Jörg Döring und Rolf Seubert im Gespräch über Alfred Andersch

»Viele Soldaten waren von der Sinnlosigkeit des Kampfes überzeugt«

Alfred Andersch galt in Westdeutschland als berühmtester Deserteur der Wehrmacht. Ein nachgelassener Text wirft Zweifel an dieser Darstellung auf. Der Germanist Jörg Döring und der Erziehungswissenschaftler Rolf Seubert haben sich mit den militärhistorischen Quellen und der literarischen Selbstkonstruktion des Autors beschäftigt.

Mit »Die Kirschen der Freiheit« aus dem Jahre 1952 hat Alfred Andersch als Deserteur Berühmtheit erlangt. Wann kamen erstmals Zweifel am Wahrheitsgehalt des von Andersch als »Bericht« bezeichneten Textes auf?
Döring: Zweifel kamen erstmals auf, seit nach Anderschs Tod 1980 in seinem Nachlass der Text »Amerikaner – Erster Eindruck« gefunden wurde, den er schon 1945 im amerikanischen Kriegsgefangenenlager geschrieben hatte. Darin wird die Geschichte seiner Gefangennahme durch die 5th US Army im Juni 1944 an der italienischen Front prägnant anders erzählt als in den »Kirschen der Freiheit«. Nicht als Desertion, sondern als Geschichte eines versprengten Soldaten, der auf der Suche nach seiner Schwadron den Amerikanern unbeabsichtigt und eher zufällig in die Arme läuft. Beide Texte hat Andersch als autobiographische bezeichnet. Wie soll man mit diesem Widerspruch umgehen?
Seubert: Die Forschung hat darauf bislang entweder indigniert oder vorwurfsvoll reagiert. Anderschs Biograph Stephan Reinhardt hält »Amerikaner – Erster Eindruck« für »genauer« und »vermutlich authentischer«. Aber warum? Nur weil der früher geschrieben wurde? Andere bezichtigten Andersch, sich retrospektiv eine Deserteurs- und Widerstandslegende zugelegt zu haben. Aber kein Andersch-Forscher wollte sich bislang die Mühe machen, in den Militärarchiven nach Belegen für die eine oder andere Version zu suchen.
Gibt es weitere Versionen des Desertionsstoffes bei Andersch?
Döring: Es gibt noch eine Erzählung »Flucht in Etrurien«, die 1950 als Fortsetzungsdruck in der FAZ erschien. Hier ähnelt der Stoff sehr der in »Die Kirschen der Freiheit« erzählten Geschichte, und sie enthält viele Passagen, die später satzidentisch in »Die Kirschen der Freiheit« übernommen wurden. Nur mit einem entscheidenden Unterschied: Hier wird eine Desertion zu zweit geschildert und zudem eine, die unter Mitwisserschaft der militärischen Vorgesetzten passiert. Weil der Text aber von Andersch als »Erzählung« tituliert wurde, hat die Forschung ihn in biographischer Hinsicht nie so richtig für voll genommen.
Wie sind Sie gemeinsam mit Ihrem Mitautor, dem Historiker Felix Römer, methodisch vorgegangen, um die Verbindungen zwischen Lebensgeschichte und literarischem Werk zu untersuchen?
Seubert: Wir haben systematisch die Militär­archive – die deutschen mit der Wehrmachtsüberlieferung wie die alliierten in Washington und London – konsultiert, um zu prüfen, ob es nicht doch zeitgenössische Quellen gibt, die uns unabhängig von Anderschs Selbstbeschreibung Auskunft geben, was im Juni 1944 in Mittelitalien passiert ist.
Döring: Was die Rekonstruktion der Ereignisgeschichte angeht, haben wir zunächst schlicht so gearbeitet, wie Historiker es tun. Mit Blick auf einen literarischen Text wie »Die Kirschen der Freiheit« ist das methodisch eher verpönt. Weil aber Anderschs Geltung als Autor nicht zuletzt mit seiner Lebensleistung, aus der Armee eines Unrechtsregimes desertiert zu sein, identifiziert wird, scheint in diesem Fall die Frage nicht ganz unerheblich, wie man mit diesen Widersprüchen in der auktorialen Selbstbeschreibung umgeht.
In »Die Kirschen der Freiheit« verschwinden die gesellschaftlichen Bedingungen mehr und mehr, so dass die Einzeltat im Mittelpunkt steht. Gab es weitere Angehörige der Wehrmacht der gleichen Einheit, die Fahnenflucht begangen haben? War der Bruch keineswegs so heroisch, wie Andersch nahe­legen möchte?
Seubert: Es hat sich tatsächlich eine Verlustliste seiner Einheit, der 3. Kompanie des 39. Luftwaffenjägerregimentes, finden lassen, die bestätigt, dass Alfred Andersch am 6. Juni 1944 als »vermisst« gemeldet wurde. Aber nicht er allein wurde aufgeführt, sondern weitere 16 Kameraden seiner Kompanie. Und das, obwohl nachweislich noch gar keine Kampfhandlungen stattgefunden hatten. Vielmehr wussten die Soldaten, dass die Kampfhandlungen unmittelbar bevorstanden. Die Sollstärke einer Kompanie betrug etwa 100 bis 120 Mann. Da ist der Verlust von 17 Mann auf dem Vormarsch – am letzten Tag, bevor man die Front erreicht – gewiss ein signifikanter Wert in Bezug auf die Kampfmoral dieser Einheit.
Döring: Und auf amerikanischer Seite bestätigen die »After Action Reports« der seinerzeit dort kämpfenden Verbände, dass an dem fraglichen Nachmittag in Montevirgino nicht einer, sondern drei Soldaten der 3. Kompanie von Anderschs Einheit gefangen genommen wurden. Die Namen dieser Gefangenen sind in den Akten leider nicht aufgeführt, nur die Truppenzugehörigkeit. Auch nicht, ob sie von der Gewahrsammacht als Deserteure angesehen wurden oder nicht. Deshalb lässt sich nach Auswertung aller heute noch verfügbaren militärhistorischen Quellen nicht mit Gewissheit sagen, ob Alfred Andersch desertiert ist oder nicht. Was sich aber vielfach hat finden lassen, sind Gefangenenaussagen von Soldaten aus Anderschs militärischem Umfeld. Sie bestätigen, dass viele Soldaten von der Sinnlosigkeit des Kampfes überzeugt waren. Und das steht schon in starkem Widerspruch zu dem, was Anderschs Ich-Erzähler in »Die Kirschen der Freiheit« über seine Kameraden sagt. In dem Text schildert er sich als einsamen Deserteur umgeben von vom »militärischen Eid Gebannten« mit »Herdeninstinkt«. Viel wahrscheinlicher ist, dass viele von Anderschs Kameraden, so wie er auch, die letzte Gelegenheit vor Beginn der Kampfhandlungen genutzt haben, um sich von ihrer Truppe zu entfernen.
Andersch hat als Autor sowie als Person des öffentlichen Lebens von der Publikation des Desertionsberichtes profitiert, er wird in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand geehrt und galt zu Lebzeiten als moralische Instanz. Diese Bezüge hat Andersch selbst hergestellt, als er schrieb, dass seine Desertion sein »kleiner privater 20. Juli« gewesen sei. Halten Sie eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit zum eigenen Vorteil für möglich?
Döring: Wir wissen auch jetzt nicht mit Bestimmtheit, wie er in Gefangenschaft geriet. Am wahrscheinlichsten erscheint uns, dass er wirklich desertierte, aber nicht allein, so dass auch anderen seiner Kompanie die »Ehre des Deserteurs« zuteil werden müsste, die er sich allein zuschrieb. Wenn das so ist, dann wäre ausgerechnet die Erzählung »Flucht in Etrurien« – der einzige der drei Texte aus seinem Desertionskomplex, den er nicht als autobiographischen bezeichnet hat – der am wenigsten fiktionalisierte, weil dort die Fahnenflucht als Gemeinschaftstat erzählt wird. Warum aber schilderte er sich dann in dem frühesten der drei Texte »Amerikaner – Erster Eindruck« gerade nicht als Deserteur? Viel spricht dafür, dass es ihm im amerikanischen Kriegsgefangenenlager nicht opportun erschien, sich als Deserteur zu outen. Hier bestand noch der militärische Wertekonsens fort, in dem die Deserteure als Verräter und Feiglinge galten, und bekennende Deserteure waren teils schwersten Pressionen ausgesetzt. Erst in Freiheit wollte Andersch dann auch als Person mit der Deser­tion identifiziert werden und verglich sie mit anderen Widerstandshandlungen gegen den NS. Das war im restaurativen Meinungsklima der westdeutschen fünfziger Jahre und mitten in der Wiederbewaffnungsdebatte fraglos ein mutiger Schritt, der ihn für die einen als Kameradenschwein stigmatisierte, für die anderen adelte als nonkonformistischer, engagierter Schriftsteller.
W.G. Sebald attestierte Andersch »ein von Ehrgeiz, Selbstsucht, Ressentiment und Ranküne geplagtes Innenleben«, welches sich in einen literarischen Mantel hülle. Spielt die Sebald-Debatte, die sich auch an der Frage der realen wie literarischen Stellung von Andersch zum Nationalsozialismus entzündete, bei ihren Untersuchungen oder in der Andersch-Forschung noch eine Rolle?
Seubert: Die Sebald-Debatte hat als Auslöser für unsere Untersuchung anfänglich ganz sicher eine Rolle gespielt. Andersch hat sich ja literarisch auffällig viel mit dem Nationalsozialismus beschäftigt – zum Beispiel in »Sansibar oder der letzte Grund«, in »Efraim« oder auch in »Winterspelt«. Bestimmt hat ihm die Erinnerung an sein Verhalten gegenüber seiner ersten Ehefrau und deren Mutter ein schlechtes Gewissen bereitet, das er auch in seinem literarischen Werk zu bearbeiten und zu bewältigen versuchte.
Döring: An der handschriftlichen Urfassung von »Die Kirschen der Freiheit« kann man sehen, dass Andersch sehr wohl zunächst erwogen hatte, die Geschichte seiner Scheidung von einer »jüdisch versippten« Ehefrau während des »Dritten Reiches« zu thematisieren. Irgendwann muss er dann entschieden haben, sich in seiner Lebensbilanz vor allem auf die Desertion zu konzentrieren.
Könnten Sie erläutern, inwieweit Andersch Grund hatte, gegenüber seiner ersten Ehefrau und deren Mutter ein schlechtes Gewissen zu haben.
Seubert: Andersch wollte 1943 in die Reichsschrifttumskammer (RSK) aufgenommen werden, um literarisch publizieren zu können. Deshalb drängte er auf Scheidung von seiner, in der Terminologie der Nürnberger Rassegesetze, »halbjüdischen« Ehefrau Angelika. Und das, obwohl seine Schwiegermutter Ida Hamburger bereits ein Jahr zuvor in das Ghetto Theresienstadt deportiert worden war. Die Scheidung wurde am 6. März 1943 vollzogen. Beim Antrag zur Aufnahme in die RSK vom 16. Februar des gleichen Jahres hatte er vorsorglich schon mal »geschieden« eingetragen. Offenbar hatte er Vertrauen in die NS-Familienrichter. Angelika Andersch hatte Glück. Sie überlebte den NS unbehelligt.
Inwieweit kann man eine Verbindung von Anderschs Bemühungen, den Existentialismus in Deutschland zu verbreiten, und der Stilisierung der Desertion zur existentiellen und individuellen Tat behaupten?
Döring: Das halte ich für ein großes Missverständnis der Andersch-Rezeption: Der Freiheitsbegriff, den der Ich-Erzähler in »Die Kirschen der Freiheit« vertritt – »niemals kann Freiheit in unserem Leben länger dauern als ein paar Atemzüge lang« –, hat mit dem Sartres – »Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein« – aus der damals in Westdeutschland meist re­zipierten Schrift »Ist der Existentialismus ein Humanismus?« ersichtlich wenig zu tun. Es klingt vielmehr fast so, als wollte Anderschs Deserteur hier dem damals populären Sartre ge­radezu widersprechen. Heute weiß man, dass Andersch in der Zeit, als er »Die Kirschen der Freiheit« schrieb, fasziniert war von Ernst Jüngers Schrift über den »Waldgang« aus dem Jahre 1951.
Andersch hatte sich aber schon auf dem zweiten Treffen der Gruppe 47 in Bezug auf Sartres Entscheidung zur Freiheit für einen Neubeginn des geistigen Lebens in Deutschland ausgesprochen. Der Titel seiner Rede lautete »Deutsche Literatur in der Entscheidung«. Das spricht doch für einen starken existentialistischen Einfluss. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Desertion, Freiheitsgestus und literarischer Programmatik bei Andersch?
Döring: Von der Desertion ist in dieser programmatischen Schrift von 1948 noch keine Rede. Und an Sartre interessiert Andersch hier vor allem das Vorwort, das der existentialistische Philosoph gerade zur deutschen Übersetzung seines Résistance-Dramas »Die Fliegen« beigesteuert hatte. Darin machte Sartre den Deutschen ein vergangenheitspolitisch verblüffendes Angebot: Statt »willfähriger Selbstverleugnung« angesichts der NS-Verbrechen, die Sartre »unfruchtbar« findet, empfiehlt er dem Tätervolk: »eine totale und aufrichtige Verpflichtung auf eine Zukunft in Freiheit und Arbeit«. Das war für die junge Generation um Andersch und die Gruppe 47 insofern attraktiv, als in dieser zukunftsgerichteten »Entschließung zur Freiheit«, die man nun mit Sartre rechtfertigen konnte, ein Entlastungsversprechen für die gesamte deutsche Nachkriegsgesellschaft verbunden war. Denn wer wollte einem umjubelten Résistance-Autor widersprechen?
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der Glorifizierung des Landsers und der Fronterfahrung in der Gruppe 47 und »Die Kirschen der Freiheit«?
Döring: »Die Kirschen der Freiheit« gehört gewiss in die Reihe der Texte, in denen Autoren der frühen Gruppe 47 ihre Kriegs- und Gefangenschaftserfahrungen als literarische Ressource benutzten. So wie Eich, Schnurre, Kolbenhoff, Böll und nicht zuletzt auch der Gruppengründer Hans Werner Richter. Und Andersch hat schon früh, bevor er selber sich literarisch daran versuchte, in programmatischen Texten darauf hingewiesen, dass es dieser gemeinsame »Erlebniskern« sei, der eine neue litera­rische Generation begründe – gerade auch in Opposition zu den Exilanten und den Inneren Emigranten. Und er bestand darauf, dass die Landser auch zu den Opfern des NS zu zählen seien. Insofern haben auch die Autoren der Gruppe 47 mit beigetragen zu der weitverbreiteten Legende von der »sauberen Wehrmacht«.
Wie war das öffentliche und literarische Bild des Deserteurs in der deutschen Nachkriegsgeschichte und inwiefern hat Andersch mit seinen Texten auf dieses Bild gewirkt?
Seubert: Die Behandlung der Wehrmachtsdeserteure in der westdeutschen Öffentlichkeit gehört zu den schändlichen Kapiteln der Vergangenheitsbewältigung. Die ehemaligen Kriegsrichter durften sich als Rechtswahrer stilisieren und konnten fortfahren, Soldaten, die sich einem offensichtlichen Unrechtsregime widersetzt hatten, als Feiglinge und Vaterlandsverräter zu diskreditieren. Sie setzten sich ­dafür ein, Desertion generell und unabhängig vom politischen System für unrechtmäßig zu erklären, Soldaten das Widerstandsrecht abzusprechen. Dass ihnen der Gesetzgeber mehrheitlich bis in die neunziger Jahre folgte, sagt viel über den westdeutschen demokratischen Parlamentarismus. Was wir aber im Laufe unserer Untersuchung lernen mussten: Anderschs »Die Kirschen der Freiheit« konnte zwar kurzfristig in den fünfziger Jahren eine heftige Feuilletonkontroverse auslösen. Zum Meinungswandel in Sachen Kriegsverrat und Desertion hat das Buch aber offenbar viel weniger bei­getragen als ursprünglich angenommen. Politisch viel folgenreicher war zum Beispiel Rolf Hochhuths »Juristen« von 1979.

Jörg Döring ist Professor für Germanistik an der Universität Siegen. Rolf Seubert lehrt als Akademischer Oberrat Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen.

Jörg Döring, Felix Römer, Rolf Seubert: Alfred Andersch desertiert. Fahnenflucht und Literatur (1944–1952). Verbrecher-Verlag, 2015, 288 Seiten, 22 Euro