»Die Situation ist schlimmer als gedacht«

Deutschland schiebt immer mehr Flüchtlinge aus Mazedonien ab, da das Land im Herbst 2014 als »sicherer Herkunftsstaat« eingestuft wurde. Doch vor allem für Roma ist es in Mazedonien alles andere als sicher. Marc Millies und Allegra Schneider reisten im März als Mitglieder einer Recherchegruppe nach Skopje, um die Situation vor Ort zu untersuchen. Der Bericht zu Mazedonien ist in Kürze unter www.alle-bleiben.info erhältlich. Dort finden sich auch die Berichte zur Situation im Kosovo (erschienen im Herbst 2014) und in Serbien (erschienen im Frühjahr 2014) sowie Berichte zu anderen Reisen. Millies arbeitet beim Flüchtlingsrat und bei Refugio in Bremen. Schneider recherchierte in den vergangenen Jahren in Serbien, Kosovo und Mazedonien zur Situation abgeschobener Roma und begleitete diese Recherchen mit Fotoreportagen. Mit beiden sprach die Jungle World über die Diskriminierung von Roma in Mazedonien und die Inhaftierung Asylsuchender im Transit.

Was hat Sie dazu motiviert, nach Mazedonien zu fahren?
Millies: Es ging uns vor allem darum, mehr über die Situation der dorthin abgeschobenen Roma zu erfahren. Wir kannten Berichte von Menschenrechtsorganisationen und von nach Deutschland zurückgekehrten Flüchtlingen. Nicht erst seit der Einstufung Mazedoniens als »sicherer Herkunftsstaat« lehnen deutsche Behörden die Asylanträge von mazedonischen Staatsangehörigen als »offensichtlich unbegründet« ab – und Flüchtlinge, die teils lange in Deutschland gelebt haben, werden in ein Land abgeschoben, das sie vor Jahren verlassen haben und wo sie buchstäblich vor dem Nichts stehen. Von den deutschen Gesetzgebern und Behörden wird das rigoros ausgeblendet. Unser bald erscheinender Report zeigt ein differenzierteres Bild. Es kann keine Rede sein von einem »sicheren Herkunftsstaat«, in dem weder politische Verfolgung noch sonstige menschenunwürdige Bestrafungen drohen. Im Gegenteil, die politische Lage in der Region ist so unsicher wie lange nicht.
Schneider: Die Recherchen sind für unsere alltägliche Arbeit wichtig. Wir sind zum Beispiel für den Bremer Flüchtlingsrat, die Kampagne »Alle bleiben!« und das Roma Center tätig und dadurch mit Abschiebungen häufig konfrontiert. Die Reisegruppe besteht aus (Foto-)Journalistinnen und -journalisten, einer Ärztin und Rechtsanwältinnen und -anwälten, die dann zum Beispiel für Fälle, die sie in Deutschland, Belgien oder Frankreich vertreten, recherchieren. Jede Person hat also einen bestimmten Blickwinkel und einen etwas anderen Schwerpunkt. Unsere Recherchereisen sind ein kontinuierliches Projekt. Mit den Berichten machen wir Veranstaltungen, unterstützen Kampagnen, unterrichten die Politik und bringen Hintergrundinformationen in die Gerichtssäle oder in die Behörden.
Was haben Sie konkret herausgefunden, wie sieht die Lage vor Ort aus?
Schneider: Die Situation ist schlimmer als gedacht. Minderheitenangehörige, vor allem Roma, sind in Mazedonien vielfacher, struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Das betrifft Menschen, die vor kurzem abgeschoben wurden und nun vor dem besagten Nichts stehen. Aber auch Personen, die aus Mazedonien stammen oder im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens oder während des Kosovokrieges dorthin geflohen sind, leben dort noch immer unter oft menschenunwürdigen Bedingungen.
Millies: Es herrscht eine strukturelle Diskriminierung durch die Polizei. Allein die Häufigkeit von Polizeirazzien und -gewalt in den Roma-Vierteln Skopjes macht das deutlich. Diese Vorfälle werden zwar dokumentiert und zur Anzeige gebracht, zur Strafverfolgung kommt es aber in der Regel nicht. Bei den Behörden existiert ein tiefsitzender Rassismus gegen Roma, der in seinem Umfang in Westeuropa kaum bekannt ist.
Schneider: Der Rassismus gegen Roma zeigt sich auch in den Schulen. Dort werden Roma sowohl von Lehrkräften als auch von Mitschülern auf verschiedene Weise ausgegrenzt – falls sie nicht in separate Schulen gehen. Auch bei der Jobsuche wird die Diskriminierung deutlich. In Mazedonien gibt es viele Roma mit akademischem Abschluss, aber nur eine verschwindend geringe Zahl arbeitet in entsprechenden Jobs.