Ein Besuch in Stalins Geburtsort Gori

»Stalin good, Putin good«

Die georgische Stadt Gori ist sehr stolz auf ihren berühmtesten Sohn. Ein Besuch zum 137. Geburtstag von Josef Dschugaschwili.

Stalin bleibt auf dem Bauhof. Anfang Oktober hat der Rat der georgischen Stadt Gori nach einer erhitzten Debatte entschieden, dass die sechs Meter hohe Bronzestatue des ehemaligen Diktators nicht wieder aufgestellt wird. Bis 2010 stand das Monument vor dem Rathaus von Gori. So lange wie kein anderes Stalin-Denkmal vergleichbarer Größe. Chruschtschows Entstalinisierung, Gorbatschows Perestroika, Georgiens Unabhängigkeit: Das alles konnte dem bronzenen Stählernen nichts anhaben. Nicht hier, nicht in der Stadt, in der der echte Stalin am 18.Dezember 1878 als Josef Dschugaschwili geboren wurde. Bis zu dieser Juninacht vor fünf Jahren. In der Dunkelheit rollten damals Polizeikräfte an und sorgten dafür, dass das Ding von seinem über zehn Meter hohen Basaltsockel gestürzt wurde. Seither liegt es kopfüber auf einem Bauhof außerhalb von Gori. Und das finden viele hier gar nicht gut. Jahrelang forderten lokale Initiativen die Wiederaufstellung des Monuments. Die letzte Petition unterschrieb fast ein Fünftel der 58 000 Einwohner von Gori. Nun heißt es trotzdem ara! Nein! Giorgi will sich zu der Debatte nicht äußern. Dafür weiß er ganz andere Dinge zu berichten über den berühmtesten Sohn seiner Stadt. Zum Beispiel, wie Stalin so als kleiner Bub war. Ein strebsames Kerlchen, das Sosso genannt wurde, romantische Gedichte verfasste, im Kirchenchor stets der Beste war, Mutter und Vater liebte und so weiter. Dann wurde er irgendwie revolutionär. Giorgi, Ende 20, groß und stark, glattgebügeltes weißes Hemd, verbindet seine Ausführungen über Sosso mit exakt zwei immer wiederkehrenden Gesten: beide Daumen in die Hosentaschen oder Hände zusammengefaltet vor dem Oberkörper. Er hat etwas Roboterhaftes, wenn er redet. Und er redet unglaublich schnell. Deshalb ist das Detail, wie aus Sosso über Umwege Stalin wurde, auch irgendwie an uns vorbeigerauscht. Aber gut, im einzigen staatlichen Stalin-Museum der Welt herrscht Hochbetrieb an diesem Dienstagnachmittag. Russen und Weißrussen, Deutsche, Polen und Ukrainer: Das mit Abstand krudeste Museum der kleinen Kaukasusrepublik Georgien erfreut sich vor allem bei ausländischen Besuchern großer Beliebtheit. Und Giorgi, unser Museumsguide, hat nicht die Zeit, alles dreimal zu wiederholen. Der pompöse Bau am Ende der Stalin-Allee – keine 700 Meter vom Stalin-Platz entfernt, über den bis vor fünf Jahren der Bronze-Stalin wachte – wurde 1957 eröffnet, ein Jahr nach der berühmten Rede Chruschtschows vor dem XX. Parteitag der KPdSU. Zwar sind die glorreichen Zeiten, als das Museum jährlich eine halbe Million Menschen anzog, auch schon mehr als 30 Jahre vorbei. »Aber es ist immer noch eines der meistbesuchten Museen Georgiens«, sagt Lasha Bakradze, Experte für das Phänomen der Stalin-Verehrung in Georgien. Der Professor an der Staatlichen Ilia-Universität in der Hauptstadt Tiflis schätzt, dass das Josef-Stalin-Hausmuseum, wie es offiziell heißt, über 100 000 Besucher im Jahr zählt. Gori ist nach wie vor eine Pilgerstadt. Wenn auch eine durch und durch trostlose. Breite, schmucklose Straßen und überdimensionierte Plätze: Die sechstgrößte Stadt Georgiens, rund 80 Kilometer nordwestlich von Tiflis, ist nicht unbedingt ein städtebauliches Kleinod. Daran ändert auch die winzige historische Altstadt unterhalb der Reste einer mittelalterlichen Felsenfestung nichts. Viele der in den vergangenen Jahren restaurierten Gebäude stehen leer, kaum einer verirrt sich hierher. Dabei hatten die Sowjets einst Großes vor mit Gori. Die Stadt – 1920 durch ein Erdbeben schwer beschädigt – sollte das Herz der georgischen Nahrungsmittel- und Baumwollindustrie werden. Mehrere Generalbaupläne sorgten dafür, dass Gori ein vollkommen neues, nach damaligem Geschmack modernes Gesicht erhielt, mit Stalin-Museum, Stalin-Denkmal und Stalin-Allee im Zentrum. Fast 70 000 Menschen lebten 1989 in Gori. Wäre es nach den Generalplanern gegangen, hätte die Stadt zur Jahrtausendwende die 100 000er-Marke überschritten. Von nichts ist Gori heute weiter entfernt als von Großstadtträumen. Mit dem Ende der Sowjetunion ging es auch hier nur noch in eine Richtung. Nämlich bergab. Das Wollkombinat und mit ihm zahlreiche andere Industriebetriebe machten dicht. Ein Aufschwung, wie ihn Tiflis oder der beliebte Schwarzmeer-Badeort Batumi nach der »Rosenrevolution« und der Wahl von Mischa Saakaschwili zum Präsidenten im Jahr 2003 dann doch noch erlebten, fand in Gori nicht statt. Bauboom und Investoren: Fehlanzeige. Über der Stadt mit ihren ganzen Büdchen, kleinen Handy-Läden und lauten Auto-Werkstätten, ihren überflüssig vielen Apotheken und grellen Kosmetik-Salons liegt eine bleierne Schwere. Etwas Deprimierendes. Etwas Postsowjetisch-Neunzigermäßiges. Dazu passt der örtliche Vergnügungspark am beißend riechenden Fluss Liachwi, der zwar passabel besucht ist, seine beste Zeit aber auch schon lange hinter sich hat. Dazu passen die alten Frauen, die sich am Busbahnhof ein paar Lari mit dem Verkauf von Tinnef dazuverdienen. Dazu passt der abendliche Stromausfall, den die meisten Touristen schon gar nicht mehr mitbekommen, weil sie längst weitergereist sind. »Gori hat ja auch nicht viel zu bieten. Touristen, die hierher kommen, wollen eigentlich nur eines: das Stalin-Museum sehen. Ohne Stalin wäre die Stadt völlig in Vergessenheit geraten«, sagt Lasha Bakradze. Das zweistöckige Stalin-Museum erinnert mit Säulengang und Türmchen architektonisch an italienische Renaissance-Paläste. Drinnen hingegen: der Traum jedes MLPD-Funktionärs. Vier große Hallen und ein kleinerer Raum voll mit Stalinaria: Paradeuniformen, Pfeifen, Büsten, Wandteppiche, Totenmaske, Geschenke zum 70. Geburtstag, dazu Zeitungsausschnitte, Karten, Dokumente und Fotos über Fotos, die teilweise leicht schief hängen. Stalin neben Lenin, Stalin neben alter Frau, Stalin herzt Kind. Und mittendrin – zumindest heute – ein Kuchenempfang für Seniorinnen. Stimmung will hier nicht so recht aufkommen, vielleicht liegt es an den vielen Stalin-Büsten. Das war’s eigentlich auch schon. Jedenfalls für den regulären Preis von zehn Lari, rund vier Euro. Wer noch fünf Lari draufpackt, bekommt auch noch Giorgi, wahrscheinlich aber eher eines der vielen älteren Semester des Museumspersonals als wohlfeile Stalin-Experten an die Seite gestellt. Diese kleine Mehrinvestition öffnet letztlich auch sonst verschlossene Türen. Draußen etwa, vor dem Museum, zu Stalins Geburtshaus, einer kleinen Hütte, die bereits 1937 vom Stadtrand in die Stadtmitte gekarrt wurde, um unter einem tempelähnlichen Betonbaldachin der Nachwelt erhalten zu bleiben. Oder zu Stalins gepanzertem Salonwagen, neben dem Museum, in dem sich gerade zwei aufgeregte weißrussische Touristinnen gegenseitig fotografieren. Oder zu dem Kellerkabuff unter der großen Empfangstreppe des Museums. In einer Nische ist eine kleine Gefängniszelle nachgebaut, an den Wänden davor hängen unkommentiert ein paar georgische Schriftstücke, drei ausgefranste Kleider und einige Farbaufnahmen aus dem jüngsten Krieg der Kaukasus-Republik, dem Krieg um die seit Anfang der neunziger Jahre abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien. Das war im Sommer 2008. »Ist den georgischen Opfern des Stalinismus gewidmet«, sagt Giorgi, der uns ohne weitere Erklärung schnell wieder aus dem Raum herausbugsiert und die Tür verriegelt. Auf den Zusammenhang muss man auch erstmal kommen. Aber geschenkt. Der russisch-georgische Krieg von 2008, der hier im Keller mit den Gulags zusammengequirlt wird, ist in Gori ja durchaus noch präsent. Rund 20 Kilometer von Südossetien entfernt und unweit der wichtigsten Ost-West-Route Georgiens gelegen, stand Gori wie keine zweite georgische Stadt im Zentrum der Kampfhandlungen. Als Antwort auf die Bombardierung der südossetischen Hauptstadt Zchinwali durch georgische Truppen schickte die russische Armeeführung erst Kampfflieger, dann wurde Gori besetzt. Ein fünf Tage nach Beginn der Kämpfe ausgehandelter Waffenstillstand beendete den Spuk alsbald, die russischen Truppen ­zogen sich nach Südossetien zurück. Für den damaligen Präsidenten Saakaschwili war die ganze Aktion ein Desaster. Die nur von wenigen Staaten weltweit anerkannten Republiken Abchasien und Südossetien rückten fortan noch enger an Russlands Seite, während die Popularität Saakaschwilis rasend schnell absackte. 2012 verlor seine prowestliche Partei erst die Parlaments-, ein Jahr später schließlich auch die Präsidentschaftswahlen. Seither regiert das Bündnis »Georgischer Traum«, eine merkwürdig programmlose, aber weitaus weniger kriegerische Allianz, hinter der der Oligarch Bidsina Iwanischwili steht, der reichste Mann Georgiens. Das Bündnis vereint Liberale, Konservative und Nationalisten, daneben Geschäftspartner Iwanischwilis und von Saakaschwili seinerzeit abgesägte Funktionsträger. Einzige Gemeinsamkeit: die Gegnerschaft zu Saakaschwili. Und wenn auch von inniger Freundschaft zu Russland nicht die Rede sein kann – die staatlichen Beziehungen haben sich unter dem Geor­gischen Traum immerhin entspannt. Man sollte meinen, Gori reagiere gereizt auf derlei Tauwetter. Human Rights Watch zufolge sind 2008 fast ein Dutzend Zivilisten in Gori durch russische Bomben ums Leben gekommen, an vielen Häuserfassaden finden sich noch heute Einschusslöcher, in und um Gori leben Tausende Binnenflüchtlinge in zum Teil erbärmlichen ­Verhältnissen. Aber Gori wäre nicht Gori, wenn dem so wäre. Denn nicht wenige hier rechnen es dem General der russischen Besatzer von 2008 hoch an, dass seine erste Handlung darin bestand, am Stalin-Denkmal Blumen niedergelegt zu haben. Oder mit den Worten des ergrauten Busfahrers, der auf dem Markt von Gori auf Gäste wartet: »Stalin good, Putin good.« Im Kreml brennt noch Licht, Stalin schläft noch nicht? »Was außerhalb Georgiens kaum wahrgenommen wird, ist die Tatsache, dass wir seit 2012 permanent mit antiwestlicher Propaganda berieselt werden, die mit russischem Geld finanziert wird«, sagt Lasha Bakradze. Die unterm Strich prorussische Medienkampagne verfehle nun mal nicht ihre Wirkung, vermutet Bakradze. Stalin und Putin – das scheint bei manchen Georgiern ganz gut zusammenzugehen. So ließ sich Ende Oktober auch ein Vertreter der kleinen Prorussen-Fraktion innerhalb der ­Regierungspartei Georgischer Traum in einer Talkshow dazu hinreißen, Stalin als brillantesten Politiker des 20. Jahrhunderts zu preisen. Gogi Topadze, Vorsitzender einer Partei mit dem seltsamen Namen »Die Industrie wird Georgien retten«, forderte, es müsse endlich Schluss damit sein, schlecht über den Diktator zu sprechen. Folgt man einer 2013 veröffentlichten Studie der Carnegie-Stiftung, drängt sich der Eindruck auf, dass der im Land auch als Bierkönig bekannte Unternehmer Topadze mit seiner Meinung nicht allein steht. Demnach haben 45 Prozent der Georgier ein positives Bild von Stalin, sogar 68 Prozent der Befragten nannten ihn einen »weisen Führer«. Das dürfe man nicht falsch verstehen, sagt Lasha Bakradze, der selbst an der Studie beteiligt war. »Bei den wenigsten hat das einen ideologischen Hintergrund. Wir sprechen hier von einem geradezu provinziellen, folkloristischen Phänomen.« In Gori sowieso, aber auch allgemein in Georgien. Stalin, so Bakradze, »ist immer noch der bekannteste Georgier außerhalb Georgiens. Das macht die Leute stolz – und unkritisch.« Ein Grundübel sieht er in der miserablen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte. Zum ­einen habe es nach der Unabhängigkeit Georgiens Dringlicheres gegeben, zum zweiten habe schlichtweg ein größeres Interesse daran gefehlt. »Und das ist bis heute so.« Dem Stalin-Museum soll’s recht sein. Denn nicht nur die seit 1979 kaum veränderte Hauptausstellung scheint in einer Zeitschleife hängengeblieben zu sein, auch das Museumspersonal wirkt so. Die Ticketverkäuferin, die gelangweilt ins Nichts starrt. Die als Rotarmistin kostümierte Angestellte im Souvenirshop, die gelangweilt ins Nichts starrt. Die Aufseherinnen, die gelangweilt ins Nichts starren. Und auch Giorgi, unser Museumsguide, ist so ein Zeitschleifenkandidat, wie er da so über das Leben des Genossen Stalin komsomolzt. Lenins Testament, in dem dieser die Partei vor zu viel Machtfülle für Stalin gewarnt hatte? Bewusst falsch interpretiert von Stalins Feinden, sagt Giorgi. Die Säuberungen in den dreißiger Jahren, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen? Ja, ja, stimmt schon, damals wurde viel ­exekutiert: »Aber nur Männer, keine Frauen und Kinder.« Und generell könnten die Säuberungen nicht Stalin angehängt werden. »Stalin hat nie einen Befehl unterschrieben«, sagt Giorgi. Irritierter Blick. Hat er das jetzt wirklich gesagt? Und dazu: »Das können Sie in vielen angesehenen Veröffentlichungen nachlesen.« Ohnehin wird der Mann langsam ungeduldig angesichts der Nachfragen. »Es geht uns in dem Museum nicht um Personenkult. Wir erzählen die Geschichte nur so, wie sie war.« Sprach’s und verschwand. Das Stalin-Museum sei eben ein seltsamer Ort, findet Lasha Bakradze. Seltsam hölzern. Seltsam primitiv. Seltsam armselig. Doch was tun? Dichtmachen? Abreißen? Auf gar keinen Fall, sagt Bakradze. Man solle die Ausstellung genau so lassen. All den Kitsch, all die schiefen Bilder, all die muffigen Wandteppiche. Man müsse nur geschickt den Fokus verändern. »Meine Idee ist, dass die Ausstellung von einer Parallelausstellung über das Original demontiert wird, die zeigt, wie verlogen die damalige Propaganda war.« Ein Museum, das nicht Stalin huldigt, sondern stalinistische Propaganda begreifbar macht. »Es wäre schade, diese Armseligkeit und Primitivität nicht zu nutzen.« Allein, die Chancen für ein solches Museums­experiment stehen schlecht in Gori. Vor allem, weil die ehrfurchtsvoll dreinschauenden Sowjetnostalgiker dann ebenso ausbleiben könnten wie die kichernden Wie-krass-ist-das-denn-Reisegruppen aus aller Welt. Wahrscheinlicher ist da schon, dass der Sechs-Meter-Bronze-Stalin von Gori früher oder später doch noch aus seinem Bauhof­exil geholt wird. Bonjour Tristesse.