Auch französische Intellektuelle rücken nach rechts

Der Krieg der Ideen

Nach den Anschlägen von Paris diskutieren französische Intellektuelle über ihr politisches Selbstverständnis. Bereits in den Monaten zuvor war in diesen Kreisen eine Popularisierung reaktionärer Meinungen festzustellen. Das Fehlen intellektueller Größen in der Linken ist deutlich zu spüren.

Stell Dir vor, es ist Krieg – und alle meinen, sie müssten etwas dazu sagen. Ungefähr so schien sich die ­Situation in den Tagen nach den Attentaten in Paris vom 13. November darzustellen. Zwar ist die Bezeichnung der Terroranschläge und der durch sie geschaffenen Situation als »Krieg« – ein Wort, das Staatspräsident François Hollande in seiner ersten Rede nach den Anschlägen zehnmal benutzte – umstritten. Diverse Intellektuelle aber fühlen sich so ermutigt, ihren je eigenen Kommentar abzugeben. Die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde erhält etwa für ihre Debattenseite derzeit 150 Beiträge pro Tag, mehr als dreimal so viel wie üblich. Nur einen Bruchteil kann sie veröffentlichen.
Einige Diskussionsbeiträge können tatsächlich zur Erhellung der Lage beitragen, etwa wenn der Politologe Olivier Roy oder der Soziologe Farhad Khosrokhavar die Rekrutierungsmechanismen jihadistischer Sekten in Europa analysieren. Aber viele Intellektuelle greifen eher zu groben Keilen als zu subtilen Untersuchungsinstrumenten. Manche von ihnen nutzen die Gunst der Stunde für Statements, in denen sie ihre Meinung über die sogenannte po­litische Klasse preisgeben.
Michel Houellebecq etwa setzte in einem Brief an die italienische Zeitung Corriere della Sera zum Rundumschlag gegen die, seinen Worten zufolge, restlos diskreditierte politische Klasse an, blieb aber weitgehend auf der Ebene der Pöbelei. »Die unglückliche Situation, in der wir uns befinden«, schreibt er dort, »ist unseren politischen Verantwortlichen geschuldet. (…) Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der bedeutungslose Opportunist, der den Posten des Staatschefs besetzt, oder die eines geistig Minderbemittelten würdigen Akte des Premier­ministers, von den sogenannten Sprechern der Opposition (LOL) ganz zu schweigen, ehrenhaft aus dieser Episode herauskommen.« In der Folge greift er die Politiker wegen des Stellenabbaus bei der Polizei in den vergangenen Jahren und der Verringerung der innereuro­päischen Grenzkontrollen an. Aber auch wegen der »absurden und kostspieligen Operationen der französischen Armee«, die Länder wie »Libyen und den Irak ins Chaos gestürzt» habe, bevor Houellebecq sich korrigiert – Frankreich habe ja beim letzten Irak-Krieg gar nicht mitgemacht.
Ähnlich betrachtet die Bilanz der militärischen Intervention im Nahen Osten auch der Philosoph Michel Onfray. Er ist in der jüngsten Zeit einer der am häufigsten in den Medien präsenten Intellektuellen.
Onfray stammt aus ärmlichen Verhältnissen und baute ab 2002 die Université populaire im normannischen Caen auf, eine Art Volkshochschule mit gesellschaftspolitischen Inhalten. In jüngster Zeit erwies er sich zunehmend als fernsehkompatibel und der Vulgarisierung von Inhalten nicht abgeneigt. Onfray kommt ursprünglich aus der libertären Linken, noch 2007 rief er zur Wahl des linken Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot auf. Seit kurzem betont er aber, nicht länger an eine Überwindung des Kapitalismus zu glauben. Neben ursprünglich stark im Vordergrund stehenden antiautoritären, teilweise individualistischen Ansichten bilden der Atheismus und das Zurückweisen jeglicher Suche nach Transzendenz zentrale Elemente seines Denkens – auch wenn diese Positionen in Widerspruch zu geraten schienen, als er im Frühherbst ein Loblied auf angeblich »laizistische Diktatoren im Nahen und Mittleren Osten« anstimmte. Als dezidierter Gegner westlicher Militäreinsätze behauptete Onfray, gegenüber der Barbarei solcher Interventionen und jener der Jihadisten seien manche Regime – unausgesprochen waren wohl das vormalige libysche und das amtierende syrische gemeint – das kleinere Übel.
Ein anderer Satz von ihm, der im September fiel, fand sich am 20. November ausgerechnet in einem Video des »Islamischen Staats« (IS) wieder. In ihrem fünften Bekennervideo zu den Pariser Mordattacken hatte die jihadistische Organisation, die über kompetente Informatiker und Medienexperten zu verfügen scheint, mehrere Ausschnitte aus französischen TV-Sendungen eingebaut. Dabei kam auch ­Michel Onfray, ganz und gar unfreiwillig, zu Wort. Und zwar mit der Aussage: »Wir in Frankreich sollten aufhören, muslimische Bevölkerungen auf dem gesamten Planeten zu bombardieren.«
Infolge der Pariser Attentate befand sich Onfray in einem gewissen Dilemma. Denn einerseits ist er der Auffassung, wie er per Twitter-Mitteilung erklärte, dass Frankreich eine »islamophobe Politik« betreibe. »Rechte und Linke« im Land hätten, führte Onfray aus, »auf internationaler Ebene den Krieg gegen den politischen Islam gesät, und ernten nun auf nationaler Ebene den Krieg des politischen Islam.« Dies machte ihn für das IS-Video instrumen­talisierbar. Auf der anderen Seite ist er gewiss nicht als Islamfreund einzustufen, was auch immer man darunter versteht. Seit seinem »Handbuch der Atheologie« hat er sich immer wieder wieder als Kritiker aller monotheistischen Religionen, denen Krieg und Gewalt vielfach eingeschrieben seien, profiliert.
Am 27. Januar 2016 sollte ein Buch von ihm unter dem Titel »Penser l’islam« erscheinen, in dem er diese These speziell am Beispiel des Islam ausführt. Infolge der Kritik von mehreren Seiten zog er das Buchprojekt zurück. Es soll in absehbarer Zeit nicht in Frankreich erscheinen, weil man dort »nicht mehr in Ruhe diskutieren« könne, möglicherweise aber im Ausland. Auch sein Twitter-Konto schloss Onfray, um, wie er erklärte, zur Arbeit an den Schreibtisch zurückzukehren. Die angebliche »Unmöglichkeit zu diskutieren« – dieses Schlagwort fiel in Frankreich auch schon vor den Mordanschlägen vom 13. November. Und auch schon vor den Attentaten war Onfray Gegenstand so mancher Polemik.
In den Herbstmonaten hatte sich die intellektuelle Diskussion zunächst deutlich verschärft. »Der Krieg der Ideen ist erklärt – Antirassist, du verlierst die Beherrschung!« hieß es beispielsweise auf dem Titel der Novemberausgabe von Causeur (ungefähr: Schwätzer), einem aggressiv neokonservativen bis reaktionären, erklärtermaßen »politisch unkorrekten« Monatsmagazin. Ein Krieg, den Elisabeth Lévy, die Herausgeberin des Magazins, in der Wochenendausgabe des Figaro vom 7. November allerdings schon wieder für beendet erklärte. Mit folgendem Ausgang: »Die lynchwütige Linke hat verloren!« Die Titelseite der Ausgabe zierte eine Fotomontage: Ein junger Mann mit Taucherbrille versucht, mit dem Baseballschläger einen Fernsehbildschirm zu zertrümmern, auf dem der Journalist und Kommentator Eric Zemmour zu sehen ist. Zemmours Tiraden zu Themen wie Einwanderung und »nationaler Identität« sind längst berüchtigt. Unter dem Bild heißt es: »Alain Finkielkraut antwortet auf die Hexenjagd« – gemeint ist jene, welche die sogenannten politisch Korrekten eröffnet hätten. In jüngster Vergangenheit sah der kulturkonservative Philosoph Finkielkraut nicht nur das kulturelle Niveau durch den Einfluss von Massenkultur und neue Kommunikationstechnologien bedroht, er äußerte sich auch betont negativ über Neuzuwanderung.
Bei der linksliberalen Tageszeitung Libération fühlte man sich plagiiert und verwies sogleich auf das Titelblatt einer Mitte Oktober erschienenen Wochenendausgabe. Abgebildet war der Rücken einer jungen Person, die einen Gegenstand auf einen TV-Bildschirm wirft, auf dem wiederum Eric Zemmour prangt. Die Überschrift dazu lautete: »Sie widerstehen den Réacs« – eine Kurzfassung für Reaktionäre. In dieser Ausgabe ging Libération auf die Suche nach Köpfen, die nicht dem konstatierten allgemeinen Rechtsruck der Intelligenzija im Lande anheimgefallen sind.
Das sozialliberale Wochenmagazin L’Obs (früher Le Nouvel Observateur) wiederum kritisierte dieses Vorgehen und kopierte es dennoch: »Wer sind die neuen Intellektuellen auf der Linken?« fragte es auf der Titelseite. L’Obs hält jedoch zugleich die Methode der Kollegen von Libération für ungeeignet: »Nach Jahren, in denen man engagiertes Denken kritisierte (…), sucht man nun mit aller Kraft nach kämpferischen Linksintellektuellen. (…) Der Linksintellektuelle wurde auf einmal zur geschützten Spezies. Man versucht, ihm ein Biotop einzurichten, man verwöhnt ihn. Man kann jedoch schwerlich ignorieren, dass man auf diese Weise nicht Löwen züchtet, die einen ideologischen Guerillakrieg gegen die Lautsprecher der gefährdeten französischen Identität oder die kulturelle Verunsicherung führen« – mit erstem ist Zemmour gemeint, letzteres bezieht sich auf Finkielkraut –, »sondern nur gefügige Zuchtschafe.«
Allen gemeinsam ist die mal als pointierte geistige Kampfaufforderung, mal mit viel Larmoyanz und Katzenjammer vorgetragene Feststellung, dass es die großen, fachlich anerkannten und zugleich politisch oder sozial engagierten Intellektuellen vom Format eines Jean-Paul Sartre, Michel Foucault oder auch ­Pierre Bourdieu nicht mehr gebe. In der Linken herrsche, gemessen an den Geistesgrößen verflossener Zeiten, ein intellektuelles Vakuum. Gefüllt werde es von rechten, konservativen, reaktionären und populistischen Gestalten. Oder von solchen, die von links nach rechts herüberwanderten.
Die Feststellung eines Rechtsrucks bei einem Teil der französischen Intellektuellen machte sich in den vergangenen Wochen vor allem an Michel Onfray fest. In einem Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro vom 11. September hatte er unter anderem einen Gegensatz aufgemacht zwischen »dem französischen Volk, meinem Volk«, das durch die politische Klasse zugunsten einer proeuropäischen Orientierung und des Wirtschaftsliberalismus »im Stich gelassen, aufgegeben» werde – und der angeblich privilegierten Behandlung von Neuzuwanderern.
Manche Passagen erinnern an Jürgen Elsässer, als dieser mit seiner Behauptung, Randgruppen würden privilegiert, abzudriften begann. Bei Onfray heißt es: »Das französische Volk wird missachtet, seitdem François Mitterrand im Jahr 1983 den Sozialismus auf den Kurs des wirtschaftsliberalen Europas brachte. Dieses Volk, unser Volk, mein Volk wird zugunsten von Ersatz-Mikrovölkern vergessen, zugunsten der Ränder, die das Postachtundsechzigerdenken feierte – die Palästinenser und die Schizophrenen von Deleuze, die Homosexuellen, die Verrückten und die Gefangenen bei Foucault, die Mischlinge bei Hocquenghem und die Ausländer bei Schérer, die illegalisierten Migranten (sans papiers) bei Badiou.«
Indirekt rechtfertigt Onfray an derselben Stelle auch den Teil der französischen Bevölkerung, der für Marine Le Pen stimmt, oder rati­onalisiert jedenfalls dessen Verhalten, das allein auf wirtschaftliche Not zurückgeführt wird: »Dass ein bankrotter Landwirt, ein Langzeitarbeitsloser, ein junger Hochschulabgänger ohne Stelle, eine alleinerziehende Mutter, eine Kassiererin mit Mindestlohn, ein Älterer mit geringer Rente, ein Handwerker kurz vor der Pleite sagen: ›Und was tut man für mich, während man die Verbrüderung mit der aufgenommenen ausländischen Bevölkerung in den Abendnachrichten des Fernsehens feiert‹ – ich sehe darin nichts Obszönes. Auch keine Fremdenfeindlichkeit. Nur ein Leiden. Die Republik darf nicht taub für die Leiden ihrer eigenen Leute sein.«
Vier Tage später erschien in Libération eine mehrseitige Entgegnung von Laurent Joffrin, dem Herausgeber der Zeitung. Er argumentierte für die Anerkennung und Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten und wandte sich gegen die Vorstellung, es gebe zwischen ihrem geringen Erfolg und angeblichen Großzügigkeiten gegenüber Ausländern eine Verbindungslinie. Der Artikel wiederum führte bei der sich als antikonformistisch verstehenden, oft schwülstig-patriotischen Wochenzeitschrift Marianne zu einem wütenden Aufschrei. Eine Zensur durch die politischen Korrekten sei am Werk, man dürfe aber auch gar nichts mehr sagen, tönte es von dort, weinerlich und zornig zugleich. Und flugs organisierte die Chefredaktion, unter Leitung des Zeitungsgründers Jean-François Kahn, für den 20. Oktober eine Diskussionsveranstaltung. Unter dem Titel »Kann man in Frankreich noch debattieren?« wurde in den 1 500 Menschen fassenden Mutalité-Saal ge­laden.
Die Veranstaltung geriet zum peinlichen Flop. Eigentlich hatte sie dazu dienen sollen, die ­angeblich durch die Gutmenschen verriegelten Fenster zu öffnen und den frischen Wind offener Diskussionen ins Land wehen zu lassen. Tatsächlich aber trugen zehn ausgewählte Persönlichkeiten viertelstündige Besinnungsaufsätze vor, die sich in keiner Weise aufeinander bezogen und die man ohne inhaltlichen Verlust auf ein oder zwei Sätze hätte zusammenkürzen können. Der liberale Journalist Jacques Julliard etwa behauptete in seiner langatmigen Rede, in Frankreich arte eine Debatte immer gleich in einen geistigen Bürgerkrieg aus – so wie die Revolution von 1789 direkt eine Konterrevolution hervorgerufen habe. Stattdessen müsse man doch mal über alles in Ruhe reden können. Gegen 23 Uhr wurden die Saalmikrophone gereicht, »für ein paar Fragen, aber bitte kurz, denn in zehn Minuten muss der Saal freigegeben sein«. Die empörten Wutschreie des Publikums wurden auch in den übrigen Medien registriert.
Michel Onfray, einmal als »politisch unkorrekt» etikettiert, legte unterdessen nach und ist auf dem Ende Oktober erschienenen Titelbild von Eléments zu sehen, einer von rechts­extremen Intellektuellen unter Führung von Alain de Benoist herausgegeben Zeitschrift. In dem siebenseitigen Gespräch schlägt er zwar ­einige Orientierungs- und Formulierungsangebote der Interviewer aus. Sein Geschichtsbild dürfte den Rechtsintellektuellen dennoch gefallen. Onfray verwirft das auf »linearen Fortschritt« – im Sinne einer Höherentwicklung der Menschheit – aufbauende Geschichtsbild, das ihm zufolge Christentum und Marxismus gemeinsam sei. Stattdessen bemüht er Oswald Spengler und Ernst Jünger, denen zufolge die Geschichte in Zyklen verlaufe, Zivilisationen auf- und verblühten. Gegenwärtig stehe der Westen vor dem Abgrund – und »Jünger hatte recht damit, aus der Titanic ein Sinnbild dieser Zivilisation zu machen«.