Die türkische Regierung geht gegen kurdische Organisationen vor

Erdogan macht Antiterror

Die türkische Regierungspartei AKP geht derzeit vor allem gegen die kurdischen Organisationen vor, von der PKK über die syrische YPG bis hin zur prokurdischen Partei HDP.

Der türkische Generalstab nutzt seine Homepage gern zur Manipulation der Öffentlichkeit. Etwa hinsichtlich der Bombardierung von Zivilisten im Nordirak am Wochenende. »Die Bombardierungen von Zielen der separatistischen Terrororganisation (die kurdische PKK, Anm. d Red.) im Inland und im Nordirak werden mit großer Sorgfalt bestimmt. Das von den Medien als Dorf bezeichnete Areal befindet sich innerhalb des Lagers der Terrororganisation, dort sind keine zivilen Ziele anzutreffen.« Diese Erklärung ist eigentlich keine. Es handelt sich um eine reine Behauptung. Fotos aus den nordirakischen Kandili-Bergen strafen sie Lügen. Getötete Frauen in dörflicher Kleidung sind darauf zu sehen. Acht bis zehn Tote, darunter eine Schwangere, vermelden nicht nur türkische Medien. Auch die nordirakische Regionalregierung in Erbil protestierte gegen die Tötung von Zivilisten im Dorf Zergele. Doch die Behauptung des Militärs, Zergele sei kein Dorf, sondern ein PKK-Camp, reicht erstmal aus, um international und innenpolitisch Kritik abzuwehren.
Die noch amtierende Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) versucht, Zeit zu gewinnen. Fast zwei Monate ist es her, dass in der Türkei Parlamentswahlen stattfanden. Die prokurdische Demokratische Partei des Volkes (HDP) hatte gut 13 Prozent der Stimmen gewonnen und durch ihren Einzug ins Parlament der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit genommen. Der Traum des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan von einem Präsidialsystem ist vorerst ausgeträumt. Der ist kein guter Verlierer und forciert nun ungeniert und offen die Diskreditierung seiner kurdischen politischen Gegner. Unlängst drohte er führenden HDP-Politikern mit strafrechtlicher Verfolgung und forderte die Aufhebung der Immunität all ihrer Abgeordneten. Prompt leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen die Parteispitze der HDP ein. Den beiden Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ droht ein Prozess. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, Propaganda für die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) und damit für eine »Terrorgruppe« gemacht zu haben. Die YPG ist die militärische Organisation der Kurden in Syrien und steht der PKK nahe. »Das Timing zeigt, dass die Vorwürfe politisch motiviert sind und dass die Türkei ganz klar keine unabhängige Justiz hat«, sagte der Wissenschaftler Gareth Jenkins vom Silk Road Studies Program der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul. Die HDP wirft der AKP angesichts schwieriger Koalitionsgespräche vor, Neuwahlen und die Alleinregierung anzustreben. Dieses Machtstreben soll offenkundig vor allem auf einer Schwächung der Kurden fußen.

Derzeit führt die AKP Koalitionsgespräche mit der Republikanischen Volkspartei (CHP). Doch die politischen Kontrahenten haben fundamentale Differenzen, vor allem was die Befugnisse des Staats, die Kurden- und die Außenpolitik betrifft. Die Regierung geht unter dem Deckmantel einer Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staats (IS) nun eigentlich vornehmlich gegen die kurdische Opposition vor. Das ist Teil einer Strategie, entweder eine nationalistisch-konservative Koalition mit der ultranationalistischen Bewegungspartei (MHP) einzugehen oder Neuwahlen anzustreben. Falls es nicht zu einer Regierungsbildung kommt, muss bis Ende November neu gewählt werden. Der Parteiführer der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, sieht eine Koalition mit der AKP als einzige Möglichkeit, deren Macht zu begrenzen. Das ist auch nicht so falsch. Denn die CHP würde innerhalb einer Regierungskoalition versuchen, Kompromisse zu erwirken. Ein Modell, das vor allem dem nach unumschränkter Macht strebenden Präsidenten Erdoğan nicht passt. Er äußerte sich am Donnerstag voriger Woche bei einem Flug von China nach Indonesien skeptisch hinsichtlich des Bestands einer Koalitionsregierung von CHP und AKP.
Der Vorsitzende der MHP, Devlet Bahçeli, forderte die AKP am Wochenende auf, sich endlich, in einer Koalitionsregierung mit der MHP, ganz dem Kampf gegen den Terror zu widmen. Der müsse ausgemerzt werden. Das politische Ziel der »Terrorbekämpfung« ist der gemeinsame Nenner beider Parteien. Nach außen vertritt vor allem Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu derzeit immer wieder, ein neues Kapitel des Kampfs gegen den Terror habe begonnen. Die einzelnen Verhaftungen von IS-Mitgliedern können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die türkischen Streitkräfte zurzeit ausschließlich die Kurden im Nordirak bombardieren und viel härter gegen die Kurden als gegen den IS vorgehen.
Wegen der Kampfhandlungen zwischen PKK-nahen Kurden und dem IS ist das sehr widersprüchlich. Gerade auch angesichts des Anschlags vor zwei Wochen in Suruç an der Grenze zu Syrien. 31 Menschen, die Wiederaufbauhilfe im von der YPG kontrollierten Kobanê leisten wollten, sind nach Angaben der türkischen Staatsanwaltschaft von einem IS-Selbstmordattentäter mit einem Sprengstoffanschlag getötet worden. Am Dienstag verstarb ein weiterer junger Mann, der bei der Attacke schwer verletzt worden war. Der Anschlag, der nur prokurdische Aktivisten traf, gab der Türkei vor allem Anlass, international zu proklamieren, sie bekämpfe nun den IS und schließe sich der von den USA angeführten Allianz gegen den Terror an.

Die Zusicherung an die US-Regierung, ihre Luftwaffe dürfe die Militärbasis in İncirlik nutzen, war dabei ein großer Trumpf. Seit das türkische Parlament 2002 entschieden hatte, sich nicht an der Intervention gegen Saddam Hussein zu beteiligen, war diese Basis für die jahrelang von dort operierenden US-Streitkräfte nicht mehr nutzbar. Die US-Regierung bekräftigte nach den jüngsten Angriffen der Türkei im Nordirak brav, das Land habe das Recht, sich vor Terror zu schützen. Nur ging der Terror gar nicht von der PKK aus, die bis dahin eine Waffenruhe überweigend einhielt. Die militärische Führung der PKK reagierte reziprok mit einer Aufkündigung des Waffenstillstandes. Eine unsinnige Destabilisierung tragischen Ausmaßes, die jedoch auf die Verletzung des Friedensprozesses mit den Kurden durch die türkische Regierung zurückzuführen ist. Die vermutlich anstehenden politischen Gespräche mit der MHP sind die politische Entsprechung dieser unheilvollen Konstellation. AKP und MHP eint ideologisch vor allem ihr Feindbild, die kurdische Minderheit. Die MHP forderte in der Vergangenheit immer wieder die Hinrichtung des PKK-Führers Abdullah Öcalan. Am Samstag kursierte auf den türkischen Internetplattformen plötzlich, Öcalan sei auf der Gefängnisinsel İmralı verstorben und es sei eine Nachrichtensperre erlassen worden. Panik machte sich breit, denn schon die Möglichkeit von Öcalans Tod deutet auf einen drohenden Bürgerkrieg hin.
Bislang will die HDP den sogenannten Friedensprozess unbedingt fortsetzen. Sie hat sowohl die Türkei als auch die PKK zur Waffenruhe aufgerufen. Die Bedingungen dafür sind jedoch schwierig. Politisch hat die HDP gar keine andere Chance, sich im türkischen Parteiensystem zu etablieren. Gleichzeitig wächst die Frustration in der kurdischen Bevölkerung angesichts der brachialen Niederschlagung von Demonstrationen vor allem im Südosten der Türkei. Die von der Regierung kontrollierten türkischen Medien suggerieren ununterbrochen Terror und Bedrohung, obwohl niemand verifizieren kann, wer Attentate auf einzelne Polizisten und Soldaten in den kurdischen Regionen verübt. In Istanbul werden zurzeit immer wieder Solidaritätsdemonstrationen verboten. Die Leute halten sich daran, weil Provokationen befürchtet werden. Eine Gruppe von Intellektuellen, Staatsrechtlern und ehemaligen Diplomaten versucht gerade, eine Friedensinitiative zu bilden. Sie wollen mit Vertretern aller Parteien in Ankara zusammentreffen und vermitteln. AKP und MHP signalisieren, momentan kein Interesse daran zu haben. Ein Ende der Eskalation ist nicht abzusehen.