Zygmunt Bauman im Gespräch über Sterblichkeit, Ausgrenzung und Soziologie

»Empfänglich für Verbesserung«

Jede kulturelle Leistung ist für ihn nur der Versuch, die eigene Sterblichkeit zu dekonstruieren. Kurz vor seinem 90.  Geburtstag spricht der polnisch-britische Theoretiker Zygmunt Bauman von einer wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft, die außer Kontrolle geraten ist, und erinnert die Soziologen an die Pflicht zur Hoffnung.

Zygmunt Bauman wuchs in Polen als Kind nichtpraktizierender jüdischer Eltern auf, arbeitete nach dem Ende des Kriegs für den polnischen Geheimdienst und studierte Philosophie und Soziologie. Er erhielt eine Professor in Warschau, musste Polen mit seiner Familie 1968 infolge einer antisemtischen Hetzkampagne verlassen und ging nach Israel. 1971 zog er nach Leeds, wo er bis zu seiner Emeritierung 1990 als Soziologieprofessor lehrte. Für sein Werk wurde er mit renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem 1998 mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Am 19. November wird Zygmunt Bauman 90 Jahre alt.

Sie können mit bald 90 Jahren auf ein Werk von über 50 Büchern zurückblicken. In einem Ihrer Werke sprachen Sie von der »Sterblichkeit im Prozess gesellschaftlicher Strukturierung«. Als eine der Hauptaufgaben des Menschen unserer Zeit bestimmten Sie die Dekonstruktion der »Sterblichkeit«. Kann das gelingen?
Das hängt davon ab, wie man dieses spezifische »Gelingen« vom reinen Zeitverschwenden abgrenzt. Die Dekonstruktion der Sterblichkeit macht sicherlich das von der Unausweichlichkeit des Todes geprägte Leben lebbar. Sie füllt den verstörenden Abgrund an Absurdität mit mutmaßlich nützlichem und realistischem Zeitvertreib – wie Pillenschlucken, Joggen oder dem Aufzeichnen der letzten Spuren eines vorübergehenden Aufenthalts. Ich glaube, dass darin der Hauptgrund für das Erfinden und Praktizieren von Kultur liegt. Und auch das Hauptanliegen von Kultur, im Vergleich zu welchem alle anderen Anliegen nur Fußnoten sind. Nur dank unseres Bewusstseins von der Sterblichkeit zählen wir – wie Hans Jonas es so schön formulierte – unsere Tage, auf dass sie durch sich selbst zählen.
Ihr jüngstes Buch »Retten uns die Reichen?« (2015) unterscheidet sich von den meisten ihrer vorherigen Bücher. Es ist polemisch, realpolitisch und formuliert eine klar linke Haltung, die sich gegen soziale Ungleichheit richtet. Gehört das zu Ihrer Dekonstruktionsarbeit, in dem Sinne, dass Sie die Dinge noch einmal unmissverständlich auf den Punkt bringen wollen?
Vielleicht haben Sie recht mit ihrer Sichtweise, aber es war nicht meine Absicht. Letztlich ist meine lebenslang »klar linke Haltung« weder eine Neuigkeit noch ein Geheimnis (den gewundenen Verlauf der Bedeutung dessen, was »Linkssein« ausmacht, einmal beiseite gelassen). Das kleine Buch, das sie erwähnen, zielt darauf ab, eine weiter Wendung der »linken« Agenda festzuhalten: das sehr gegenwärtige Phänomen, die wachsende Ungleichheit außer Kontrolle geraten zu lassen. Das bedeutet eine Kehrtwende, die zu den multidimensionalen Spaltungen der Gesellschaft führt, weg von den getrennten Klassen, hin zum Gegenüber einer Handvoll Superreicher und dem Rest der Bevölkerung, inklusive des schnell wachsenden Sektors der Mittelschichten.
Sie kritisieren soziale Ungleichheiten. Sie haben das immer getan, aber in den letzten Jahren ist dieser Schwerpunkt immer deut­licher geworden. In Ihrem Buch »Gemeinschaft. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt« (2009) machen Sie den Multikulturalismus und die sogenannte »kulturelle Linke« dafür mitverantwortlich, dass sich Ungleichheit vertieft, weil sich diese Strömungen auf kulturelle Differenzen und deren Anerkennung konzentrierten. Ist die »kulturelle Linke« nicht der falsche Feind? Ist soziale Ungleichheit nicht von anderen sozialen Kräften verursacht als von ein paar Kulturtheoretikern und -theoretikerinnen und mulitkulturalistischen Politikern und Politikerinnen? Sehen Sie die Möglichkeit, beide Perspektiven zu verknüpfen: den Fokus auf Ungleichheit mit der Forderung nach Umverteilung und die Perspektive auf Differenz mit der Forderung nach Anerkennung?
Ich gebe zu, der übertrieben vernachlässigten, vielleicht insgesamt übersehenen Warnung angehangen zu haben, die Richard Rorty vor fast 20 Jahren ausgesprochen hat:
»Seit ökonomische Entscheidungen ihr (der Superreichen) Vorrecht sind, werden sie Politiker der Linken wie der Rechten dazu ermutigen, sich auf kulturelle Angelegenheiten zu spezialisieren. Das Ziel wird darin bestehen, die Gedanken der Proletarier abzulenken – die 95 Prozent der Amerikaner und die 95 Prozent der Weltbevölkerung mit ethnischen und religiösen Feindseligkeiten zu beschäftigen, und mit Debatten über sexuelle Gewohnheiten. Wenn die Proletarier durch medienerzeugte Pseudo-Events von ihrer eigenen Hoffnungs­losigkeit abgelenkt werden, inklusive gelegentlicher kurzer und blutiger Kriege, werden die Reichen nichts zu befürchten haben.«
Und Rortys leitete daraus den Vorschlag ab: Die Linke »muss mehr über Geld reden, selbst auf Kosten dessen, weniger über Stigma zu sprechen«. Das bezieht die Unkosten für die »kulturellen Differenzen und ihre Anerkennung«, von deren Wertschätzung Sie sprechen, mit ein.
Oder, noch aktueller, der Aufruf der ersten im Weltmaßstab führenden Persönlichkeit (Papst Franziskus, Anm. von J. K.), die mutig genug war, die Wahrheit auszusprechen:*
»Heute wird von vielen Seiten eine größere Sicherheit gefordert. Doch solange die Ausschließung und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. Wenn die lokale, nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teil ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal überlässt, wird es keine politischen Programme noch Ordnungskräfte geben, die unbeschränkt die Ruhe gewährleisten können. Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleichheit gewaltsame Re­aktionen derer provoziert, die vom System ausgeschlossen sind, sondern weil das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so gefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tat ihre Folgen hat, dann enthält ein in den Strukturen einer Gesellschaft eingenistetes Böses immer ein Potential der Auflösung und des Todes. Das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen kristallisierte Böse ist der Grund, warum man sich keine bessere Zukunft erwarten kann. Wir befinden uns weit entfernt vom sogenannten ›Ende der Geschichte‹, da die Bedingungen für eine vertretbare und friedliche Entwicklung noch nicht entsprechend in die Wege geleitet und verwirklicht sind. Die Mechanismen der augenblicklichen Wirtschaft fördern eine Anheizung des Konsums, aber es stellt sich heraus, dass der zügellose Konsumismus, gepaart mit der sozialen Ungleichheit das soziale Gefüge doppelt schädigt. Auf diese Weise erzeugt die soziale Ungleichheit früher oder später eine Gewalt, die der Rüstungswettlauf nicht löst, noch jemals lösen wird. Er dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, die größere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht, dass Waffen und gewaltsame Unterdrückung, anstatt Lösungen herbeizuführen, neue und schlimmere Konflikte schaffen. Einige finden schlicht Gefallen daran, die Armen und die armen Länder mit ungebührlichen Verallgemeinerungen der eigenen Übel zu beschuldigen und sich einzubilden, die Lösung in einer ›Erziehung‹ zu finden, die sie beruhigt und in gezähmte, harmlose Wesen verwandelt. Das wird noch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen jenen gesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, der die in vielen Ländern – in den Regierungen, im Unternehmertum und in den Institutionen – tief verwurzelte Korruption ist, unabhängig von der politischen Ideologie der Regierenden.«
In Ihrer Analyse der »flüchtigen Moderne« spielt die Verflüchtigung von Sicherheiten eine zentrale Rolle. Manche lesen das als Metapher für eine Vielfalt von Ängsten, andere interpretieren es als empirische Beschreibung, die jede und jeden gleichermaßen betrifft. Wer hat recht?
Die diffusen, zerstreuten, unbestimmten und vagen sowie anscheinend unverbundenen Ängste, die die Mehrheit unserer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen aufsuchen und peinigen (in nicht geringem Ausmaß mit freundlicher Genehmigung der Elite, die den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht oder deren Materialität nicht anerkennen will), werden bleiben. Sie werden geschürt und begünstigt von den Mächten, die sie wegen ihrer außerordentlichen Gefügigkeit in politisches Kapital verwandeln können, und von ökonomischen Kräften, die in Angst, Furcht und dem gesamten Status endemischer Unsicherheit eine fertige, produktive und leicht auszuweitende Quelle von Profiten finden.
Depression ist heutzutage eine der gängigsten Krankheiten. Indem sie die Ängste um ­Sicherheit schüren, versuchen politische Kräfte, die Öffentlichkeit von gefährlichen Gedanken abzuhalten, während ökonomische Kräfte ein Vermögen mit Beruhigungsmitteln gegen den daraus entstandenen Terror machen.
In ihren Büchern zum Konsumismus beschreiben Sie neue Formen von Ausgrenzung. Insbesondere Arme und Migranten und ­Migrantinnen werden wie moderner »Abfall« wahrgenommen, der nutzlos und nicht mehr in irgendeinen sozialen Kontext zu integrieren ist. Ist es dieser Aspekt der Diskriminierung und der Ausgrenzung, der ihren Begriff der Konsumgesellschaft von früheren Verwendungen – etwa im Rahmen der Kritischen Theorie – unterscheidet?
Ich zeichne die Ausgrenzung in Bezug auf zwei moderne Fabrikationen überflüssiger Menschen nach: in Bezug auf die die Herstellung von Ordnung und auf den ökonomischen Fortschritt. Diese zwei Fabrikationen wurden mit Geburt der modernen Ära in Bewegung gesetzt und funktionieren seitdem ohne Unterbrechung. Aber ihr Ausstoß an manuellen und intellektuellen Fähigkeiten wuchs mit zunehmender ­Geschwindigkeit – mit der »Exkommodifizierung« der Arbeit in Zeiten des frei fließenden und heute exterritorialen Kapitals und der zunehmenden Computerisierung. Die »sekundäre« Ausgrenzung, eine Form der nachträglichen Ausgrenzung, ist das synthetische Produkt oben erwähnter Prozesse und der Übergang von der Gesellschaft der Produzenten zur Gesellschaft der Konsumenten. Während Investi­tionen in unterbeschäftigte Arbeitskraft als Gewinn verbucht werden mögen, können Inves­titionen in »scheiternde Konsumenten« nicht als schlichte und einfache Belastung gesehen werden, außer in der kreditgestützten, konsumistischen Orgie der letzten 30 Jahre.
Sehen Sie im Konsumismus eine Fortsetzung moderner Ausgrenzung oder handelt es sich um neue, spezifisch »flüchtig moderne« Formen? Mir scheint es widersprüchlich, wenn Sie auf der einen Seite die moderne Bürokratie als Mittel der Ausgrenzung für das Abtöten moralischen Empfindens (Adiaphorisierung) verantwortlich machen, auf der anderen Seite aber der »kapitalistische Markt« der flüchtigen Moderne dieselben Effekte zeitigt. Was tötet nun die Moral, der »eiserne Käfig« (Max Weber) moderner Regulierungen oder die flüchtig-moderne Auflösung von Orientierungen?
Massive Ausgrenzung hat die moderne conditio humana von Beginn an begleitet. In Zeiten des europäischen Monopols auf die Modernisierung konnten die Ausgeschlossenen auf andere Kontinente ausgelagert werden (und wurden es zu einem Großteil) und als Träger des Kolonialismus und imperialer Eroberung eingesetzt werden. Mit dem globalen Triumph der Moderne ist diese Auslagerung nicht länger möglich – daher die »internen Exile« in der »Unterschicht« in all ihren Variationen, wertlos in ökonomischer Hinsicht und insofern auch nicht länger als Reservearmee für Arbeitsmarkt und Militär behandelt. Ihr Überleben wird mehr und mehr der Gnade der Wohltätigkeit überlassen, anstatt zu den Pflichten des Staates zu gehören.
Für Soziologinnen und Soziologen proklamieren Sie eine »Pflicht zur Hoffnung«. Was ist damit gemeint?
Wie Albion Small, einer der Pioniere soziologischer Studien in den USA, meinte, entstand die Soziologie aus dem Wunsch heraus, die Gesellschaft zu verbessern. Um ihren Wurzeln, ihrer Berufung und ihrer raison d’être treu zu bleiben, müssen Soziologen hoffen, dass dieser Anspruch zu erfüllen ist: dass Gesellschaft, und damit einhergehend die conditio humana, von Natur aus empfänglich für Verbesserung ist. Wer das nicht glaubt, ist bloß ein Archivar von Akten – was ein vollkommen anderer Beruf wäre, wie edel und legitim er andererseits auch immer wäre.

* Baumann zitiert die Punkte 59 und 60 aus Papst ­Franziskus’ Apostolischem Schreiben »Evangelii ­Gaudium«.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen:
Jens Kastner

Das Interview wurde per E-Mail geführt und redaktionell bearbeitet und gekürzt.

Von Jens Kastner ist soeben im Verlag Turia + Kant (­Berlin/Wien 2015) das Buch »Zygmunt Bauman. ­Globalisierung, Politik und flüchtige Kritik« erschienen.