Die Aufarbeitung der NSU-Morde und die Gedenkpolitik

Den Opfern eine Stimme geben

Vor 15 Jahren ermordete der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) Enver Şimşek in Nürnberg. Bis der rechte Terror 2011 aufflog, ermittelte die Polizei in viele Richtungen – nicht aber gegen Nazis. Auch die Linke blieb jahrelang still, obwohl schon 2006 auf einer Gedenkdemonstration in Kassel die Angehörigen weiterer NSU-Opfer Nazis als mögliche Täter benannten. Wie linke Gedenkpolitik ihrem Anspruch gerecht werden und durch die Erinnerung an rechte Gewalt eben jene bekämpfen kann, wurde am Wochenende in Leipzig diskutiert.

Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in seinem Kasseler Internetcafé ermordet, während ein Verfassungsschutzmitarbeiter vor Ort war. Die Familie fordert seit langem, die Holländische Straße, in der Halit Yozgat geboren und getötet wurde, nach ihm umzubenennen. »Aber es wurde nur ein vorher namensloser Platz in Halit-Platz umbenannt, das war nicht die Forderung der Familie«, sagte Ayşe Güleç von der Initiative »6. April« aus Kassel auf dem Gedenkkongress am Wochenende in Leipzig. Für sie ist dieser Vorgang ein weiterer Akt der Ignoranz gegenüber den Betroffenen des rechten Terrors, denen nur mit einer lebendigen Erinnerungspolitik von unabhängigen Initiativen eine Stimme gegeben werden kann.

»Wenn ich jetzt in den Raum frage, wer die Namen aller NSU-Opfer nennen kann – die meisten würden schweigen. Aber alle kennen die Namen der drei Täter«, kritisierte ein Vertreter des Bündnisses »NSU-Komplex auflösen« auf dem Hauptpodium des Kongresses. Zu diesem hatten sich 130 Vertreter und Vertreterinnen von linken Gruppen, Gedenkinitiativen, Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt sowie interessierte Einzelpersonen eingefunden, um aus der Reflexion bisheriger Gedenk- und Erinnerungsarbeit nichtstaatlicher Initiativen Schlüsse für das Andenken an die Opfer des NSU zu ziehen. Es war ein bewusstes Zeichen, dass der Kongress in Sachsen stattfand. Der NSU konnte über Jahre von dem Freistaat aus agieren, sich erfolgreich verstecken und war bestens in der dortigen rechten Szene vernetzt.
Auch nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerns bleiben die Zahlen rassistischer und rechter Gewalttaten erschreckend hoch. »Gerade in Sachsen besteht Diskussions- und Aufholbedarf in der Erinnerung an rechte Morde und Gewalttaten sowie in der Präventionsarbeit«, meinen die Kongressorganisatoren. Schneeberg, Freital, Heidenau, Dresden – es sind aktuelle Tatorte rechter Gewalt, die einer Zählung der Amadeu-Antonio-Stiftung zufolge seit 1990 bundesweit mindestens 178 Menschen das Leben kostete. Die Motive sind häufig rassistische, aber auch sozialdarwinistische Einstellungen der Täter, die nicht zuletzt in der nationalistisch-rassistischen Nachwendezeit Anfang der neunziger Jahre sozialisiert worden sind.

Die Gedenkpolitik vieler Initiativen birgt dabei stets die Gefahr einer Instrumentalisierung der Opfer durch die hegemoniale weiße Perspektive männlich dominierter Antifa-Strukturen für eigene Zwecke. Die Kritik an diesen Zuständen und die Reflexion darüber prägten den Kongress in Leipzig. Debattiert wurden verschiedene Formen des Gedenkens, wie ein Theaterstück über das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, das Mahnmal, das an die rassistische Hetzjagd mit Todesfolge in Guben erinnert, oder die Forderung nach der Umbenennung von Straßen nach Opfern des NSU. »Gedenken bedeutet auch immer, auf aktuelle gesellschaftliche Missstände hinzuweisen, sich zu erinnern, was diese Tat im Heute bedeutet«, erklärte Alexandra Klei von der Initiative »Re:Guben« und fasste so eine grundlegende Gemeinsamkeit der Erinnerungsarbeit der anwesenden Gedenkinitiativen zusammen. In Guben starb im Jahr 1999 Farid Guendoul nach einer Hetzjagd durch Nazis. Ein Gedenkstein erinnert in der Stadt an das Opfer – er wird jedoch nicht gepflegt und ist schwer zu finden. Mit dem Mahnmal zog die Stadt Guben einen Schlussstrich unter das für sie missliebige Thema. »Erinnerung funktioniert nur, wenn sie auch lebendig gehalten wird, ob mit oder ohne Denkmal. Dieser Anspruch, lebendige Erinnerung auf lange Sicht zu gestalten, unterscheidet die Arbeit der hier vertretenen nichtstaatlichen Gedenkinitiativen von staatlicher Erinnerung an rechte Gewalt«, ergänzte Mathias Buchner, einer der Organisatoren des Kongresses, gegenüber der Jungle World.
Auf vielen Veranstaltungen des Kongresses äußerten Gruppen den Anspruch, mit ihrer Arbeit neue Perspektiven auf rechte Gewalt und ihre Folgen zu eröffnen. Sie formulierten: »Staatliches Gedenken ist täterfixiert. Wir als nichtstaatliche Initiativen setzen die Perspektiven der Betroffenen und Angehörigen in den Fokus, versuchen migrantisches Wissen sichtbar zu machen. Wir beziehen das Gedenken immer darauf, neue Fragen zu stellen und gesellschaftliche Zustände zu kritisieren, die zu den Taten geführt haben und neue Taten ermöglichen.« Die Thematisierung und Kontextualisierung von Gedenken müsse deshalb von nichtstaatlichen Gruppen geleistet werden.
Kritisiert wurde die rein weiße Besetzung einiger Podien in Leipzig. Wie wichtig der Einbezug migrantischer Perspektiven ist, wurde an den Stellen deutlich, an denen dieses Verhältnis aufgebrochen werden konnte. So erläuterte der Theaterschaffende Dan Thy Nguyen in der Diskussion über künstlerische Möglichkeiten der Erinnerung, dass dadurch bisher unbeachtete Aspekte für die Aufarbeitung der Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen hervortraten. »Viele sahen die betroffenen Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen vor allem in einer passiven Rolle als Opfer. Aber wer fragt sich dabei: Warum ist bei den Angriffen dann niemand gestorben?« Dan Thy Nguyen hat für sein Theaterstück zum Thema zahlreiche Betroffene des rassistischen Pogroms interviewt und fand so auch eine Antwort: »Weil die Vietnamesen keine passiven Opfer waren, sondern sich aktiv wehren und sich selbst in Sicherheit bringen konnten. Viele von ihnen hatten Krieg erlebt und wussten mit Ausnahmesituationen umzugehen.«

Bis jetzt kaum gehört wurden die Betroffenen des NSU-Terrors, ihr Wissen wurde bislang praktisch nicht weitergegeben. Obwohl schon 2006 bis zu 4 000 Menschen auf einer Demonstration in Kassel die Forderung an den Staat richteten, rassistisch motiviertes Morden zu stoppen, ging diese Manifestation an staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren vorbei. »Weil migrantisches Wissen permanent ignoriert wurde und wird«, ist sich Ayşe Güleç von der Kasseler Initiative »6. April« sicher. Wahrscheinlich habe der Aufruf nicht zur gängigen Antifa-Sprache gepasst. Derzeit würden im laufenden NSU-Prozess die Angehörigen, wie schon in den fehlgeleiteten Ermittlungen der staatlichen Behörden, immer wieder ignoriert. Deshalb will das Bündnis »NSU-Komplex auflösen«, in dem auch Güleç aktiv ist, nach dem Ende des Münchner Prozesses ein »NSU-Tribunal« in Köln abhalten.
Das Tribunal soll demnach in der Stadt stattfinden, in der das Bundesamt für Verfassungsschutz seinen Sitz hat und in der der Nagelbombenanschlag in der Keupstraße stattfand. Gemäß der Vorstellung der Organisatoren soll so der institutionelle Rassismus offen angeklagt werden. Kläger werden die Angehörigen selbst sein, die bisher nicht zu Wort kamen. Eine lebendige Aufarbeitung soll so zu einem Teil der Gedenkpolitik werden.