»Willkommenskultur« und die Fragmentierung der Gesellschaft

Das fragmentierte Deutschland

Die »Willkommenskultur« und die fremdenfeindlichen Zusammenrottungen sind nicht so antagonistisch, wie es auf den ersten Blick erscheint. Beide bieten Identität in einer fragmentierten Gesellschaft.

Wie tickt Deutschland im Jahre 2015? Je nachdem, wo man diese Frage stellt, wird man ganz unterschiedliche Antworten darauf finden. Es gibt dieses »dunkle Deutschland«, wie neulich eine ARD-Reportage titelte, die Bürgermeister im Osten der Republik in der bornierten Angst um das Image ihrer Kleinstädte flugs zu Dementis veranlasste. Andererseits gibt es selbst im »Pegida-Kernland« engagierte Bürgerinnen und Bürger, die Willkommensfeste feiern und der Kommune bei der Umsetzung ihrer Pflichtaufgaben bereitwillig unter die Arme greifen. Diese Kommunitarisierung der Flüchtlingsverwaltung ist, wie die Gruppe »Deutschland demobilisieren« (Jungle World 39/2015) kritisch bemerkte, neben einer neuen, postrassistischen Identitätsbildung und der unweigerlichen Aufwertung des Images Deutschlands die charakteristischste Folge des derzeitigen Asyldiskurses. Im Handeln und in der Rhetorik der Bundesregierung ist auf den ersten Blick die gleiche Diffusität festzustellen. Der Menschlichkeitsoffensive Angela Merkels folgten sukzessive Einschränkungen des Asylrechts und eine Debatte um die Einrichtung von sogenannten Transitzonen. Wem als besorgtem Bürger in bester sozialdemokratischer Manier gestern noch das demokratische Recht auf deutschnationales Denken beschieden wurde, war nur wenig später eine »Schande für Deutschland«. Ein Patriot hasse nicht, meinte Kanzleramtschef Thomas de Maizière in der Bild-Zeitung, sondern liebe sein Land und betätige sich dementsprechend im vorauseilenden Gehorsam an den ans Ehrenamt delegierten staatlichen Aufgaben.

Die antagonistischen Reaktionen zeigen, dass treffende Einschätzungen über die aktuelle Situation in Deutschland mit derselben Ungewissheit behaftet sind wie die Prognose der Flüchtlingszahlen für dieses Jahr. Kann man also mit Berechtigung sagen, dass hinter der neuen deutschen »Willkommenskultur« Kalkül steckt, wie einige Beobachter meinen? Artikuliert sich darin endgültig das »neue Deutschland«, das schon seit Jahren in den Startlöchern bereitstand und auch in den Leuchtturmregionen im Osten der Republik zusehends an Boden gewinnt? Oder legitimiert die neue Menschlichkeit im Innern lediglich die Abschottung an den Außengrenzen, wie die Gruppe »Sous la Plage« (Jungle World 43/2015) meint?

Die meisten linken Analysen eint, dass sie stets versuchen, das Alte im Neuen zu sehen. Historische Erfahrungen bieten ihnen eine Vergleichsfolie, um aktuelle Entwicklungen zu beurteilen und in ein Verhältnis zu setzen. Wo neue Begriffe noch nicht entwickelt werden können, weil ihr Gegenstand diffus und unübersichtlich ist, leisten Bezugnahmen Vereindeutigung, um das vermeintlich immergleiche Allgemeine im Konkreten zu bestimmen. In der Folge ist dann, wenn schon nicht Parallelen zu den neunziger Jahren gezogen werden, von einer Arbeitsteilung zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer die Rede und in der angeblich gezielten Unterversorgung der Flüchtlinge soll die Kontinuität rassistischer Politik bestehen. Doch der Rassismus, der allerorten ausfindig gemacht wird, sei es in der Asylpolitik, sei es im Gebaren des rassistischen Mobs, benennt einen Tatbestand lediglich, wo er doch erklärt werden müsste, und damit bleibt er ein Label ohne analytische Qualität.
Pegida beispielsweise ist zweifellos eine fremdenfeindliche Bewegung, aber das ist vielleicht gar nicht das Wesentliche. Sie hatte in Merkel schon ein Feindbild gefunden, als diese noch auf die konsequente Durchsetzung der Dublin-Richtlinien pochte. Die Schmähchöre gegen die vermeintliche »Lügenpresse« entzündeten sich zunächst an der Berichterstattung im Ukraine-Konflikt. Auch der allen Fremdenfeinden inhärente Hass gegen »die Anderen« äußert sich nicht nur in primitiven Tiraden gegen Flüchtlinge in den sozialen Netzwerken, sondern offiziell in Anwürfen gegen die Repräsentanten des Systems und die Akteure der Zivilgesellschaft. Aus diesem Grund wird die zunehmende Gewalt gegen Flüchtlinge flankiert von einem Anstieg von Übergriffen auf Linke, Journalisten und ehrenamtliche Helfer. Die Verrohung der Sprache und die Enthemmung der Reaktionen sind deshalb besser als allgemeiner gesellschaftlicher Zerfall zu verstehen, dessen common sense der Hass auf vermittelte soziale Verhältnisse in einer fragmentierten Gesellschaft ist.
Diese fragmentierte gesellschaftliche Realität ist eine Folge von sozialen, ökonomischen und politischen Transformationsprozessen. Sie hängt unmittelbar mit dem Übergang von fordistischen Lohnarbeitsverhältnissen zu flexiblen Formen von Beschäftigung zusammen, der sich für die Subjekte als Entgrenzung, Individualisierung des Lebensstils und Personalisierung von Verantwortung auswirkt. Politische Steuerung erfolgt im Postfordismus zunehmend kontingent als Verwaltung von Sachzwängen. Von einer Arbeitsteilung zwischen Merkel und Seehofer kann daher höchstens auf einer funktionalen Ebene gesprochen werden, die keinem feststellbaren Kalkül folgt, sondern symptomatisch ist für neoliberale Krisenverwaltung. Das unterscheidet auch die neueste Verschärfung des Asylrechts von den Asyl-Debatten in den neunziger Jahren. Sie ist chaotisch, uneindeutig und Ausdruck sich auflösender staatlicher Regulierungsfähigkeit.

Im Osten der Republik fiel dieser Prozess mit einer weiteren Transformation vom Staatssozialismus zu einer marktförmig organisierten Gesellschaft und ihrer Spaltung in Wendegewinner und -verlierer zusammen. Beide reagieren unterschiedlich auf die Anforderungen des flexiblen Kapitalismus und seiner politischen Verwaltung, die dahintersteckende Sehnsucht ist allerdings bei denen ähnlich. Die kommunitaristische Übernahme von vormals staatlich organisierter Verwaltung durch identitäre Gruppen ist nicht nur eine funktionale und leistungssteigernde Variante neoliberaler Vergesellschaftung, sondern zugleich die individuelle Wiederherstellung unvermittelter gesellschaftlicher Einheit. Einzelne erfahren sich im ehrenamtlichen Engagement als staatsunmittelbar, Hilfe erfolgt schnell und unbürokratisch und die soziale Umwelt erscheint gestaltbar. Depriviligierte Gruppen werden so zumindest partiell den staatlichen Vermittlungsinstanzen entzogen und unmittelbar in die Gesellschaft integriert. Anders verhält es sich bei der »besorgten Mehrheit«, die keine sie verbindende Depriviligierungsperspektive hat außer ihrer Paranoia. Unvermittelte Vergesellschaftung erlebt sie höchstens isoliert bei Fußball, Vereinsmeierei und Stadtfest. Die Gesellschaft bleibt ihr abstrakt und undurchdrungen, worauf die verschwörungsideologische Lokalisierung von Drahtziehern eine Antwort und die plebiszitäre Form direkter Demokratie das Mittel zur Veränderung bietet. Es geht dem Pegida-Milieu nicht nur um die dumpfe Durchsetzung ihrer fremdenfeindlichen Agenda, sondern auch um unmittelbare politische Repräsentation. Dieser Sehnsucht folgt unweigerlich die Homogenisierung der eigenen Gruppe und die Abspaltung alles Fremden. Die Beschwörung des deutschen Volkes als Signifikant ist deshalb umso lauter, je stärker sich das Bewusstsein durchzusetzen beginnt, dass diese Einheit längst nicht mehr existiert und auch kein alternatives Ersatzangebot bereitstehen wird. Denn das neue deutsche Wir-Gefühl ist vor allem durch bürgerschaftliches Engagement zu erkaufen. Sie blicken daher mit Neid auf die kommunitaristische Aufmerksamkeit, die anderen Gruppen zuteil wird, weil sie nicht zu Unrecht befürchten, dass ihnen niemals dieselbe Anteilnahme zukommen wird.
Auch »linke Politik« folgt zuweilen diesem Muster, wo sich selbsternannte Unterstützer als unmittelbare Ansprechpartner empfehlen und in verkrampften Sprachtrends »Geflüchtete« verbal »empowern« wollen, als könnte man durch vereindeutigende Sprachspiele ihre reale Ohnmacht auflösen. Das DIY-Prinzip in der Unterstützung, Organisierung und Identitätsbildung entspringt ebenso dem neoliberalen Zeitgeist wie die zusammengerottete Forderung nach direkter Demokratie. Beide Tendenzen sind Verfallserscheinungen in einer sich beschleunigt verändernden Gesellschaft, die immer komplexere Zusammenhänge produziert und ihre politische Regulierung nicht mehr gewährleisten kann. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind eine bestimmte Form, darauf zu reagieren und mit verdrängten Sehnsüchten umzugehen – allerdings nicht die einzigen. Bei den jüngsten Protesten zeigt sich ebenso ein buntes Potpourri verschwörungsideologischen Denkens, verbunden mit dem Drang nach unvermittelter Selbstermächtigung, der meist antisemitische Züge trägt. Diese unheimliche Allianz aus auch linken Friedensfreunden, Wutbürgern, Neonazis, Neuen Rechten und Compact-Abonennten bietet einen Vorgeschmack, wie die reaktionären Antworten auf neoliberale Vergesellschaftung in der Zukunft auch aussehen können. Der für die Analyse der gegenwärtigen Situation überbeanspuchte Begriff des Rassismus erklärt diesen Zusammenhang, der in der Linken viel zu wenig und viel zu vereinfacht diskutiert wird, kaum.