Die deutsche Reaktion auf die Wikileaks-Enthüllungen über die NSA

Guter BND, böse NSA

Deutsche Politiker und Medien geben sich entrüstet angesichts der Wikileaks-Enthüllung über die Kooperation von National Security Agency (NSA) und Bundesnachrichtendienst (BND) bei der Überwachung europäischer Rüstungskonzerne und Spitzenpolitiker.

Als am 2. Juli der NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages die übliche Sitzungszeit um mehr als zwei Stunden überzog, war das nicht seiner Empörung über eine Demütigung durch die Bundesregierung geschuldet. Eine solche hatten die Parlamentarier erfahren, als ihnen die Regierung die Einsicht in die sogenannte »Spähliste« verweigerte, in der Suchbegriffe aufgelistet sein sollen, nach denen NSA und BND gemeinsam europäische Unternehmen und Privatpersonen ausgeforscht hatten. Da nicht auszuschließen war, dass bei der Einsicht in diese Liste einzelne Ausschussmitglieder potentiell auch den eigenen Namen oder den politisch, geschäftlich und privat Verbandelter hätten finden können, hatte die Regierungskoalition eine pädagogische Lösung ersonnen. Die »Spähliste« sollte ausschließlich von einer Vertrauensperson in Gestalt des ausgemusterten Bundesverwaltungsrichters Kurt Graulich eingesehen werden. Dieser wurde damit betraut, wie ein geduldiger Klassenlehrer dem Ausschuss die Ergebnisse seiner Lektüre in einer nicht überfordernden Weise mitzuteilen – ­eigentlich ein Schlag ins Gesicht eines jeden von seiner Unabhängigkeit und Integrität überzeugten Parlamentariers.

Die freiwilligen Überstunden des NSA-Untersuchungsausschusses hatte jedoch eine Wikileaks-Enthüllung bewirkt. Agenten einer Spezialeinheit von NSA und CIA, des Special Collection Service (SCS), hatten offenbar über Jahre das Kanzleramt und verschiedene Ministerien abgehört. Im Untersuchungsausschuss musste das vor allem der als Zeuge geladene Günter Heiß ausbaden, der Leiter der Abteilung 6 im Kanzleramt, die mit der »Dienst- und Fachaufsicht« des BND betraut ist. Heiß machte Erinnerungslücken geltend, als er mit dem Umstand konfrontiert wurde, dass bereits in der von seiner Dienststelle beaufsichtigten NSA-BND-»Spähliste« von 2010 Europas zweitgrößter Rüstungskonzern, die European Aeronautic Defence and Space Company (EADS, heute Airbus Group), und die Tochterfirma Eurocopter (heute Airbus Helicopters), erwähnt werden. Wenn die Bundeskanzlerin ihr berühmtes »Das geht gar nicht« ernst nehme, so Christian Flisek (SPD), dann sei nun »der Zeitpunkt da, wo sie einen sehr intensiven politischen Dialog mit unseren amerikanischen Freunden suchen muss«. Solcherart sozialdemokratische Leisetreterei hatten wohl alle ebenso erwartet wie das markige Zetern aus der Linkspartei – deren Abgeordnete Martina Renner forderte, »die Katzbuckelei vor der US-Administration« einzustellen.
Renners Parteifreund Oskar Lafontaine, der nach heutigem Kenntnisstand schon als SPD-Mitglied und Finanzminister unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) vom SCS ausspioniert worden war, gab sich hingegen so überrascht wie gelassen. »Nicht nachvollziehen« könne er die Überwachung seiner Person. »Ich habe ihnen (den US-Amerikanern) doch bei jeder Konferenz erzählt, dass ich die Finanzmärkte regulieren wollte und das Bankensystem für marode hielt«, sagte Lafontaine. Weniger gelassen reagierte Peter Altmaier (CDU), der in der Vergangenheit ebenfalls überwacht wurde. In seiner derzeitigen Eigenschaft als Kanzleramtsminister bestellte er den US-Botschafter ein. Altmaier habe, wie Regierungssprecher Steffen Seibert später mitteilte, »deutlich gemacht, dass die Einhaltung deutschen Rechts unabdingbar ist und Verstöße verfolgt werden«.

Allen war klar, dass die Verfolgung solcher Verstöße nicht sehr drastisch ausfallen würde, weil niemand daran interessiert ist, die Zusammenarbeit von NSA und BND zu thematisieren. Immerhin wurde zum zweiten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ein US-Botschafter einbestellt. Die Einbestellung ist im diplomatischen Formalkanon eine relativ scharfe Maßnahme, die westliche Staaten meist nur im Umgang mit Diktaturen anwenden, bedeutet aber derzeit für die realen zwischenstaatlichen Beziehungen wenig. Für deutsche Massenmedien stellt sie eine Inspirationsquelle dar. »Wenn Amerika heute in den Augen von immer mehr Deutschen auf einer Stufe steht mit aggressiven, skrupellosen Geheimdienststaaten wie Russland und China, dann ist das zum Gutteil eine Folge des NSA-Skandals«, schrieb die Süddeutsche Zeitung.
Noch eine Woche zuvor veröffentlichte Wiki­leaks Dokumente über seit mindestens 2006 laufende NSA-Aktivitäten in Frankreich – ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem BND. Während in Frankreich eine Krisensitzung des Verteidigungsrates stattfand und in Paris die US-Botschafterin einbestellt wurde, reagierten deutsche Politiker und Massemedien mit Achselzucken und Verachtung. Jean-Jacques Urvoas, der Vorsitzende des Rechtsausschusses der französischen Nationalversammlung, hatte dem BND vorgeworfen, dieser habe »vor einigen Jahren eine Partnerschaft mit der NSA vereinbart, deren Schändlichkeit man heute erkennt«. Gleichwohl hatte sich Urvoas um europäische Schadensbegrenzung bemüht und gefordert: »Wir müssen jetzt einen europäischen Kern schaffen, um mit weniger Ungleichgewicht mit den Amerikanern sprechen zu können.«
Als unglaubwürdig verwarf man hierzulande die französischen Äußerungen. »Glaubwürdig ist Empörung nämlich nur«, schrieb der Tagesspiegel, »wenn sie nicht aus dem Mund von Heuchlern kommt.« Als Oberheuchler wurde der französische Präsident François Hollande ausgemacht. »Die Heuchelei erlaubt sich zudem ein Mann«, so der Tagesspiegel, »der selbst über einen der größten Spähapparate der Erde verfügt und der Nationalversammlung gerade ein Gesetz vorgelegt hat, das den Geheimdiensten freiere Hand bei Lauschangriffen, Internetüberwachung und einer bis zu vierjährigen Vorratsdatenspeicherung gibt.« Lauschangriffe eigener Geheimdienste ­sowie deutsche Pläne für Internetüberwachung und Vorratsdatenspeicherung, ließe sich daraus schließen, sind jedenfalls frei von Heuchelei.
Das war eine Woche vor Bekanntwerden des SCS-Datensammelns in Berliner Ministerien. Eine Woche danach enthüllte Wikileaks, dass auch die früheren Bundesregierungen unter Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) bereits von US-Geheimdiensten überwacht wurden. Angesichts der von diesen beiden Regierungen offensiv verfolgten Großmachtambitionen hätte das auch niemanden verwundern müssen. »Die Duldsamkeit der Bundesregierung ist kaum noch zu ertragen«, schrieb vergangenes Wochenende die Süddeutsche Zeitung. Es gehe schließlich »um die Selbstachtung des Rechtsstaats«. Und wenn der missachtet wird, übt der Münchener Liberalismus nur zu gern den Schulterschluss mit dem linksnationalistischen Milieu unter der Parole: »Ami, go home!«