Nachruf auf Harry Rowohlt

Die Unsterblichkeit soll sich gehackt legen

Was jetzt hilft: Harry Rowohlt lesen, hören, zitieren.

Nicht nur Harry Rowohlt selbst hielt sich für unsterblich, weil er, wie er sagte, sich mit der Zeit zu sehr ans Leben gewöhnt habe – auch viele andere konnten und wollten sich einen Abgang dieses Mannes partout nicht vorstellen. Rowohlt war einfach eine singuläre Eminenz von Beliebtheit und Eleganz, Witz und Scharfsinn. Er schien als begnadeter Trinker und Raucher bis fast zum Schluss gänzlich unbeschattet von den Schattenseiten des Hedonismus seine bemerkenswerte Bahn zu ziehen. Und er war vor allem als Typ ein Typ. Egal ob er (egal war’s nicht, niemals, aber das ist jetzt die erste Klammer von vielen, denn Harry Rowohlt war der Klammervirtuose vor dem Herrn, und wenn man über Harry Rowohlt spricht, dann lässt man am besten Harry Rowohlt selbst zu Wort kommen, und dann am besten in Klammern), also gar nicht egal, aber ganz gleich, ob er Hörbücher einlas (ungezählte, von »Puh der Bär« bis »Marx & Engels intim«), ob er als Vorleser auftrat (»Schausaufen mit Betonung« nannte er es, mit einer Flasche Whisky ging’s öfter über fünf Stunden) (Klammer wieder auf, das Publikum, sagte er, habe »ein Anrecht darauf mitzuerleben, wie der Referent sich zugrunde richtet«) (dritte Klammer: Manche empfanden die Lesungen als »Geiselhaft«, weil sie von ihrem eigenen Vergnügen daran gehindert wurden, nach Hause zu gehen), oder ob er als Kleindarsteller im Fernsehen auftauchte (ausgerechnet in der »Lindenstraße«, ausgerechnet als »Obdachloser Harry«) – was Rowohlt tat, hatte Klasse. Gelegentlich schrieb er, seit den neunziger Jahren, seine überaus komische Kolumne für die Wochenzeitung Die Zeit, »Pooh’s Corner«, und es soll Leute geben, die heute noch verzweifelt die aktuelle Ausgabe durchblättern in der Hoffnung, dort irgendeinen Text von ihm zu entdecken, und sei er noch so klein und nebenbei.
Im Hauptberuf aber war er, der seine Anteile am Verlagserbe früh abstieß (»Ich bin ja schon froh, dass ich nicht Kiepenheuer und Witsch heiße. Wenn Sie was vom Rowohlt-Verlag wollen, wenden Sie sich an den Rowohlt-Verlag und nicht an mich. Weitersagen!«), weil er erstens seinen Vater Ernst Rowohlt wenig schätzte (der, seinem Sohn, also Harry, zufolge die seltene Eigenschaft besessen habe, überhaupt nichts zu können) und weil er zweitens auch das Verlagsgeschäft wenig anziehend fand (Freiheit, sagte er, sei, wenn man morgens aufwache und sich frage, was man heute tun könne, und Zwang sei, wenn man aufwache und es wisse) – im Hauptberuf war er Übersetzer. Er erfand, wenn nötig, dafür ein eigenes Deutsch, manche seiner Wortschöpfungen sind in den Sprachgebrauch eingegangen wie das schöne »reinfenstern« zum Beispiel oder »verfatz dich«. Weit über 150 Bücher übertrug er aus dem Englischen ins Deutsche, gern und mit Obsession die sogenannten Unübersetzbaren und praktisch im Alleingang die Oberliga der schrägen Sonderlinge der anglo-irisch-amerikanischen Popkultur von Robert Crumb über Flann O’ Brien bis zu Kurt Vonnegut. Harry Rowohlt, das kann ganz nüchtern festgehalten werden, ist seit Martin Luther der bedeutendste Übersetzer der Neuzeit. (Aber, leider, muss ebenfalls nüchtern erkannt werden, war Rowohlt eben nicht annähernd unsterblich. Neuntausend Jahre hätte er, hat er einmal ausgerechnet, alt werden müssen, um die Übersetzungsaufträge, die er hatte, erfüllen zu können.)
Mit seinem Marx-Engels-Bart, John-Lennon-Brille und Jeansjacke hatte er eine überzeitliche Uniform gefunden, die seltsamerweise nie albern wirkte, sondern gültig – beziehungsweise in seinen Worten: »Wenn man als junger Mensch so aussah wie ein Hippie und sich einigermaßen selbst treu geblieben ist, sieht man als alter Sack aus wie ein Penner und nicht wie Joschka Fischer.« Er grüßte mit erhobener Faust und beendete Briefe mit »der Kampf geht weiter«, und das war immer lustig und gleichzeitig normal ernst gemeint. Rowohlt nämlich war Kommunist, und er war, die herzzerreißenden Nachrufe der deutschen Zeitungen, zum Teil sogar auf der Titelseite, belegen es, vielleicht der Kommunist der Nachkriegsgeschichte, der vom Volk am meisten geliebt wurde – außer von den Kommunisten, versteht sich. Es gibt von ihm eine hübsche Schilderung der »eisigen Rückkopplungen«, als er in den neunziger Jahren bei einer linken Demo in Hamburg für die Freiheit von Abu Jamal als Redner auftreten sollte. Und als er einmal im Telefoninterview, von einer linken Zeitung nach seinem Musikgeschmack befragt, »Country« antwortete und die Fragestellerin ihn zurechtwies: »Wir Kommunisten mögen keinen Kitsch«, sagte er: »WIR Kommunisten aber schon.«
Überhaupt die Fragen der Fragebögen, die ominösen von der FAZ, die von der Zeit oder vom Verlag. Rowohlts Antworten sind stets die eines komplett unabhängigen und zu den schönsten Albernheiten bereiten Kopfes. Seine Lieblingstugend? »Sagen, was man denkt. Und vorher was gedacht haben.« Lieblingsbeschäftigung? »Gitarre spielen. Obwohl ich das leider nicht kann.« Lieblingstier? Das hänge vom Individuum ab, er wolle hier keine Rasse bevorzugen, das sei Rassismus. Wer er wäre, wenn er drei Monate die Identität eines Philosophen annehmen könnte? »Sloterdijk wäre ich gerne, aber nicht drei Monate lang, sondern zweieinhalb Stunden, maximal. Das ist nämlich eine Gabe, die ich gern besäße: Sachen, die sowieso klar sind, richtig schön lang und unverständlich auszudrücken.«
Und so weiter, man will nicht aufhören, Harry Rowohlt zuzuhören, zu zitieren und zu lesen, und genau das ist es, was man jetzt tun sollte. Sein Werk ist vielleicht nicht so ausufernd, dass es für die ganze Unsterblichkeit reicht, die jetzt ohne ihn ansteht, aber wer im Archiv der Zeit online die Kolumnen nachlesen mag, hat schon einmal zwei Stunden, um die er von allen, die das aus irgendeinem Grund nicht tun können, beneidet werden wird. Daneben gibt es das Buch »In Schlucken-zwei-Spechte«, worin er mit Ralf Sotschek, dem Irland-Korrespondenten der Taz, über Kindheit und Jugend spricht (angeblich tranken sie nur Tee, aber das glaubt kein Mensch). Es gibt einen Band »Nicht weggeschmissene Briefe« von ihm (und man hofft natürlich sehr, dass die weggeschmissenen Briefe im Nachlass jetzt auch noch auftauchen, vielleicht sind da noch welche, die er mit der Redaktion der Schülerzeitung Das Nashorn wechselte. Die hatte bei Rowohlt 2004 angefragt, ob er für sie einen Vierzeiler von Doris Lessing übersetzen könne. Rowohlt maulte freundlich, eigentlich übersetze er keine Frauen, aber bei einem Vierzeiler wolle er sich nicht so anstellen.
»The rhinos nose is very big,/Youd think it is to root and dig./Ask him (if you must!) his view:/Come close: I’ll stick it into you« übersetzte er so: »Des Nashorns Nase ist nur groß zu haben,/Als müßt es mit ihr gründeln oder graben./Frag es (wenn du dich traust) nach ihrem Sinn:/Komm näher ran – dann steckt sie in dir drin.« Elf Tage später, »denn so lange dauert der Gedankengang Wieso-soll-ich-eigentlich-immer-nur-übersetzen-was-andere-Leute-geschrieben-haben meist«, schrieb er der Schülerzeitung einen eigenen Vierzeiler: »Auf wacht das Nashorn und hat plötzlich/Zwei Hörner – nein, wie unergötzlich:/Man fühlt sich nämlich mit den Dingern wie son/Bison!« Um noch den Satz hinterherzuschieben: »Von ganz besonderer Güte wäre es natürlich, wenn Doris Lessing das ins Englische übersetzen könnte.«
Und da sind natürlich, anders als bei seinem Übersetzerkollegen Martin Luther, Hörbücher, Sprechplatten und Lesungsmitschnitte, Hunderte, die jetzt noch einmal abgehört werden können, natürlich »Pu der Bär«, natürlich »Die schweinischsten Stellen aus dem Alten Testament«, natürlich Wenedikt Jerofejews »Die Reise nach Petuschki«, natürlich »Der Paganini der Abschweifung«, natürlich der »Weltquell des gelebten Wahnsinns«. Denn Harry Rowohlts Stimme, die von basslastigem Gebrumm und furiosem Gebrüll bis zur zartesten Säuselei alle Zwischentöne parat hatte, ist zum Glück für uns und seinem Tod zum Trotz (und, letzte Klammer, die Unsterblichkeit soll sich gehackt legen) noch lange nicht verstummt.