Die Strategie des »Islamischen Staats«

Auslöschung der Grauzone

Mit der Entscheidung für den globalen Jihad reagiert der »Islamische Staat« auf die Stagnation an den Fronten in Syrien und dem Irak, verfolgt aber auch strategische Ziele.

»Jahrelang haben verschiedene Jihad-Organisationen zu individuellen Angriffen in den Heimatländern der Kreuzfahrer aufgerufen, doch diese Aufrufe fanden kaum Widerhall. Nach der Wiederbelebung des Kalifats wurden mehrere Angriffe binnen weniger Monate durchgeführt«, frohlockt Dabiq, das Magazin des »Islamischen Staates«. Die im Frühjahr erschienene siebte Ausgabe trägt den Titel »Von Heuchelei zu Apostasie. Die Auslöschung der Grauzone«, abgebildet sind zwei an ihrer Kleidung als Muslime erkenbare Männer, die Schilder mit der Aufschrift »Je suis Charlie« tragen.
Anfang dieses Jahres hat die Führung des IS offenbar einen Strategiewechsel beschlossen, der dann in Dabiq propagiert wurde. Zuvor hatte man durch die rituelle Verbrennung der Pässe ausländischer Rekruten deutlich gemacht, dass der Schwerpunkt des Kampfes in Syrien und im Irak liegen solle. Zwar hatte der IS bereits im September vorigen Jahres zu Terroraktionen aufgerufen, diese aber noch nicht selbst organisiert. Andernfalls hätten sich die Attentäter, die im Januar die Redaktion von Charlie Hebdo stürmten, nicht auf al-Qaida im Jemen berufen.
Ussama bin Laden wird in der siebten Dabiq-Ausgabe an mehrere Stellen mit der bedeutenden muslimischen Persönlichkeiten vorbehaltenen Segensformel rahimahullah präsentiert und zitiert. Der IS beansprucht den Mythos bin Ladens und übernimmt dessen Strategie des globalen Jihad. Die derzeitige Führung von al-Qaida aber gilt dem IS als schwach, eine Ansicht, die von vielen Jihadisten geteilt wird. Zahlreiche Terrororganisationen im Nahen Osten und Afrika haben öffentlich bekundet, dass sie sich dem IS anschließen. Diskret haben dies wohl auch die verbliebenen Gruppen aus dem Umfeld von al-Qaida in Europa getan.

Die Beschaffung von Sturmgewehren sowie von großen Mengen Munition und Sprengstoff ist keine Kleinigkeit, auch Auswahl und Koordinierung der Attentäter erfordern einen organisatorischen Hintergrund, der die Fähigkeiten einer eigenständig agierenden jihadistischen Zelle übersteigen dürfte. Als Urheber käme noch al-Qaida in Frage, doch hätten deren Sprecher sich gewiss zu Wort gemeldet, wenn die Konkurrenz vom IS das Massaker fälschlich für sich reklamieren würde.
Im Kontext des globalen Jihad des IS steht, sofern sich die bisherigen Ermittlungsergebnisse bestätigen, auch der Anschlag auf den Airbus der russischen Fluggesellschaft Metrojet, bei dem am 31. Oktober 224 Menschen starben. Erst einen Monat zuvor begann die russische Intervention in Syrien, die der IS als Motiv nannte. Die Bombe soll in Sharm al-Sheikh an Bord geschmuggelt worden sein. Bestätigt sich diese Annahme, haben Jihadisten in einem militärisch gesicherten Sperrgebiet das Personal eines Flughafens infiltriert, auf dem nicht selten Staatsgäste sowie der ägyptische Präsident zu internationalen Gipfeltreffen landen, und eine Möglichkeit gefunden, die Sicherheitskontrollen zu umgehen. Das ist kein Job, den man zusammen mit den sonstigen Vorbereitungen für eine Terroraktion in einem Monat erledigt. Auch hier hat der IS also wohl auf eine bestehende terroristische Infrastruktur zurückgreifen können.
Möglicherweise gibt es noch weitere auf Einsatzbefehle wartende Gruppen. Dennoch ist die Entscheidung für den globalen Jihad kein Zeichen der Stärke des IS. Eher ist das Gegenteil der Fall. In der ersten Phase hatte der Kampf um die territoriale Erweiterung des Kalifats die Priorität. Doch den Mythos der Unbesiegbarkeit des IS haben die kurdischen Milizen zerstört, zuerst die syrischen YPG in Kobanê und mit der Befreiung Sinjars nun auch die nordirakischen Peshmerga. Größere Geländegewinne kann der IS nicht mehr erwarten. Stillstand aber kann sich eine von apokalyptischen Vorstellungen geprägte Organisation nicht leisten, zumal der IS mit der Ausrufung eines Kalifen selbst nach jihadistischen Maßstäben sehr dick aufgetragen hat und diesem Anspruch nun gerecht werden muss.
Der globale Jihad ist eine Ersatzhandlung, ­allerdings verfolgt der IS auch strategische Ziele. Man kopiert die Vorgehensweise von al-Qaida, ein großangelegter Anschlag soll mehrere Botschaften vermitteln. Der Terror wird als Bestrafung für eine staatliche Militäroperation bezeichnet, der IS inszeniert sich für das islamistische Milieu als Rächer. Der Angriff auf das Stadion, in dem sich Präsident François Hollande befand, war eine symbolische Herausforderung der Staatsmacht. Viel zu befürchten, so glauben die Jihadisten bislang zu Recht, haben sie nicht. Die eher propagandistischen als militärischen Zwecken dienende Bombardierung Raqqas durch die französische Luftwaffe wird sie nicht erschrecken. Größere Entschlossenheit im Kampf gegen den IS wird von westlichen Politikern nun zwar bekundet, weiterhin aber fehlt es, wie die Syrien-Verhandlungen (siehe Seite 15) einmal mehr zeigten, an einem ernstzunehmenden Plan und wohl auch an der Bereitschaft, mit Bodentruppen einzugreifen. Der IS kommt zwar nicht mehr voran, der Kampf gegen ihn aber auch nur punktuell, solange er unzureichend ausgerüsteten kurdischen Milizen überlassen bleibt. Die Entwicklung in Afghanistan, wo die Taliban wieder in der Offensive sind, dürfte die ­Jihadisten ebenfalls ermutigt haben. Man muss nur lange genug durchhalten, dann zieht der Westen sich zurück, so die nicht unzutreffende Schlussfolgerung.
Mit einem beispiellos hohen Anteil ausländischer Kämpfer ist der IS stärker als andere terroristische Organisationen auf globale Propaganda angewiesen, damit der Zustrom an Rekruten anhält. Gewaltaffine Psychopathen, deren es im IS nicht wenige geben dürfte, erfreut das Massaker an sich sowie die Aussicht, selbst auf so spektakuläre Art abtreten zu können. Doch der Terror ist nicht unpolitisch, er soll vor allem ein ideologisch fanatisiertes Milieu ansprechen. Mit einem Angriff auf Vergnügungsorte treten die Jihadisten als strafende Sharia-Polizisten in Erscheinung – ein symbolischer Vorgriff auf die angestrebte Weltherrschaft. Ein antisemitistischer Anschlag ist mittlerweile, wohl auch wegen der propagandistischen Wirkung über den harten Kern der Islamisten hinaus, zum Standard geworden. Es wird ein jüdisches beziehungsweise von den Tätern als jüdisch identifiziertes Ziel angegriffen, in Paris der als proisraelisch bekannte Ver­anstaltungsort Bataclan.

Bewusst leistet der IS Wahlkampfhilfe für Marine Le Pen und provoziert Gewalttaten der rassistischen Rechten. Dies ist in Europa die derzeit größte politische Gefahr, denn auch bei den rassistischen Rechten hat man es ja mit Menschen zu tun, die rationalen Argumenten nicht zugänglich sind und die sich nun, oft mit kaum verhüllter Freude über die Anschläge in Paris, in dem bestätigt sehen, was sie glauben wollen.
Die Eskalation voranzutreiben und so die Unentschlossenen und Unwilligen zu zwingen, sich »ihrer« Seite anzuschließen, gehörte bereits zum strategischen Grundrepertoire von al-Qaida. Der IS will nun die »Grauzone« in Europa besei­tigen, die es muslimischen »Heuchlern« erlaubt, zu leben wie andere Menschen auch. »Die Muslime im Westen werden sich schnell vor die Wahl gestellt sehen, ob sie Apostaten werden (…) oder die Hijra (Auswanderung) in den Islamischen Staat vollziehen«, so Dabiq; der Artikel endet mit einer Beschwörung der als bald bevorstehend imaginierten Apokalypse. Die Stärkung der Bastion im Nahen Osten bleibt also das Ziel, ein deut­licher Hinweis darauf, dass deren Beseitigung das wirksamste Mittel im Kampf gegen den globalen Jihad ist.