Kanan Makiya im Gespräch über die Lage im Irak, den Islamismus und den arabischen Nationalismus

»Etwas Neues geschieht«

Seine Schriften, wie der Bestseller »Republic of Fear«, gelten als brillante Studien über Saddam Husseins Irak und dienten Neocons und Liberal Hawks gleichermaßen als Rüstzeug im Konflikt um den Sturz des irakischen Tyrannen – ein Ziel, auf das der irakisch-britische Intellektuelle Kanan Makiya seit den achtziger Jahren hingearbeitet hatte. Heute lehrt der einstige Vordenker der irakischen Exilopposition Islamic and Middle Eastern Studies an der Brandeis University.

Heute, zwölf Jahre nach der US-geführten Invasion, steht der Irak wieder am Abgrund. Ein brutaler Krieg wütet, die ethnischen und konfessionellen Konflikte scheinen unlösbar. Viele Beobachter machen die Intervention und die US-Politik dafür verantwortlich. Sind sie das?
Ich denke nicht. Die Vereinigten Staaten haben alle möglichen Fehler gemacht, versuchten aber immer, sie anschließend zu korrigieren. Für eine Erfolgsgeschichte im Irak waren sie zum Äußersten entschlossen. Die Männer, die diese nicht haben geschehen lassen, waren Iraker. Viele Parteien trafen schlechte Entscheidungen, allen voran die schiitischen Eliten, die durch den Krieg mächtiger wurden. Diese verheerenden politischen Entscheidungen führten zu der gegenwärtigen Situation – nicht der Krieg selbst.
Sie sprachen von einer »Tyrannei der Mehrheit«.
2003 war ein großer Wendepunkt, an dem die Entscheidungen einer relativ kleinen Zahl von Menschen enorme Auswirkungen für die kommenden Jahre hatten. Obwohl man vor 2003 noch von Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz von Minderheiten gesprochen hatte, setzten die schiitischen Eliten andere Prioritäten: Rechnungen zu begleichen und die Vormacht über die sunnitische Minderheit zu erlangen. Den Schiiten und Kurden wurde eine Zukunft gegeben. Aber man konnte keine breit aufgestellte und weise Führung erwarten, die die Ängste der Sunniten berücksichtigt hätte. Eine solche Führung hätte von jenen kommen müssen, die den größten Gewinn durch den Übergang zu einer anderen Ordnung gemacht hatten – der schiitischen Mehrheit. Doch die Opfer lasteten den früheren Tätern die Schuld an und beide tauschten die Rollen – und das führte zur heutigen Lage im Irak.
Welchen Einfluss hatte der Ba’athismus auf diese Entwicklung? Und welche Rolle spielt der Iran?
Das Ba’ath-Regime ist ein extrem belastendes Erbe, für die Schiiten nicht weniger als für die Sunniten. Die Sprache des Ba’athismus, seine Denkart, das Konspirative und das Beschuldigen anderer für das eigene Versagen, all das wird nun von anderen Männern kopiert, die sich nie als Ba’athisten bezeichnen würden. Nehmen wir nur Muqtada al-Sadr (ein wichtiger radikaler schiitischer Geistlicher und Führer der Miliz Jaish al-Mahdi, Anm. d. Red.). Anders als jene Schiiten, die aus dem Exil zurückkehrten, war er ein indigener schiitischer Führer, der aber wie ein Ba’athist agierte, dachte und funktionierte. Auch der Oberste Islamische Rat (Sciri, eine bedeutende schiitisch-islamistische Partei, Anm. d. Red.) verbrachte beträchtliche Zeit damit, Rechnungen mit alten Ba’athisten zu begleichen, ebenso der spätere Ministerpräsident Nouri al-Maliki, der den Mord an Ba’athisten in seiner Heimatstadt organisierte.
Interessant am Islamischen Staat (IS) ist, dass viele seiner mittleren Kader aus Tal Afar stammen, einem der wenigen irakischen Orte, die eine große Population von Sunniten und Schiiten haben. Zwischen 2004 und 2005 verhielten sich die Schiiten dort sehr schlimm, und auf beiden Seiten wurden Gräueltaten begangen. Solche Dinge passieren an allen großen Wendepunkten der Geschichte. Aber im Irak wurde das damit verbundene Denken nicht abgelehnt. Es gab kein Zugehen auf den anderen, wie das in Südafrika für eine Weile der Fall war. Und ohne aufeinander zuzugehen, ohne Konzessionen zu machen, kann man kein Land aufbauen. Doch ein derartiges Denken existierte bei der großen Mehrheit jener nicht, die heute die Elite im Irak bilden. Der Iran kommt freilich auch ins Bild, durch seinen Einfluss auf ebendiese Eliten, der natürlich negativ ist und zunimmt.
Wie überformen diese alten Konflikte und das ba’athistische Erbe den Krieg heute? Gibt es eine Zukunft für das, was wir Irak nennen?
Die Idee Irak hat – anders als das heute viele Journalisten und Akademiker sagen – durchaus eine Glaubwürdigkeit, die aus den fünfziger und sechziger Jahren stammt. Natürlich sind alle Nationalstaaten künstliche Gebilde. Aber keine sind wohl artifizieller als die relativ erfolgreichen Staaten Jordanien und Kuwait. Es geht also nicht um den Grad an Künstlichkeit. Mit der Zeit hat sich das, was künstlich war, zu etwas anderem gewandelt: Eliten sammelten sich um etwas namens Irak oder Jordanien, Infrastruktur und Adminis­tration wurden um die Hauptstadt errichtet, was Bindungen und ein Gefühl der Identität schuf. Die Generation meines Vaters glaubte an etwas namens Irak.
Aber dann, etwa in meiner Generation in den späten Sechzigern, wurde diese Idee geschwächt. Es gab eine vorwiegend kommunistische Oppo­sition, der andere Hauptakteur war die panarabische Ba’ath-Partei. 1968 vollzog sich ein drama­tischer Wandel, als ein Regime an die Macht kam, das nicht mehr an die Grenzen von etwas namens Irak glaubte. Es hatte Gelüste – ähnlich den Pan-Germanisten – nach der Herrschaft über ­etwas viel Größeres, und es begann einen Expansionskrieg nach dem anderen. Trotzdem hielt die Idee des Irak stand: Während des Iran-Irak-Kriegs (1980–1988, bis zu eine Million Tote, Anm. d. Red.) kämpften schiitische Soldaten, der Großteil der irakischen Armee, gegen ihre iranischen Glaubensbrüder. Bis heute erwachsen die großen Differenzen zwischen irakischen und iranischen Schiiten aus dem Erbe dieses Kriegs. Jede Familie verlor jemanden, das Land wurde verwüstet. Dieser katastrophale Krieg änderte die Struktur der Gesellschaft, und die iranische Elite, die heute die Situation im Irak so stark beeinflusst, wurde aus den Erfahrungen dieses Konflikts geboren.
Was müsste getan werden?
Der IS muss hart und rücksichtslos bekämpft werden. Die USA machen nicht genug, aber sie sollten nicht mit Bodentruppen eingreifen. Die diplomatischen Initiativen müssen sich auf die verbleibenden Staaten der Region fokussieren, um das arabische Staatensystem wiederherzustellen. Die größte Gefahr ist, dass das, was der IS repräsentiert, das arabische Staatensystem zerstört. Ich bin kein Liebhaber von Grenzen um ihrer selbst willen, aber ich weiß, dass für Jahrzehnte nichts als Tod und Zerstörung kommen werden, wenn wir diesen Kampf verlieren, wenn wir zu schnell die Idee von Syrien, Irak oder dem Libanon aufgeben.
Die letzte erhebliche Gefahr für das arabische Staatensystem war Saddams Überfall auf Kuwait 1990. Die Arabische Liga war hilflos und so sprangen die Amerikaner ein. Im Wesentlichen führten sie einen Krieg zur Wiederherstellung des arabischen Staatensystems und unterbanden die Annektierung eines Staats durch einen anderen. So etwas braucht es wieder.
Ist es nicht illusionär, von Staaten wie Katar, der Türkei oder dem Iran, die Syrien erst an den Abgrund brachten, eine Verbesserung der Lage zu erwarten?
Gegenwärtig verfolgt jeder seine eigene Agenda in diesem Krieg. Aber mein Punkt ist ein anderer: Gibt man Syrien und den Irak in ihrer bisherigen Form auf, besteht die Gefahr einer andauernden Unruhe in einem gewaltigen, wachsenden Ausmaß. Ich rede von Zerstörung, Bürgerkriegen und Hunderttausenden Toten. Ich halte diese Staaten für scheußliche Staaten, aber selbst ein solcher ist besser als gar keiner. Wir müssen das Blutvergießen stoppen, und eine Alternative zum Nationalstaat existiert gegenwärtig nicht.
Bereuen Sie etwas an Ihrem Engagement für einen demokratischen Irak?
Nein, nicht, wenn Sie so fragen. Aber natürlich gibt es Dinge, die ich bedauere – ich hätte nie jenen Männern in der Opposition vertrauen sollen, die später Führungspositionen im Irak besetzen sollten. Ich war naiv, zu glauben, dass sie ihre Versprechungen halten würden.
In den achtziger Jahren gehörten Sie zur linken Intelligenz. Als Saddam Hussein 1990 seinen Krieg gegen Kuwait begann, wurden Sie zum Befürworter einer Intervention, und die Linke verstieß Sie. Später schrieben Sie, Sie hätten sich danach gesehnt, bei ihr auf der Seite der Kriegsgegner zu stehen, dass es Ihnen aber nicht möglich gewesen sei. Warum?
Weil die totalitäre Diktatur, die meine Generation möglich gemacht hatte, unendlich viel schlimmer war als eine Intervention von außen. Außerdem bestand eine große Gefahr für die ganze Region, und vor allem existierte das Leid der Iraker, die in einem großen Konzentrationslager lebten. Natürlich wäre es wünschenswerter gewesen, dass die Araber hinsichtlich der Causa Kuwait selbst gegen Saddam gekämpft hätten, aber das geschah nicht. Und so blieb als zweitbeste Option die US-Intervention.
Die Demonstrationen gegen den Irak-Krieg in Europa im Jahr 2003 waren die größten seit langer Zeit. Warum fiel es dem überwiegenden Teil der Linken so schwer, den Sturz eines der schlimmsten Diktatoren der Nachkriegszeit – notfalls von außen – zu befürworten?
Die Politik des Kulturrelativismus hatte ihren Aufstieg erlebt. Die universelle Idee, auf der sich die Linke ursprünglich gründete, wurde umgedeutet. Man nehme nur Salman Rushdie, der von Linken nur sehr wenig verteidigt wurde. Die Linke wurde von dieser Idee der Relativität der Werte so stark infiziert, dass sie unwillig war, die Gefahr zu sehen, die Saddam repräsentierte. Und so verlor sie die große Qualität, die bereits in der ersten Idee der Menschenrechte präsent war: Universalität.
Linke wie Edward Said, ein Popstar des Post­kolonialismus, und andere beschimpften Sie damals. Im Gegenzug kritisierten Sie das Versagen vieler arabischer Intellektueller. Sie schrieben 1993, dass man sich in einer Opferrolle eingefunden habe, in der stets nur der westliche Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus für die desaströse Lage der Region verantwortlich gemacht würden, was es ermögliche, die ­eigenen Dämonen, den arabischen Nationalismus und den Islamismus, zu ignorieren. Wie kam es dazu, dass diese Intellektuellen dem Narrativ der Diktatoren dienten?
Sie sahen die größere Bedrohung in Imperialismus, Kolonialismus und Zionismus. Sie gaben dem Kampf dagegen den Vorrang über den für Grundrechte. Und so ignorierten sie die Stimmen der Opfer Saddams. Mein Punkt war, dass diese Stimmen an erster Stelle hätten stehen müssen. Etwa nach dem Motto: Seht euch diese hässliche Kreatur an, die wir selbst erschaffen haben! Seht, wofür wir verantwortlich sind und was diese Kreatur tut! Politik sollte bei den Grausamkeiten beginnen, die diesen Menschen angetan wurden, nicht mit Abstraktionen über die Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus und was diese einem angetan haben.
Wie bewerten Sie dieses Thema heute? 2011 gingen in der gesamten Region viele Menschen auf die Straße und wandten sich gegen ihre Unterdrücker. Andererseits scheint es wenig Opposition gegen den arabischen Nationalismus und den Islamismus zu geben.
Die Dinge verändern sich. Man sehe sich nur die Sprache an, die genutzt wurde, um die Muslimbrüder in Ägypten nach 2011 zu kritisieren. Es gibt eine neue Literatur in Syrien und im Irak, die zeigt, dass eine neue Generation von Autoren fundamental mit den alten, verknöcherten Intellektuellen bricht. Etwas Neues geschieht – noch nicht in der Politik, aber in der politischen Kultur. ­Sehen Sie sich die Romane an, die in den vergangenen Jahren beispielsweise im Irak erschienen sind und die Barbarei des Bürgerkriegs als Ausgangspunkt nehmen. Diese Autoren revoltieren gegen all das, was damit verbunden ist. Das geschah vorher nicht. Heute liest niemand mehr die Romane der Fünfziger, Sechziger oder Siebziger, in denen mutige palästinensische Piloten den zionistischen Feind bekämpfen – das interessiert die jungen Menschen nicht mehr. Es gibt eine neue Kultur, die nun in eine neue Politik übersetzt werden muss.
Was hat diese Entwicklung ermöglicht?
Der erste arabische Diktator wurde nicht 2011 gestürzt, sondern 2003. Mit diesem ersten Umsturz eröffnete sich die Möglichkeit, mutige neue Gedanken zu äußern, die vorher nicht vorstellbar waren. Vergessen wir deren Ergebnis, aber die Idee freier Wahlen prägte die Wahlen in Ägypten und dem Westjordanland ebenso wie die Zedernrevolution (eine Massenbewegung, die 2005 im Libanon den Abzug der syrischen Armee erzwang, Anm. d. Red.). Diese Ereignisse sind vom Irak-Krieg geprägt. In diesem Sinne ist der Sturz des ersten arabischen Diktators mit dem Sturz der anderen acht Jahre später verbunden.