Korruption in Guatemala

Guatemaltekischer Frühling

In Guatemala wurde ein Korruptionsnetz aufgedeckt, das bis in die Regierungsspitze reicht. Proteste erzwangen bereits den Rücktritt der Vizepräsidentin. Auch in anderen Ländern der Region begehrt die ­Bevölkerung auf.

Am 16. April ließ die UN-Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (CICIG) unisono mit der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft die Bombe platzen: Eine kriminelle Struktur veruntreue in großem Stil Staatsgelder aus der Zollbehörde. Zahlreiche Festnahmen folgten. Guatemalas Vizepräsidentin Roxana Baldetti ermöglichte ihrem Privatsekretär Juan Carlos Monzón bei einem gemeinsamen Staatsbesuch in Südkorea die Flucht nach Honduras, um dessen Verhaftung zu vermeiden. Allen voran legte die kritische Tageszeitung El Periódico die Vorgänge offen und über Facebook organisierten sich Zehntausende Menschen, um ihre Wut über die korrupte Regierung auf die Straße zu tragen.
Der politische Druck hatte Erfolg. Präsident Otto Pérez Molina verkündete Anfang Mai Baldettis freiwilligen Rücktritt, mit dem sie einem Amtsenthebungsverfahren durch Parlament und Obersten Gerichtshof zuvorkam. Die Freude in der neuen Demokratiebewegung war groß, trotz des Wissens, dass Baldetti das Bauernopfer einer korrupten Regierung ist. Das Motto der Proteste wandelte sich in: »Jetzt holen wir uns den Völkermörder«. Gemeint ist Pérez Molina, dessen maßgebliche Beteiligung am Genozid an der Mayabevölkerung Anfang der achtziger Jahre während des Bürgerkriegs bislang ungesühnt ist.
»Die Menschen werden sich ihrer Macht bewusst«, sagt Alba Lucía Morales begeistert, eine Demonstrantin, die als Expertin für öffentliche Gesundheit für eine internationale Organisation arbeitet. Dies sei wirklich ein politisches Frühlingserwachen. So füllten auch am Samstag Demonstrierende in Guatemala-Stadt erneut den zentralen Platz der Verfassung und richteten sich für eine nächtliche Mahnwache vor dem Nationalpalast ein. In ihrer Empörung authentisch sei die neue Bewegung, die weder politische Vor­reiter noch Ideologien kenne, so Morales. »Der Spontaneität geschuldet, sind die Plakate vor ­allem handgemalt – und so vielfältig wie einfallsreich in ihren Aussagen.« Die sozialen Medien, die die Bewegung zusammengebracht haben, spiegeln sich in ihnen wieder: Hashtags und Meme zieren die Plakate. Nicht nur in der Hauptstadt herrscht mittlerweile Aufbruchstimmung. »Wie eine friedliche Demonstration ein gewalttätiges Land verändert«, titelte BBC.

Währenddessen haben CICIG und Staatsanwaltschaft schon den nächsten Korruptionsskandal aufgedeckt. Die Regierung der rechten Patriotischen Partei (PP) steckt in der Krise. Und auch hinter den Kulissen tut sich etwas. Die Minister für Inneres, Bergbau und Energie sowie der Geheimdienstchef traten vor zwei Wochen zurück. Mutmaßungen zufolge könnte die Aussage der Drogenkartellchefin Marllory Chacón, auch bekannt als »Reina del Sur« (Königin des Südens), die sich freiwillig der US-Drogenbehörde DEA gestellt hatte, etwas damit zu tun haben.
Ein anderer Drogenboss, der Vorsitzende der Mitte-rechts-Partei Lider, versucht derweil, die Gunst der Stunde für sich zu nutzen. »Er ist dran«, lautet der Slogan Manuel Baldizóns, des Verlierers der Stichwahl um die guatemaltekische Präsidentschaft vom November 2011. Kritische Stimmen im Land fürchteten damals seine Präsidentschaft noch mehr als die des Hardliners Pérez Molina. Denn Baldizón gilt als einflussreichster Mann im nördlichen Bundesstaat Petén, durch dessen ausgedehntes Regenwaldgebiet die Drogenroute von Honduras nach Mexiko verläuft. Während Pérez Molinas Verbindungen zum Drogenhandel verborgen sind, liegen die von Baldizón klar auf der Hand. Nun brüstet sich »Maldizón«, wie er oft genannt wird wegen der phone­tischen Nähe zu maldición (Fluch), damit, mit seiner Partei genauso viele Personen wie die neue Demokratiebewegung auf die Straße zu bringen. »Seine Massenaufläufe zeugen von ebenjener politischen Farce, die die Menschen in Guatemala so satt haben«, urteilt Elder Mauricio Solis, ein Musiklehrer und Cellist. Er verfolgt die Proteste von Mexiko aus über die sozialen Medien. Wie so viele seiner Landsleute haben ihn die fehlenden Chancen im eigenen Land in die Emigration getrieben. »›Es gibt Pollo Campero‹, stand unter dem Demonstrationsaufruf Baldizóns auf Facebook«, berichtet Solis – Hähnchen aus Guatemalas beliebtester Fastfoodkette. »Hier versammeln sich keine überzeugten Parteigänger, sondern einfache Leute in der Hoffnung auf ein warmes Mittagessen.«

Um einen demokratischen Neuanfang geht es in den Diskussionszirkeln in Guatemala-Stadt. Etwa im Kulturzentrum Casa Roja, wo eine junge Generation nicht mehr nur Punkkonzerte, lesbisches Kino und Kunstausstellungen besucht, sondern auch über das politische System diskutiert. Pérez Molina, dessen Rücktritt gefordert wird, muss sein Amt im Januar 2016 ohnehin niederlegen, die Präsidentschaftswahlen sind für diesen September angesetzt. Viele merken an, wie wichtig es sei, bis dahin Reformen durchzusetzen – vor allem ein Gesetz über Wahlkampfspenden und eine Grenze für Kampagnenausgaben, um den Drogenhandel als Finanzier aus der Politik herauszuhalten. Es verspricht, ein heißer Herbst zu werden, mit einer Zivilgesellschaft, die nicht mehr mitmachen will beim alten Spiel der Mächtigen.
Die Frage nach wirklicher demokratischer Repräsentation stellt sich in der gesamten Region. Viele Politiker und Parteien sehen Wählerinnen und Wähler als willenlose Schäfchen und zeichnen sich vor allem durch schamlosen Raub am Staatshaushalt aus. Präsidenten nutzen ihre Amtszeit zur Absicherung eines luxuriösen Lebens über deren Ende hinaus. Doch eine wachsende Mittelschicht ist nicht mehr gewillt, korrupte autokratische Politiker gewähren zu lassen.
So ist fast gleichzeitig zum politischen Frühling in Guatemala ein Korruptionsskandal in Honduras aufgeflogen. Dort hat Präsident Juan Orlando Hernández Geld aus den staatlichen Sozialversicherungsfonds abgezweigt. Auch in Honduras gibt es Demonstrationen, aber im Vergleich zum Nachbarland sind keine Massen auf der Straße. Denn investigative Journalisten werden umgebracht und ihre Arbeit durch Gesetzesreformen kriminalisiert. Vor allem aber sind die Menschen dort müde. Nach dem Putsch 2009 wurde über Monate hinweg der friedliche Widerstand auf der Straße gewaltsam niedergeschlagen. Vor drei Jahren wurde die anstehende demokratische Machtübernahme der Opposition durch die Ermordung von Kandidaten, Repression durch die Militärpolizei, Stimmenkauf, Wahlbetrug und eine Gleichschaltung von Wahlbehörde und Oberstem Gerichtshof mit der Regierungspartei PN vereitelt.

Auch in Mexiko fordern unzählige Menschen den Rücktritt des dortigen Präsidenten Enrique Peña Nieto. Seine Regierung ist nicht nur mitverantwortlich für die Verschleppung der 43 Studenten von Ayotzinapa, sondern möglicher­weise auch für das Verschwindenlassen von über 9 000 weiteren Menschen im Land seit 2013. Die Lokalisierung und Exhumierung von Massengräbern steht aus; Ermittlungen werden systematisch vereitelt. Neben der offensichtlichen Verstrickung staatlicher Institutionen auf allen Ebenen in den Drogenhandel sorgt bei vielen Menschen in Mexiko auch die mutmaßliche Veruntreuung von Steuergeldern durch den Präsidenten und seine Familie für Empörung. In einem Außenbezirk von Mexiko-Stadt soll sich Peña Nietos Ehefrau Angélica Rivera so ein Luxusanwesen gebaut haben. Es wird vermutet, dass der Rauswurf der Journalistin Carmen Aristegui beim wohl einflussreichsten mexikanischen Investigativmagazin des privaten Rundfunksenders MVS damit zusammenhängt, dass sie weitere Berichte über das Thema plante.