstrationen und den Ausschreitungen beteiligten Personen dieselben seien, und diskreditierten damit den Widerstand. Schwarze haben offenbar kein Recht auf Wut über Polizeigewalt, institutionalisierte Armut und Diskriminierung, weil »sie« eine Drogerie abgefackelt haben.
Genauso unbefriedigend blieb allerdings häufig die Verteidigung der Demonstrationen und Riots. Einige der zum Anarchismus neigenden Linken erlagen den spektakulären Bildern der Gewalt und deuteten die Riots unkritisch als einen unverfälschten Widerstand, wobei sie die Zerstörung in den Vierteln »dieser Leute«, da sie ja ohnehin »nichts haben«, feierten – eine Ansicht, die viele Bewohner der von den Riots betroffenen Gegenden keineswegs teilen. Fortschrittlichere Lokalpolitiker erkannten zwar eine wichtige »sozioökonomische Dimension« in den Protesten und Ausschreitungen. Da sie diese Dimension jedoch nicht als wesentlich zum Kapital gehörend verstehen, können sie auch nicht erklären, warum sie offenbar nicht verschwindet. Die traditionelle Linke rief zu »Arbeitersolidarität« auf, dem Gedanken folgend, dass das »Rassenproblem« in Wirklichkeit nur ein Klassenproblem sei, und zeigte sich somit wie gewohnt unfähig, die irreduzible Spezifik des Rassismus zu begreifen. Die Linksliberalen schließlich, das größte Milieu, vertreten eine Kritik »weißer Privilegien« und befinden sich damit auf der Linie des Black Nationalism, der den »Rassenunterschied« hypostasiert. Eine solche Politik stößt einerseits eine breite Schicht der weißen Arbeiterklasse vor den Kopf, die sich im Zeitalter der allgemeinen Prekarisierung der Arbeit keineswegs privilegiert fühlt, während sie andererseits dem Opportunismus der schwarzen Mittelschicht Deckung bietet, der an die Stelle radikaler Kritik die Gefolgsamkeit gegenüber den »Führungspersönlichkeiten« der »Community« setzt. Sie entwaffnet eine radikale Kritik an der Politik des Ressentiments, an einer Selbststilisierung von Weißen zu Opfern, die häufig unter denjenigen am stärksten verbreitet ist, die für die Nähe zu Schwarzen am ehesten wirtschaftlich und sozial bestraft werden.
Ein Beispiel: Weil Immobilienmakler Eigentumswerte nach unten korrigieren, wenn Schwarze in die Gegend ziehen, sehen arme Weiße, die sich ein bescheidenes Wohneigentum zusammengespart haben, das Problem in den Schwarzen und nicht in einem rassistischen Kapitalismus, der viel schwerer anzugreifen ist.

Am Montag vergangener Woche wurde der Ausnahmezustand verhängt und die Nationalgarde vom Gouverneur nach Baltimore entsandt, um der Polizei bei der Aufrechterhaltung der »Ordnung« zu helfen, also einer Ordnung, in der Armut, staatlich sanktionierter Mord und der übliche Gang der Dinge einfach hingenommen werden. Das brachte zwar den Tourismus und das Geschäftsleben in der Innenstadt vollständig zum Erliegen, nicht aber die Proteste.
Obwohl die Polizei einige Gegenden blockierte, um sie vom Rest der Stadt abzuschneiden, kamen Hunderte von Leuten aus ganz Baltimore, um in den von den Riots betroffenen Vierteln beim Aufräumen zu helfen. Eltern brachten ihre Kinder mit, um mit ihnen über die Ereignisse und ihre Ursachen zu sprechen. Gangs vereinbarten einen Waffenstillstand, aber nicht, wie von der Polizeibehörde behauptet, um besser Polizisten umbringen zu können, sondern um die Stadt zu stabilisieren. Es zeigte sich auch, dass vor allem diese Anwesenden aus anderen Stadtteilen die Polizei hinderten, erneute Ausschreitungen zu provozieren, denn in anderen Gegenden setzte sie offenbar ohne nennenswerten Anlass Pfefferspray ein.
Die Solidaritätsdemonstrationen in Seattle, New York, Chicago und anderen Städten waren ermutigend, aber man sollte sie nicht bloß als Akte der Solidarität sehen. Es sind Akte des Widerstands, denn Staten Island ist Ferguson ist Baltimore ist Amerika. Die Polizei ist gegen diese Demonstrationen brutaler als üblich vorgegangen und die Zahl der Festnahmen war ebenfalls höher als sonst.

Das ohne Zweifel überraschendste Ergebnis war, dass am 1. Mai tatsächlich Anklage gegen die sechs am Tod von Freddie Gray beteiligten Beamten erhoben wurde. Ohne den anhaltenden Druck, den Menschen in Baltimore und im vergangenen Jahr quer durchs Land ausgeübt ­haben, wäre es dazu vermutlich nicht gekommen.
Infolgedessen fiel die 1. Mai-Demonstration in Baltimore überraschend groß aus – auf dem Höhepunkt nahmen schätzungsweise 4 000 Menschen teil – und wurde sehr positiv aufgenommen. Umgeben von schwer bewaffneten Einheiten der Polizei und Nationalgarde sowie gepanzerten Militärfahrzeugen versammelte sich die Demonstration in der Innenstadt, lief in das Viertel Penn/North in der Nähe der Modawmin Mall, in dem die Riots hauptsächlich stattgefunden hatten, und wieder zurück. Auf dem Weg dorthin bekam sie viel Zuspruch, aber die wirklich ergreifenden Szenen spielten sich ab, als sie das Viertel erreichte. Mehrere Hundert Menschen blockierten dort bereits die Straßen mit ihren Autos, die ebenso wie die Häuserwände mit Slogans wie »Justice for Freddie Gray« und »No Racist Police« versehen waren, aber niemand hatte vorher gewusst, dass sich diese zwei Demonstrationen verbinden würden. Es gab Jubelrufe auf beiden Seiten, die Leute stiegen aus ihren Autos aus, um die Demonstranten zu umarmen, hupten als Zeichen ihrer Unterstützung, fotografierten sich zusammen und demonstrierten gemeinsam. Kinder, die höchstens sechs oder sieben Jahre alt waren, standen auf den Autos, reckten die Fäuste und grüßten die vorbeiziehenden Demonstranten. Als sie an einem Wohnblock vorbeikamen, lehnte sich eine junge Schwarze mit einem Schild aus dem Fenster: »Fuck the curfew (Ausgangssperre), it’s my birthday«. Ein paar hundert Leute sangen »Happy Birthday« für sie.
Am Tag darauf zog eine ähnliche Demonstration in das Viertel, blieb diesmal aber für ein Straßenfest dort. Beim Tanzen und Feiern verschwanden die Barrieren, die die Leute normalerweise voneinander trennen. Das sollte den Mächtigen viel größere Angst bereiten als die Riots, die vor allem eine Sache von Männern, von Erwachsenen waren. Als um zehn Uhr abends die Ausgangssperre einsetzte, wurde sie in mehreren Stadtteilen offen missachtet. In Hamden, einer überwiegend weißen und in rapider Gentrifizierung begriffenen Gegend, bat die Polizei die Leute höflich, nach Hause zu gehen, und verhaftete niemanden, der dem nicht Folge leistete. In besagtem Viertel ging sie aggressiver vor und nahm rund 20 Menschen fest, obwohl – oder gerade weil – sich dort etwas abspielte, das ein Bekannter folgendermaßen beschrieb: »Eine einzige große Party, ein Festival, das die Anklage der sechs Cops feierte.« Fernab von »revolutionärem Heroismus« lag darin das Versprechen einer anderen Zukunft. Vielleicht hatte die Polizei zu Recht Angst.

Aus dem Amerikanischen von Felix Kurz.