Ausprobiert, die Serie über Sportarten. Teil 18: Skifahren

Ski heil, ficken und Heidegger

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 18: Skifahren. Das einst gängige Hardcore-Skifahren ist vorbei – und der Massensport bald auch.

Wie arabische Prinzen und Prinzessinnen, denke ich, wenn ich in der Glotze Skifahrer sehe, egal ob Profis oder Hobbysportlerinnen, die auf weißen Kunstschneebändern, die sich über die herbstlich und verbraucht wirkenden Brauntonlandschaften ziehen wie billiges Lametta auf verdorrten Christbäumen, ins Tal wedeln. Und dabei überkommt mich manchmal doch Nostalgie und ich erinnere mich an meine Kindheit und Jugend in den siebziger und achtziger Jahren. Das war nämlich das goldene Zeitalter des Skifahrens als Massensport sogar für Proletarier – zumindest dort, wo es Berge oder wenigstens Hügel gab, und wo es die nicht gab, stapften vor allem deutsche und skandinavische Menschen auf Loipen durch Wälder und über Wiesen. Und hatten manchmal Gewehre dabei: Biathlon. Wald und Knarren. Ein Kriegssport, der nirgendwo so beliebt ist wie in Deutschland und der auf die meisten Österreicher und alle anderen Nationen reichlich bizarr wirkt. Skifahren, das war mir als Kind klar, war das jedenfalls nicht, sondern irgend so eine Piefke-Spinnerei wie Saumagen, Modern Talking und eine Rote Armee Fraktion in einem Nato-Frontstaat.
Skifahren war was anderes, nämlich von weit oben nach weit unten rutschen, gleiten, kurven, um sich danach vom Schlepp- oder Sessellift wieder hinaufbefördern zu lassen, auf dass der Spaß erneut beginnen konnte.
Und echtes Hardcore-Skifahren ging so: Man fand einen frisch beschneiten Abhang vor und machte sich zunächst ans »Bretteln«, schnallte sich also die Skier an die Füße und stampfte sich seine eigene Piste aus dem Schnee. Das war brutal schweißtreibend, doch es diente direkt dem eigenen Vergnügen, denn dem Schwitzen folgte die rauschhafte Abfahrt, eine Parallele zu einem gelungenen Geschlechtsverkehr, doch das war mir damals natürlich noch nicht bewusst. Ich war noch unschuldig, ein brettelnder und Ski fahrender Naturbursche aus den Kärntner Bergen, umgeben von hübscher Landschaft, Nazis und katholischen Austrofaschisten.
Schon damals war mir nicht recht wohl dabei, wenn ich an Gruppen von Skianfängern vorbeifuhr, die von brüllenden Skilehrern dazu gedrängt wurden, auf den Ruf »Ski« mit einem donnernden »Heil« zu antworten. »Ski heil, Ski heil, Ski heil«. Das Gebrüll jagte mir eine Heidenangst ein. Auf den Hängen Kärntner Skigebiete entwickelte ich früh eine Abneigung gegen alle, die nach »Heil« schrien, denn ich sah, wie dieses Geschrei aus Individuen Gruppen formte, die ihrem »Skiführer« zu Willen waren und sich selbst die gröbsten Frechheiten von ihm gefallen ließen.
Die Touristen, die von Skilehrern nach allen Regeln der schwarzen Pädagogik gedemütigt wurden, schienen den herben Kommandoton aber zu genießen und manche Frauen waren hin und weg, wenn strenge, aber fesche Instrukteure sie nicht nur verbal zur Sau machten, sondern sie schamlos begrapschten, wozu die vielen Stürze gerade von Anfängerinnen natürlich reichlich Gelegenheit boten. Auf der Piste checkten die athletischen Skilehrer die, wie sie damals völlig selbstverständlich genannt wurden, »Skihäschen« aus und nach dem Après-Ski mit reichlich Alkohol wurde gepimpert, als gäbe es kein Morgen mehr. »Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd’«, dröhnte es aus der Jukebox, und Touristen wie Einheimische verhielten sich entsprechend. Was der resche Skilehrer der Touristin war, waren Zimmermädchen, Bardamen, Rezeptionistinnen und alle anderen im Tourismus beschäftigten Frauen dem Touristen. Nicht immer, aber oft war bei diesen sexuellen Kurzzeitbeziehungen Geld im Spiel, und in jedem österreichischen Wintersportort waren Geschlechtskrankheiten, ungewollte Schwangerschaften, Depressionen und Suizide ebenso weitverbreitete wie totgeschwiegene Begleiterscheinungen der großen Geldmaschine Tourismus, die aus ehemals bettelarmen Bergbauern Millionäre gemacht hatte, die sich sommers in der Karibik erholten und zu den angesehensten und einflussreichsten Bürgern ihrer Regionen aufstiegen, obwohl sie oft nichts anderes waren als bessere Zuhälter. Vor allem aber waren sie berüchtigte Arbeitgeber: Im Wintertourismus zu arbeiten, versprach ein gutes Einkommen, aber das wurde nicht nur durch fast permanente sexuelle Belästigung erkauft, sondern auch durch inhumane Arbeitszeiten. Monatelanges Durcharbeiten ohne einen freien Tag war der Deal, auf den sich einlassen musste, wer am Geschäft mit den Wintertouristen mitverdienen wollte, und sei es nur als Tellerwäscher.
Der aufmerksamen Leserin wird inzwischen aufgefallen sein, dass ich die Vergangenheitsform benutze. Das liegt daran, dass es mit dem Wintersport bald vorbei sein wird in den Alpen. Sogar eher begriffsstutzigen Zeitgenossen fällt inzwischen auf, wie rasch die Klimaerwärmung voranschreitet und dass selbst die modernsten Schneekanonen wenig gegen Winter ausrichten können, in denen Plusgrade zur Regel und winterliche Verhältnisse zur Ausnahme werden. Die klimatischen Veränderungen sind so stark, dass sie inzwischen sogar Auswirkungen auf die sportlichen Leistungen Österreichs haben. Der »Skination«, wie sie sich selber gerne nannte, gehen die Nachwuchstalente aus, denn Skifahren ist inzwischen wegen des Einsatzes immer komplexerer Beschneiungstechnologien so teuer geworden, dass es immer mehr zum exklusiven Vergnügen der Wohlhabenden wird. Und weil immer weniger Schnee fällt und liegenbleibt, können die ärmeren Schichten auch nicht wie noch in meiner Jugend auf irgendwelche Wiesen ausweichen, um das Skifahren zu erlernen.
Ich selber stand übrigens zuletzt vor über 25 Jahren auf Skiern, bei einem Schulskikurs. Danach verlor ich das Interesse daran. Ich zog in die Stadt und tauschte landschaftliche Schönheit gegen urbane Zivilisiertheit, was ich bis heute nicht bereue.
Vor einigen Tagen fuhr ich mit dem Auto in jenes kleine Skigebiet, wo ich als junger Mensch viele Tage verbracht hatte. Im Gepäck hatte ich Martin Heideggers Aufsatz »Schöpferische Landschaft – warum bleiben wir in der Provinz« – ein Aufsatz, der mit jedem Satz dümmer wird und sich in ein romantisierendes Naturdeppentum steigert, das in Winternächten wilde Schneestürme um Hütten rasen lässt und philosophisches Denken mit dem Widerstand der Tannen gegen Schneestürme vergleicht. Skifahren war für Heidegger das Erleben von Heimat und Natur, und beides hat er doch nur konstruiert und nicht einmal als das wahrgenommen, was es schon zu seinen Zeiten war. Was Heidegger als »Natur« missverstanden hat, war eine durch Bewirtschaftung geprägte Kulturlandschaft, die genauso sehr oder genauso wenig natürlich ist, wie es Wolkenkratzer sind.
Heideggers Quatsch noch frisch im Kopf, stieg ich aus dem Auto und sah mich um. Mitten in der ehemaligen Hochsaison des Wintersports rosteten Schneekanonen unbenutzt vor sich hin und ein trauriger Mann lehnte an ­einem Schneepflug, dem man nicht einmal mehr Ketten aufgezogen hatte, und er sah dabei aus wie ein Soldat eines verlorenen Krieges vor seinem Panzer.
Wir sahen einander kurz an und wussten wohl beide, dass schon für die Generation nach uns das Skifahren nur mehr eine in großen Hallen in arabischen Wüsten und vielleicht noch in wenigen Gletschergebieten stattfindende Bespaßung reicher Leute sein wird. Auf den Pisten, auf denen ich einst gen Tal schlitterte, wird dann vielleicht Wein wachsen, und aus Hoteliers werden wieder Bauern werden. Die Zimmermädchen und Skilehrer werden wieder Mägde und Knechte. Es sei denn, sie hauen rechtzeitig ab und lassen die alpinen Einöden so hinter sich, wie die zivilisierte Menschheit Heidegger hinter sich gelassen hat.