Ausprobiert, die Serie über Sportarten. Teil 15: Schulsport in der Post-DDR

Wem nutzt der Schulsport?

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 15: Schulsport in der Post-DDR. Hauptsache mitmachen.

Der Herr Ullrich« sei ja nicht so, es gehe hier vor allem ums Mitmachen. »Hauptsache mitmachen, sag’ ich immer.«
Diese immer in der dritten Person gesprochene Friedenserklärung gab der Herr Ullrich zu jeder Doppelstunde Sport zu Protokoll. Ja, und auch der Artikel – »der« Herr Ullrich – gehörte dazu. Der Herr Ullrich war eigentlich immer auf 180. Also im Sinne des Sports natürlich. Und er war auch ständig rot im Gesicht. Selbst wenn es nur darum ging, von der Turnhalle zum nah gelegenen Sportplatz zu laufen, stürzte er förmlich los. Hinter ihm ein eher dröger Haufen, die besonders Kessen riefen ihm hinterher: »Eins-zwei, eins-zwei.«
Dennoch war man sich nie sicher, ob sein rotes Gesicht wirklich nur vom Sportunterricht herrührte. Je nach Intensität war das das beherrschende Thema vor und nach den Stunden.
In seiner zweiten Tätigkeit war er Geographielehrer, aber abseits von Vertretungsstunden konnte das niemand bestätigen. Und sich auch niemand vorstellen. Herr Ullrich trug immer einen dieser neunziger-Jahre-artigen Nylon-Trainingsanzüge, die schon von weitem in grellen Neonfarben leuchteten. Gerüchteweise auch im Geographieunterricht. Aber davon konnte ich mich nie selber überzeugen.
Allerdings ist mir Herr Ullrich im Gedächtnis geblieben.
Vom Sportunterricht vorher, also in der Grundschule, habe ich nur in Erinnerung, dass wir ständig im Kreis auf der großen Wiese vor einer typischen Neubaublockschule gelaufen sind. Um uns herum: Passanten und Anwohner, die auf den Bänken saßen. Und Mohnkuchen aßen.
Im Kreis laufen. Immerzu.
Meine damalige Klassenlehrerin, die in meiner Erinnerung nichts mit Schulsport zu tun hat, machte in ihrer Freizeit Karate.
Meine Mutter meinte, dass ich das auch lernen sollte. Im Nachhinein keine schlechte Idee, ging es ihr doch nicht primär um die sportliche Aktivität an sich, sondern eher um die Möglichkeit der Selbstverteidigung. Geschickte Strategie. Allerdings war mir das etwas zuviel. Ich schaute mir das zwar ein paar Mal an, konnte mir aber nicht vorstellen, wie man sich, am besten noch auf der großen Wiese vor meiner Schule, in einem Notfall so akrobatisch wehren sollte.
Zurück zu Herrn Ullrich.
Beim Schulsport teilten sich die Schüler. Natürlich mussten alle daran teilnehmen, gab es Zensuren auf Schnelligkeit, Ballannahme oder Springkünste, aber im Großen und Ganzen interessierte es wenige.
Mich interessierte es auch kaum. Mit Fußball oder dem, was man im Schulsport dafür hielt, hatte ich nun gar nichts am Hut, Basketball und Uni-Hockey (allein das Wort!) waren äußerst hektisch und Völker- und Brennball einfach nur garstig.
Vor allem Mannschaftssportarten. Einen guten Teil der Zeit nahm die Sportlerauswahl ein. Natürlich tatsächlich Sportlerauswahl, denn der Unterricht war streng geteilt. Sollte es wegen Krankheit der Lehrenden ausnahmsweise »gemischten« Unterricht geben, konnte man sich absurdester Szenen sicher sein. Das machte zwar die Trennung völlig verständlich, allein ob die üblichen »Für ein Mädchen nicht schlecht«-Sprüche reziprok nicht auch hinter der mobilen Trennwand der Multifunktionshalle stattfanden, wusste man nicht. Jedenfalls kam es bei jeder Teamwahl zu der unvermeid­lichen Situation, dass am Ende immer dieselben übrig blieben. Und die Teamleiter oder wie man das nannte konnten dann ihre Menschlichkeit beweisen, indem sie mit viel Achsel­zucken und »Hilft ja nichts« den verbliebenen Rest noch in ihre Riege aufnahmen. Die, denen das in jeder Hinsicht egal war, waren aber sowieso zwischenzeitlich in den Kabinen verschwunden und kamen kurz vor dem Anpfiff zurück. »Oh, Wahl verpasst? Schade!« Und verließen die Halle wieder. Diese Strategie war draußen auf dem Sportplatz natürlich ungleich schwieriger, weswegen es auf die in jeder Sportstunde aufs Neue ausgeschriebene Stelle des Sandharkers immer eine Handvoll Bewerber gab. Wurde man abgelehnt, blieb ­einem nur, hinter den Hügeln des Platzes abzutauchen. Das gefiel Herrn Ullrich aber gar nicht, denn es galt ja: Hauptsache mitmachen! Womit auch die häufig diskutierte Frage, wie man sportliche Leistungen benoten solle, erschöpfend beantwortet war: Hauptsache mitmachen!
Die allgemeine Motivationslage glich aber eher einer Sinuskurve.
Gerade wurde man noch angespornt, mit »Los, los los!« angefeuert, beschleunigte auf der Zielgeraden und verpasste doch die vom Lehrer geschätzte Zeit. Dann wurde man mit »Was warn das jetzt?« entlassen. Motivationsprobleme schien es aber auch mit den größten Sportskanonen zu geben. Herr Ullrich schwankte immer zwischen (ausgedachten?) Zitaten Turnvater Jahns und dem undankbaren Problem, dass diese Schule mit ihrer fachlichen Ausrichtung die Notwendigkeit der wöchentlichen Sportdoppelstunde kaum begründen konnte. Da nützte auch das breit gezogene »In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist« nichts. Sich den Quintenzirkel zu merken, schien auch ohne Medizinbälle zu werfen nicht ganz unmöglich.
Dabei war die durchaus bis zur Ritualisierung betriebene Ablehnung des Schulsports vor allem eine Ablehnung des Mannschaftssports. In den Stunden kurz vor den Ferien, als es zur Belohnung immer »Alle machen, was sie wollen« gab, machten dann meist auch alle irgendwas mit Begeisterung. Ohne Grund über mehrere Böcke hintereinander springen und dann die Kletterstangen rauf und warten, bis man aufgefordert wird, auch mal wieder runterzukommen.
Bei freier Auswahl hätte man mich immer auf einem Rad fahren gesehen, gerne auch stundenlang im Kreis. Aber Fahrradfahren als Sportart schien ein ähnliches Ansehen wie Schach oder Angeln zu haben.
Irgendwann in der Sekundarstufe II, deren künstlich geschaffene und größte Herausforderung es war, die Notenpunkte selbst beim Lehrpersonal einzuholen, irgendwann also in dieser Zeit musste ich mich auch zu Herrn Ullrich begeben. Auch für Sport gab es Noten, ich hatte das verdrängt. Obwohl es das Letzte war, was mir in diesem Zeugnis fehlte. Meine reine Leistung, die sehr mit meiner reinen Anwesenheit zu tun hatte, hätte wohl null Punkte bedeutet. Nicht so gut. Versetzung in Gefahr. Er zog mein Notenbuch zu sich, schaute auf die vorgegebene Seite, blickte mich an, legte das Buch wieder weg und zog Luft durch seine Zähne: »Weißt du, ich war ja auch mal so.«
Ich war mir nicht ganz sicher, was er jetzt meinte und stellte die sehr gute Frage »Wie?«
»Ja, nun, der Herr Ullrich hatte auch mal so Haare und so. Klar, Rock und so. Und das in der DDR! Aber das geht ja nie immer so weiter. Du wirst ja och Familie haben und so und dann muss man halt mal, och wenn’s schwerfällt … nä?«
Dieser Bogen war schwer zu verstehen. Schulsport als letzter Hort der Familienbande? Mein Sportlehrer als jugendlicher Rocker? Von der Stasi beobachtet? Schnitt er in einem »Jetzt reichts«-Moment seine Haare ab? Ich versuchte ich mir das vorzustellen.
Nebenbei antwortete ich: »Bestimmt!« und war ganz gespannt, welche Zahl er nun letztlich in dieses rote Buch eintragen würde.
»Eben! Und deswegen gebe ich dir einen Punkt.«
Einen Punkt.
»Hauptsache mitmachen, was?« fragte ich.
»Hauptsache mitmachen!« strahlte er.