Griechenland nach den Wahlen

Syrizas Metamorphose

Nach einem deutlichen Wahlsieg ist die griechische linke Partei Syriza erneut eine Koalition mit den Rechtsnationalisten von Anel eingegangen. In klassisch sozialdemokratischer Manier wurde sie als kleineres Übel gewählt.

Es war erneut ein klarer Wahlsieg für Alexis Tsipras und seine Partei. Mit 35,46 Prozent der abgegebenen Stimmen hat er die konservative Nea Dimokratia (ND), die auf gut 28 Prozent kam, klar geschlagen. Für viele politische Beobachter ist das eine Überraschung, insbesondere für die, die jenen Umfragewerten folgten, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorausgesagt hatten. Die kurze Wahlkampfzeit und die Sommerferien ermöglichten es, dass Alexis Tsipras nur wenig an Popularität einbüßte, trotz seines neuen Rufs als »Verräter«, da er die Austeritätspolitik fortzusetzen hat. Er ist zwar nicht der Ministerpräsident von 62 Prozent (des Oxi beim Referendum) oder von 42 Prozent (der Umfragen vor dem Sommer), aber mal wieder das kleinste Übel in einer miss­lichen Lage. Oder die einzige Option, um eine realpolitische Hoffnung auf Veränderung weiter­leben zu lassen.
Die Erfahrung von Syriza zeigt: Wer in kurzer Zeit die Macht ergreifen möchte, um die Gesellschaft zu verändern, verändert hauptsächlich sich selbst. Das ist kein Affront gegen Syriza-Anhänger, sondern die Realität des politischen Geschäfts. Dazu reicht ein Blick auf das neue Kabinett von Tsipras, oder auch auf den Prozess, den Syriza seit Juni 2012 durchlaufen hat. Abgesehen davon, dass abermals keine einzige Frau Ministerin geworden ist, lässt sich feststellen – und darüber wird in Griechenland offen gescherzt –, dass mehr Sozialdemokratie im neuen Kabinett steckt als in der ersten Pasok-Regierung von Andreas Papandreou in den achtziger Jahren. Dies ist das Ergebnis der Metamorphose von Syriza – von einem vom Establishment wenig ernst genommenen progressiven Projekt hin zum demokratischen Verwalter der Krise. Die Zwangsauflösung der Strömungen innerhalb der Partei, die theatralische Inszenierung von Parteitagen und die langsame, aber sichere Konzentration der Entscheidungsmacht bei Tsipras zielten genau darauf. Deswegen wurde auch nie ernsthaft ein Plan B diskutiert, deswegen wurde das Nein des Referendums über die Austeritätspolitik über Nacht in ein Ja umgewandelt. Aber niemand hatte eine direkte Einführung des Sozialismus erwartet. Wer Syriza wählte, wusste, was er bekommt: die Hoffnung auf eine sozialere Verwaltung der Krise.

Für den Vorsitzenden der rechten Partei Anel, Panos Kammenos, der nun erneut als Verteidigungsminister fungiert, war die Wahlkampfzeit eine Zitterpartie. Alles schien gegen ihn zu sprechen: die Umfragen, die Szenarien einer großen Koalition und das Anbiedern der liberalen Parteien an Syriza. Anel ist weiterhin ein unseriöser, aber treuer Koalitionspartner von Syriza. Eines der Wahlkampfvideos macht das Verhältnis plastisch. Kammenos holt sein Kind aus dem Krankenhaus ab, es hatte seinen linken Arm gebrochen und wird damit getröstet, dass sein Vater ihm beibringen wird, mit rechts zu schreiben. Das zeigt, wie sich Anel sieht: die rechte Korrektur der Koalition.
Keine zwölf Stunden konnte der neu ernannte Vizeminister für Infrastruktur, Verkehr und Netwerke, Dimitris Kammenos von Anel, seinen Posten genießen. Ein regelrechter Shitstorm erwischte ihn: In der Vergangenheit hatte er mit rassistischen, antisemitischen und homophoben Tweets und Posts für Aufregung gesorgt. Er verteidigte sich, indem er behauptete, sein Account sei gehackt worden – ein schwaches Argument. Seinem Chef blieb nichts anderes übrig, als um seinen Rücktritt zu bitten, der wenige Stunden später erfolgte. Trotzdem ist Anel für Tsipras weiterhin der beste Koalitionspartner – jetzt, wo er Sy­riza selbst besser unter Kontrolle hat. Aber, und das zeigt die Ernennung von Dimitris Kammenos, es bleibt eine Koalition politischer Anfänger.
Vangelis Meimarakis, der nach der Wahlniederlage vom 5. Juni vorübergehend den zurückgetretenen Antonis Samaras als Vorsitzender der ND ablöste, sollte eine Art Anti-Tsipras sein – ein Macho, der den kleinen griechischen Patrioten repräsentiert. Aber er ist nie darüber hinausgekommen, eine Zwischenlösung darzustellen. Deswegen bemüht sich die Partei nun, einen wirklichen Nachfolger für den ehemaligen Parteivorsitzenden zu finden. Es wird ein interessantes Rennen zwischen einem neuen Liebling der Großfamilien, dem rechten Flügel und der neuen Generation an ND-Politikern.
Auch das liberale Lager sucht nach einem Anti-Tsipras. Stavros Theodorakis von der technokratisch-liberalen Partei Potami hat sein Wahlkampfziel von zehn Prozent der Stimmen weit verfehlt, das Ergebnis von etwa vier Prozent aber schon verdaut. Die sozialdemokratische Partei Pasok hat mit 6,28 Prozent gut anderthalb Prozent zugelegt. Sie kann aufatmen – der Absturz in der Wählergunst hat ein Ende.

Deutlich schwieriger als alle andern hatte es Laiki Enotita, die Linksabspaltung von Syriza. Die 20 Tage Wahlkampfzeit waren zu kurz, um sich politisch zu etablieren, die Partei scheiterte knapp an der Dreiprozenthürde. Prominente Politikerinnen wie die ehemalige Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou und der bekannteste Antifaschist Griechenlands, Manolis Glezos, konnten dem kleinen Bündnis nicht genug Zulauf verschaffen. Die Befürworter einer Rückkehr zur Drachme haben es nicht geschafft, das »Oxi« des Referendums in Wahlstimmen umzuwandeln. Vielen gilt der Misserfolg als Beweis dafür, dass die Option der Drachme in der griechischen Bevölkerung weniger populär sei als gedacht. Doch Umfragen belegen weiterhin, dass 20 bis 30 Prozent sich eine andere Währung als den Euro vorstellen können. Nur finden sich diese Leute eher in den Reihen derer, die der Wahl fernblieben.
Die Wahlbeteiligung ist weiter gesunken, auf lediglich 54 Prozent. Sorgen macht auch, dass die neonazistische Goldenen Morgenröte (GM) sich mit fast sieben Prozent stabilisieren konnte. Eine Partei, deren Führung im Gefängnis saß, bis die U-Haft ausgeschöpft war, und die als kriminelle Organisation angeklagt ist, hat es erneut geschafft, drittstärkste Kraft zu werden. Ein Großteil der GM-Wähler hatte bereits bei der Wahl im Januar die GM gewählt. Zwei Tage vor der Wahl und einen Tag vor dem Jahrestag der Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssas durch GM-Mitglieder übernahm der Parteivorsitzende Nikos Michaloliakos sogar die politische Verantwortung für den Mord. Auch dies verhinderte die Etablierung der GM nicht. Das ist kein Wunder: Der Prozess gegen die Neonazis verläuft sehr schleppend – es ist noch offen, ob er scheitert, was ungeahnte Folgen haben könnte.

Die sozialen Bewegungen sind an ihre Grenzen gekommen, haben sich erschöpft oder sind sanft entschlafen. Dies ist das Ergebnis zahlreicher Analysen des Aufstiegs von Syriza, aus denen auch hervorgeht, dass ein realpolitischer Wandel die einzige wahre Chance darstellen soll. Die geringe Wahlbeteiligung legt nahe, dass die politischen Institutionen Griechenlands sich in einer Legitimationskrise befinden. Ob die Kräfte der radikalen Linken und der sozialen Bewegungen angesichts ihrer derzeitigen Schwäche in der Lage sein werden, Strategien eines wirklichen Widerstands gegen die Austeritätspolitik zu entwickeln und Druck von links auf die Regierung auszuüben, ist zweifelhaft. Dass dies nicht aussichtslos ist, zeigen jüngere Beispiele wie die vorübergehende Einstellung der Arbeiten bei den Goldminen in Chal­kidiki im August, ein Erfolg des Widerstands der lokalen Bevölkerung in Kombination mit dem transnationalen Beyond Europe Camp. Und dies zeigt auch die Besetzung eines leerstehenden Gebäudes des Ministeriums für Arbeit im Zentrum von Athen, um Flüchtlingen eine Bleibe zu verschaffen.