Der Film »Remember« von Atom Egoyan

Der Holocaust als Roadmovie

Atom Egoyan wagt mit »Remember« eine riskante Geschichtsinszenierung. Auf den Filmfestspielen in Venedig wurde
der Film eher verhalten aufgenommen.

Von den 21 Filmen, die bei den kürzlich zu Ende gegangenen Filmfestspielen in Venedig im Wettbewerb liefen, stammte zwar kein einziger von einem deutschen Regisseur, Deutschland war am Lido aber durchaus ein Thema: Mehrere Filme beschäftigten sich mit dem Nationalsozialismus. Der russische Regisseur Alexander Sokurow zeigte in seinem poststrukturalistisch anmutenden, im Hauptwettbewerb laufenden Film »Francofonia« den Louvre unter deutscher Besatzung. Der in der für Nachwuchsregisseure reservierten Nebenreihe »Orizzonti« präsentierte Film »The Childhood of a Leader« von Brady Corbet widmete sich dem Heranwachsen eines autoritären Herrschers; der Protagonist basiert zwar auf keiner historischen Figur, es finden sich allerdings Anspielungen auf die NS-Zeit. Der polnische Regisseur Piotr Chrzan begleitete in »Klezmer« eine Gruppe von Freunden auf einer Landpartie im Polen unter deutscher Besatzung. Während sich das Leben der jungen Leute bislang weit weg von der Front abspielte, ändert sich die Situation durch den Ausflug schlagartig: Die Gruppe wird Zeuge eines Massenmords.
Mit Spannung erwartet und erst am Ende des Festivals in Venedig gezeigt wurde der Wettbewerbsbeitrag »Remember«, eine deutsch-kanadische Koproduktion. Regie führte der armenisch-kanadische Regisseur Atom Egoyan, der für »Das süße Jenseits« in Cannes 1997 den Großen Preis der Jury gewonnen hat; in zwei Kategorien war der Film für den Oscar nominiert. Offizielle Premiere feierte »Remember« kürzlich auf dem Filmfestival von Toronto. Die Reaktion in Venedig fiel mehrheitlich verhalten aus; ein paar Zuschauer scheuten sich nicht, den Film lautstark auszubuhen. Begeistert waren hingegen alle von der Leistung Christopher Plummers in der Rolle des Protagonisten Zev.
»Remember« reiht sich in eine lange Tradition fiktiver Holocaust-Filme ein. Bruno Ganz, der hier neben Martin Landau, Jürgen Prochnow und Heinz Lieven in einer Nebenrolle zu sehen ist, sagte bei der Pressekonferenz, er habe »eigentlich keine Lust mehr gehabt, immer auf Nazirollen reduziert zu werden«. Zu dem Angebot, mit Größen wie Egoyan und Plummer zusammenzuarbeiten, »sagt man jedoch nicht nein«, räumte Ganz auf der Pressekonferenz in Venedig ein.
Plummer verkörpert einen Charakter, den es nach Ansicht des Regisseurs bislang »weder im Film noch in der Literatur gegeben hat«: Der Auschwitz-Überlebende Zev, aus dessen Perspektive sich »Remember« erzählt wird, ist 90, lebt in einem New Yorker Pflegeheim und hat Alzheimer. Immer wieder entfällt ihm, dass seine Frau Ruth gestorben ist. Zev duscht mit Klamotten und bittet den Verkäufer in einem Waffenladen, ihm Instruktionen für den Gebrauch einer Pistole aufzuschreiben.
Es kann durchaus gelingen, im Kino aus der Perspektive eines Alzheimer-Patienten zu erzählen: Til Schweigers »Honig im Kopf« und »Still Alice« von Richard Glatzer und Wash Westmoreland sind die jüngsten Beispiele. Egoyan setzt allerdings noch eins drauf: Er verwebt die Demenzerkrankung mit einem durch Auschwitz bedingten Erinnerungsverlust. Zev war ein Weiterleben nur möglich, indem er seine Erlebnisse während des Holocaust aus seinem bewussten Gedächtnis gestrichen hat.
Töne fungieren als Schlüssel zu Zevs Unterbewusstsein. Das Klavierspielen hat er nicht verlernt. Egoyan setzt eine Melodie aus einer Oper Richard Wagners ein, um das Opfer-Täter-Verhältnis zu konterkarieren. Gegen die Fensterscheiben prasselnde Regentropfen und das Bellen eines Schäferhunds lassen bei Zev Erinnerungen an das Konzentrationslager wachwerden. Er glaubt, Sirenen zu hören, die Regentropfen werden zum Kugelhagel, und Zevs Sicht wird unscharf. Eine der großen Stärken von Egoyans Film ist es, den Zuschauer an Zevs Erleben teilhaben zu lassen. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet die von Paul Sarossy bediente Handkamera, mit der ein Großteil des Films aufgenommen wurde. Die verwackelten Bilder übermittelt dem Zuschauer, dass Zev alt, demenzkrank und in vielerlei Hinsicht instabil ist.
Der Haupterzählstrang von »Remember« besteht aus einem Road Trip, den Zev auf Drängen seines an den Rollstuhl gefesselten Freundes Max, gespielt von Martin Landau, unternimmt. Max hat ebenfalls Auschwitz überlebt. Zev soll Rache nehmen an dem unter dem falschem Namen »Rudy Kurlander« lebenden ehemaligen SS-Mann Otto Walisch. Walisch hat die Familien von Max und Zev auf dem Gewissen.
Den Namen Rudy Kurlander gibt es in den USA und Kanada gleich vier Mal, alle Männer sind im selben Jahr geboren. Die ersten drei sind die falschen – einer war als Homosexueller selbst Gefangener in Auschwitz, einer ist der Sohn eines Nazis, der als Koch im Konzentrationslager beschäftigt war, und einer hat in Afrika unter Rommel gedient. Erst beim vierten Anlauf steht Zev vor dem richtigen Kurlander. Der ehemalige Blockführer hat sich in Kalifornien ein neues Leben mit schmuckem Haus und neuer Identität aufgebaut; seine Familie ahnt nichts von seiner Vergangenheit. Die Begegnung von Zev und Kurlander alias Walisch läuft anders ab als erwartet. Egoyans Ende kehrt das Opfer-Täter-Verhältnis um und stellt die Handlung des Films im Nachhinein komplett auf den Kopf.
Auf welch dünnem Eis sich ein Künstler bewegt, der sein Publikum einlädt, für die Perspektive eines Täters Verständnis aufzubringen, hat Bernhard Schlink 1995 mit seinem Roman »Der Vorleser« erfahren. 2008 wurde das Buch von Stephen Daldry verfilmt. Schlink und Daldry haben – bei allen Tücken ihres Sujets – eine große Sensibilität bewiesen. »Remember« kommt dagegen an vielen Stellen plump daher; der Film ist mit Klischees überladen. Die Wohnung des verstorbenen Auschwitz-Kochs ist bis an die Decke voll mit Nazisymbolen: Das Hakenkreuz hängt an der Wand, eine SS-Uniform wird in einer Truhe als Schatz gehütet, und zu allem Überfluss hört der Schäferhund auf den Namen »Eva«. Ein kleines Mädchen, dem Zev auf seiner Reise begegnet, hat noch nie vom Nationalsozialismus gehört. Auf die Frage »Was ist denn ein Nazi?« antwortet ihr Zev in großväterlichem Tonfall: »Ein Nazi ist ein böser Mensch«. Plakativer geht es kaum noch.
Das Genre-Korsett ist eng geschnürt. Der Film erinnert in weiten Teilen an eine Mischung aus Krimi und Psychothriller. Zugegebenermaßen: Einen Thriller, in Egoyans Worten, »mit dem Tempo von alten Herren« aufzuziehen – drei Schauspieler sind über 80 –, ist ein interessantes Experiment, allerdings hat das aus hochgradig suggestiver Musik, Verwechslungsspiel und Kunstblut bestehende Spannungselement in einem Film über den Holocaust nichts zu suchen. Auch Roberto Benigni hat sich 1997 mit »Das Leben ist schön« an ein Genre gewagt, das mit dem Holocaust kaum in Einklang zu bringen scheint: die Komödie. Und hat, neben dem Oscar, damit zum Teil bitterböse Reaktionen geerntet. Egoyan kann mit Beniginis Werk »nicht viel anfangen«. Als Vorbilder nennt er stattdessen Claude Lanzmanns »Shoah« und Sidney Lumets »Der Pfandleiher«.
Produzent Robert Lantos sagt, das zeitliche Fenster, einen Film über die letzten Überlebenden – Täter wie Opfer – zu machen, sei klein geworden. Das habe ihn angespornt. Der Darsteller Heinz Lieven erwähnt auf der Pressekonferenz, er habe bei der Luftwaffe gedient. Der »unglaubliche Schrecken« des Krieges sei ihm bekannt, er empfinde es als Pflicht, jüngere Menschen darüber aufzuklären. Lantos pflichtet ihm bei: »In Europa habt ihr das Glück, dass man sich an Geschichte erinnert. In den USA sind die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts nur wenigen ein Begriff.«
Diese Geschichtsvergessenheit zu thematisieren, sei dem 27jährigen jüdischen Autor Benjamin August ein wichtiges Anliegen gewesen, als er die Drehbuchvorlage für den Film entwickelte, sagt Egoyan im Interview. Nach der Rückkehr von einem längeren Aufenthalt in Vietnam, dem Herkunftsland seiner Frau, sei er entsetzt gewesen »über die kollektive Amnesie Amerikas den Vietnamkrieg betreffend«.
Der Tod des ehemaligen KZ-Wachmanns Johann Breyer im Sommer 2014, nur einen Tag vor seiner Auslieferung durch die USA an Deutschland, habe die Brisanz des Films noch einmal gesteigert, so Egoyan. »Remember« weise ferner Parallelen zum Oskar-Gröning-Prozess auf.
Egoyan hätte durchaus das Potential, den Umgang mit kollektiven Traumata ästhetisch anspruchsvoll umzusetzen. In »Ararat« – womöglich sein bester Film – untersuchte er 2002 die Auswirkungen des Völkermords an den Armeniern. Reflektiert hat er dabei auch die Prozesse des Erinnerns und des Erzählens. Inhaltlich lassen sich durchaus viele Parallelen zu »Remember« ziehen. Die beiden Filme unterscheiden sich jedoch stark in ihrer Struktur, weshalb der Regisseur im Interview von einem Vergleich Abstand nimmt. Die Stärke »Ararats« vor allem aus einer komplexen Erzählstruktur, wohingegen »Remember« linear aufgebaut und vollständig in der Gegenwart angesiedelt ist. Dass es Egoyan in »Remember« gelingt, auf Rückblenden zu verzichten und die Vergangenheit ausschließlich durch Reaktionen seines Protagonisten auf das Hier und Jetzt sowie durch kurze Dialogsequenzen darzustellen, verdient Anerkennung. Etwas mehr Fingerspitzengefühl, der Verzicht auf spannungssteigernde Mittel und die Konzentration auf den traumabedingten Gedächtnisverlust, ohne das Demenz-Motiv, hätten »Remember« allerdings gut getan. So befindet der Film sich eher auf einem Niveau mit dem Unterhaltungskino zuzurechnenden Holocaust-Filmen wie »Schindlers Liste« und »Der Junge im gestreiften Pyjama«.