Die Linke kehrt zum Nationalstaat zurück

Nothing left

Egal ob Finanzkrise, Flüchtlinge oder Terrorgefahr, die europäischen Länder hätten eine Menge gemeinsam zu regeln. Doch in Brüssel wird ein ergebnisloser Krisengipfel nach dem anderen einberufen. Die Staaten der Europäischen Union verfolgen ihre Einzelinteressen. Auch Linke wenden sich gegen EU und Euro.

Kaum ist die konservative Minderheitsregierung in Lissabon Anfang November nach einem Misstrauensvotum zurückgetreten, tauchen die üblichen Warnungen auf. »Droht ein zweites Griechenland?« titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Eine neue Regierung aus Sozialisten, Linksblock und Kommunisten, die erste in Portugal seit der Nelkenrevolution vor vier Jahrzehnten, könnte den Sparkurs beenden und die Schuldenkrise neu entfachen.
Staatspräsident Cavaco Silva hatte Ende Oktober die Konservativen mit der Regierungsbildung beauftragt, obwohl die linken Parteien wenige Wochen zuvor eine Mehrheit bei den Parlamentswahlen erzielt hatten. Eine Linksregierung würde jedoch ein »falsches Signal« an Investoren und Märkte senden, befand Silva, was er mit seiner »verfassungsrechtlichen Macht« verhindern wolle.
Die Situation erinnert frappant an die Entwicklung in Griechenland. Auch dort hatte sich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Sparpolitik ausgesprochen und diese Haltung in einem Referendum bestätigt. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras sah sich nach seinem Wahlsieg im September dennoch gezwungen, den rigiden Forderungen der sogenannten Troika nachzukommen, um einen Bankrott des Landes abzuwenden.
Viele Linke in Europa, die große Hoffnungen in Syriza gesetzt hatten, erlebten diese Entwicklung als eine historische Zäsur. Selbst eine demokratisch legitimierte linke Regierung ist offensichtlich nicht in der Lage, die Vorgaben aus Brüssel und Berlin nennenswert abzuändern.

Spätestens seit Syriza gescheitert ist, diskutieren linke Parteien und Politiker in Europa deshalb über die »nationale Souveränität«, die eine neue emanzipatorische Perspektive jenseits des Euro ermöglichen soll. Einige Syriza-Abgeordnete gründeten bereits vor den Wahlen mit der »Volkseinheit« (LAE) eine eigene Partei, deren dezidiertes Ziel der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone ist. Die Volkfront argumentiert, dass nur der Bruch mit dem Euro eine Wirtschafts­politik im Interesse der Bevölkerungsmehrheit erlauben werde. Viel Erfolg hatte sie damit bislang nicht. Zusammen mit der kommunistischen KKE und anderen Befürwortern des Euro-Ausstiegs erreichte die Volksfront bei den Wahlen im Oktober nur etwas mehr als neun Prozent.
Unterstützung erhält sie hingegen von prominenten Linken wie dem italienischen Ökonomen Stefano Fassina, ehemals stellvertretender Finanzminister im Kabinett des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, der ein Manifest auf dem Blog des früheren griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis veröffentlichte. Nach Meinung von Fassina befindet sich Europa auf dem »Scheideweg der Geschichte«. Ein »Weiter so!« bedeute das Ende der Demokratie und des Wohlfahrtsstaats. »Für eine geordnete Auflösung der gemeinsamen Währung müssen wir eine breite Allianz einer Nationalen Befreiungsfront bilden, ausgehend von der Peripherie der Mittelmeerländer, zusammengesetzt aus progressiven Kräften, aber offen für eine Kooperation mit demokratischen rechten souveränistischen Parteien. Die Zeit, die uns bleibt, wird immer knapper«, heißt es in seinem Beitrag.

Den Aufruf von Fassina nahm der französische Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir zum Anlass, eine »Anti-Euro-Front« vorzuschlagen. Das Bündnis solle sich politisch von der Linksfront über den ehemaligen Minister der Sozialistischen Partei, Jean-Pierre Chevènement, und den rechten Nationalisten Nicolas Dupont-Aignan bis zum Front National erstrecken. Sapir hatte schon früher den Euro als erstes Kapitel in der »Chronik eines angekündigten Todes« bezeichnet und für die Strategie eines breiten Bündnisses, auch mit rechten Kräften, plädiert. »Wie in der Résistance, in der Kommunisten Seite an Seite mit national gesinnten Franzosen gegen die deutsche Okkupation kämpften, gilt es heute, eine nationale front quer über das politische Spektrum hinweg gegen den Euro zu bilden«, sagte er in einem Interview in der konservativen Tageszeitung Le Figaro.
Die Nation fest im Blick hat ebenfalls Jean- Luc Mélenchon, der Vorsitzende der französischen Linkspartei, der Sapir zumindest zeitweise nahestand. Frankreich sei keine »unabhängige Nation« mehr, wetterte er auf einem Parteitag Ende August in Toulouse. Das französische Volk müsse wieder selbst entscheiden. »Vor der Wahl zwischen dem Euro und der Souveränität entscheiden wir uns für die Souveränität«, sagte er.
Ohne einen radikalen Kurswechsel, darin sind sich die meisten linken Euro-Gegner einig, werden die rechtsextremen Parteien und Bewegungen weiter Zulauf erhalten. Doch das Argument ist wenig überzeugend. Nationalstaatliche Lösungen funktionieren immer nur über den Ausschluss jener, die nicht zur Nation gehören. Warum ausgerechnet in Zeiten, in denen wegen der Flüchtlingsdebatte Grenzzäune und nationale Alleingänge wieder populär sind, diese Politik helfen soll, rechtsextreme Bewegungen zu bekämpfen, bleibt schleierhaft.
Viel wahrscheinlicher ist, dass rechtspopulistische Positionen dadurch noch mehr Akzeptanz erlangen werden, zumal sie in einigen europäischen Ländern wie Ungarn oder Polen bereits mehrheitsfähig sind. Antikapitalistische Rhetorik, die sich auf die Nation beruft, hat Konjunktur in Europa. Marine Le Pen, Vorsitzende des Front National, profitiert bereits jetzt von der Debatte, auch wenn sie es vermeidet, sich direkt auf Sapir, Fassina oder Mélenchon zu beziehen. »Die Debatte über den Euro kommt endlich in Bewegung«, freute sie sich auf Twitter. Gut möglich, dass ihr am Ende Stimmen linker Euro-Gegner bei den kommenden Wahlen helfen werden.
Auch in Deutschland hat die Niederlage von Syriza die Diskussion über den Euro radikalisiert. So sieht Sahra Wagenknecht in der Entwicklung in Griechenland den entscheidenden Anlass, um die EU grundsätzlich in Frage zu stellen. Alles deute darauf hin, meinte die designierte Fraktionsvorsitzende der Linken, »dass es immer mehr Integrationsschritte gibt, die jede nationale Sou­veränität erledigen«.
Ähnlich argumentiert der ehemalige Bundes­finanzminister und »Die Linke«-Vorsitzende Oskar Lafontaine. »Wir sind entschlossen, mit diesem Europa zu brechen«, heißt es in einem Aufruf, den er gemeinsam mit Varoufakis, Mélenchon, Fassina sowie der früheren griechischen Par­la­ments­präsidentin Zoi Konstantopoulou verfasst hat. Nach Ansicht der Autoren sind die EU und der Euro das Projekt herrschender neoliberaler Interessen zum Schaden der Bürger. »Wir müssen dem Irrsinn und der Unmenschlichkeit der aktuellen europäischen Verträge entkommen und sie von Grund auf erneuern, um die Zwangsjacke des Neoliberalismus abzustreifen, den Fiskalpakt aufzuheben und TTIP zu verhindern«, schreiben sie in dem Aufruf »Ein Plan B für Europa«. Die Demokratien der Mitgliedstaaten bräuchten Luft zum Atmen und den politischen Raum, »der ihnen die Möglichkeit gibt, sinnvolle Politik auf einzelstaatlicher Ebene voranzubringen«. Denkbar seien die Einführung eines parallelen Zahlungssystems, Parallelwährungen, digitalisierte Euro-Transaktionen, der Austritt aus der Euro-Zone sowie die Umwandlung des Euro in eine (demokratische) Gemeinschaftswährung. Eigentlich sollten weitere Schritte auf einer Konferenz in Paris am 14. November besprochen werden. Wegen der Terroranschläge musste das Treffen jedoch kurzfristig abgesagt werden.
Trotz aller berechtigten Kritik an der Sparpolitik bleibt die Frage, was mit diesen Plänen eigentlich erreicht werden soll. Die nationalen Regierungen könnten vielleicht wieder eine eigene Währungspolitik betreiben und beispielsweise die jeweilige Landeswährung abwerten, um komparative Vorteile zu erzielen. An der Misere würde dies jedoch auf Dauer wenig ändern.
Die Gemeinschaftswährung hat den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf innerhalb Europas in ein fiskalisches Korsett gezwungen, von dem besonders Deutschland profitiert. Die dadurch entstanden Disparitäten in Europa ließen sich nur über eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik halbwegs ausgleichen. Die Löhne in Deutschland müssten stark ansteigen und wirtschaftlich schwache Regionen Investitionen erhalten.
Eine Rückkehr zu nationalstaatlichen Lösungen würde hingegen zu einem Wettlauf der Abwertung, mitsamt der damit einhergehenden Inflation führen. Keynesianismus in einem Land ist heute in Europa nicht mehr möglich. Am Ende profitieren gerade jene, in deren Namen dieser Plan vorangetrieben wird, wenig davon.
Selbst durch einen Euro-Austritt könnte Griechenland wohl kaum seine volle Souveränität wiedererlangen. Ohne eine nennenswerte Indus­trie und ohne Chance, auf den Finanzmärkten Kredite aufnehmen zu können, wäre der Spielraum jeder Regierung extrem beschränkt. Allein durch Drachme, Umverteilung und Verstaatlichungen könnte Athen die Sparpolitik nicht beenden, sondern müsste weiter Mangelverwaltung betreiben. Hilfe könnte nur von Kreditgebern außerhalb Europas kommen. Doch ob Russland oder China dazu bereit und in der Lage sind, darf bezweifelt werden. Bliebe nur der Internationale Währungsfonds, der sicherlich nicht zu den großen Hoffnungsträgern der Linken gehört.

Mit vergleichbaren Problemen wäre auch die mögliche neue Linksregierung in Portugal ­konfrontiert. Die Coligação Democrática Unitária (CDU), das Bündnis aus Kommunisten und Grünen, und der Bloco de Esquerda fordern eigentlich einen Ausstieg aus dem Euro. Die bis vor kurzem amtierenden Konservativen hatte der Bloco als »deutscher als die deutsche Regierung selbst« kritisiert und die Euro-Zone als »Diktatur« bezeichnet. Eine Debatte um einen Euro-Ausstieg wie in Griechenland ist jedoch von dem Linksbündnis kaum zu erwarten. »Syriza war zu selbstsicher«, hat Catarina Martins, Vorsitzende des Bloco, kürzlich gesagt, »wir müssen vorsichtiger sein.« Ebenso wie die CDU will sie auf einen Euro-Austritt verzichten, wenn António da Costa, Generalsekretär der Sozialistischen Partei und möglicher Ministerpräsident, nichts unternehme, »was der Arbeiterklasse und den Rentnern schade«. Wolfgang Schäuble wird in Berlin die Botschaft sicherlich bereits vernommen haben.