Die Linkspartei und die Flüchtlinge

Zu Gast bei Linken

Von Ivo Bozic

Die Flüchtlingsdebatte hat in der Links­partei einen Streit offengelegt, der bislang mühsam kaschiert werden konnte.

Im Oktober 2015 kletterten Abgeordnete verschiedener Parteien im Berliner Regierungsviertel in ein Schlauchboot auf der Spree. Sie wollten mal selbst fühlen, wie das so ist als Flüchtling. Vor allem Abgeordnete der »Linken« waren dabei, sie hatten für die kleine Kreuzfahrt eigens die wichtige Fraktionssitzung verschoben, bei der Gregor Gysis Nachfolge an der Fraktionsspitze gewählt werden sollte. Und so zog sich Dietmar Bartsch, der gerne das Amt übernehmen wollte, eine rote Schwimmweste über. Schließlich ließ sich auch seine Mitbewerberin Sahra Wagenknecht diese Bootstour nicht entgehen.

Als sie nach gut 20 Minuten wieder Festland unter den Füßen hatte, gab Wagenknecht zu Protokoll: »Genau einfühlen kann man sich nicht, aber die Enge kriegt man schon mit. Also, ich stelle mir das ganz schlimm vor, also furchtbar.« Die Bundestagsabgeordnete Kerstin Kassner raunte: „Das ist ja gruselig.“ Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jan van Aken war erleichtert, als die Rundfahrt über die wie immer spiegelglatte Spree vorbei war: »Es ist spannend. Aber bei der Vorstellung, 72 Stunden so eng zu stehen, in ständiger Angst und von Wellen durchgeschüttelt, da wird mir ganz schlecht.« Zum Glück war ein Arzt an Bord. Keine Reality-Show ohne Dr. Bob.
Die Frage ist: Hat die »Linke« eine solche Inszenierung nötig? Muss sie irgendwem beweisen, dass sie tatsächlich antirassistisch ist und hinter den Flüchtlingen steht? Ja und nein. In Sachen Flüchtlingspolitik ist die Partei eindeutig positioniert. »Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen«, heißt es im Parteiprogramm. Früher lehnte die PDS, heute lehnt »Die Linke« alle Asylrechtsverschärfungen konsequent ab. Wenn es in den vergangenen 20 Jahren für antirassistische Demonstrationen oder Aktionen wie etwa die »Grenzcamps« parteipolitische Unterstützung gab, dann von der PDS beziehungsweise Linkspartei. Und auch in der derzeitigen Krise der Flüchtlingsaufnahme sind in vielen Heimen und Anlaufstellen Funktionäre wie Basismitglieder der Partei sehr engagiert und helfen, wo sie können.
Doch das ist nur die eine Seite. Die andere ist ebenfalls altbekannt: immer wieder der Flirt mit dem Nationalismus und ein ins Völkische taumelnder Antikapitalismus. Hegten viele Linke in der Partei nach der Fusion mit der westdeutschen WASG 2007 noch die Hoffnung, das Abdriften der PDS in ein ostdeutsches Heimatschutzkomitee zu verhindern, zeichnete sich nach der Fusion schon bald die Gefahr ab, zu einem gesamtdeutschen Heimatschutzverein zu werden. Allein, dass mit Oskar Lafontaine einer der Betreiber des Asylkompromisses von 1993 – damals als SPD-Politiker – Parteivorsitzender wurde, musste Antirassisten die Knie weich werden lassen. Der schlaue Gysi wusste um das Konfrontationspotential, weshalb er bei der Fusion »strittige Fragen, etwa die Asylpolitik, ausklammern« wollte.
Zurzeit laufen Mitglieder der Partei aus allen Flügeln Sturm gegen Äußerungen von Sahra Wagenknecht, die der Presse sagte: »Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt.« Doch Wagenknecht zeterte schon immer bevorzugt gegen äußere Feinde, die Deutschlands Souveränität, also die des deutschen Volks, verletzten – »Fremdverwaltung« nennt sie das. Und ihr Ehemann Lafontaine forderte auch in den vergangenen Jahren, die Flüchtlingsmigration zu begrenzen. Lafontaine wie Wagenknecht werden nicht müde zu betonen, dass der Flüchtlingszuzug auf Kosten der sozial Schwachen hierzulande geschehe. Man kann das auch als klassischen Rechtspopulismus bezeichnen.
Wagenknechts Äußerung, nach der das Asylrecht eine zu jeder Zeit widerrufbare Höflichkeitsgeste sei, führte nun zu einem gepflegten Zusammenstoß in der Partei. Als »eine der heftigsten inhaltlichen Debatten« seit langem bezeichnete der Taz zufolge ein Teilnehmer die Fraktionssitzung am Dienstag voriger Woche, in der Wagenknecht von allen Seiten unter Beschuss genommen wurde, von Reformern ebenso wie von den sich als links bezeichnenden Flügeln. Doch es geht nicht einfach nur um ein Wagenknecht-Problem, um ein Ausscheren der »Lafo­dödel« (Bartsch). Auch Reformer Bartsch selbst machte es nicht viel besser, indem er Wagenknecht in derselben Pressekonferenz, statt zu widersprechen, noch beipflichtete: Straffällige Ausländer abzuschieben sei schließlich »die Rechtslage in Deutschland«.

Der Jugendverband Solid Sachsen-Anhalt wiedersprach vehement: »Eine solche Fraktionsspitze, die rassistische Politik gutheißt und die konsequente Durchsetzung bestehender rassistischer Gesetze einfordert statt deren Abschaffung, kann nicht für ›Die Linke‹ sprechen.« Der Spitzenkan­didat der »Linken« für die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im März, Wulf Gallert, kritisierte im MDR: »Wir können und dürfen das Asylrecht als Grundrecht nicht in Frage stellen. Wir dürfen es nicht auf ein Gnadenrecht reduzieren. Wir können daraus erst recht kein Ersatzstrafrecht machen.« Auch Gysi tadelte: »Das ist auf jeden Fall falsch formuliert.« Da man sich bei sozialen Forderungen zuweilen ähnele, müsse es immer »gerade bei der Frage der Flüchtlinge einen gravierenden Unterschied« zu den Rechtsextremen geben.
In der parteinahen Tageszeitung Neues Deutschland versuchte man zunächst, die Wogen zu glätten. In einem Kommentar wurde Wagenknechts Äußerung als »Fauxpas« verniedlicht. Doch in Leserbriefen und Internetkommentaren zeigte sich offen die Unterstützung für die Fraktionsvorsitzende. Leser Uwe Kaiser aus Hainichen (Mittelsachsen) schrieb: »Sahra Wagenknecht hat doch völlig recht: Wenn ich einen Hilfsbedürftigen bei mir zu Hause aufnehme und er randaliert, so schmeiße ich ihn hochkant raus.« Und »guenter1952« fühlt in seinem Haus bereits die Schlauchbootenge: »Sahra hat (mal wieder) ­völlig recht. Selbstverständlich ist es nicht möglich, ­jedes Jahr über eine Million Einwanderer aufzunehmen.«
Umfragen belegen, was in den ND-Leserbiefen zutage tritt. Dem Politbarometer der »Forschungsgruppe Wahlen« zufolge wünscht sich eine deutliche Mehrheit der Wähler der »Linken« eine Verschärfung der Asylgesetze. Und in einer Forsa-Umfrage für den Stern vom Dezember gaben 26 Prozent der Anhänger der »Linken« an, sie würden an Protestmärschen gegen eine Islamisierung Deutschlands teilnehmen, wenn sie in der Nähe ihres Wohnorts stattfänden. Das ist unter den Parteipräferenzen die zweithöchste Zustimmung zu Pegida nach der AfD.
Nicht nur an der Basis finden Wagenknechts Aussagen Beifall. Der sächsische Bundestags­abgeordnete Michael Leutert, ein Reformer und Mitbegründer des BAK Shalom, wurde im Tagesspiegel sogar noch deutlicher: »Wenn ich jemanden in meine Wohnung eingeladen habe und von ihm beklaut werde, hat er zu gehen.« Aber auch russisch-orthodoxe Marxisten und Antiimperialisten wie die Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrke und Diether Dehm und der WASG-Mitbegründer Klaus Ernst sollen Wagenknecht in der hitzigen Fraktionssitzung beigestanden haben, kolportiert der Tagesspiegel.
Leutert, dem man wahrlich nicht vorwerfen kann, dass er wie Wagenknecht die Klaviatur des rechten Populismus bespielen würde, sah sich gezwungen, nach seinen Einlassungen auf seiner Homepage am folgenden Tag eine »Klarstellung« zu veröffentlichen. Er sei gar nicht der Ansicht, dass die Aufnahme von Flüchtlingen vergleichbar mit der Einladung eines Menschen ins private Wohnzimmer sei. »Dieser Metapher habe ich mich bedient, um zu veranschaulichen, dass viele Menschen das Problem genau aus diesem Blickwinkel betrachten. Das müssen wir bei unserer Argumentation beachten, da wir ansonsten an den Menschen vorbeireden.« Er sei auch nicht der Auffassung, dass Flüchtlinge abgeschoben werden sollten, wenn sie wegen strafbarer Handlungen verurteilt wurden. »Das ist die Antwort der Rechten. Wir sind die Partei, die den Rechtsstaat verteidigt.« Leutert weiter: »Mir kommt es auf die Menschen an, die Fragen haben, wie wir die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge praktisch bewältigen können.« Ähnlich argumentierte allerdings auch Wagenknecht. Sie befürchte, »dass die Linkspartei mit ihrem aktuellen Kurs den Anschluss verliere – an ihre Wähler und die Gesellschaft«, schreibt die Taz.
Das mit dem Anschluss klappte hervorragend. Der stellvertretende AfD-Vorsitzende Alexander Gauland sagte amüsiert: »Es ist erfreulich zu sehen, zu wie viel Realpolitik die Linken manchmal fähig sein können.« Er freue sich, »dass die ›Linke‹ dies nun genauso wie die AfD sieht«.
Es gibt also verschiedene Motivlagen in der »Linken«. Zum einen der immer schon existierende Nationalismus und Rassismus in Teilen der Partei, zum anderen die Angst der Funktionäre, Wähler an die Pegida-Partei AfD zu verlieren. Der Zuwachs der AfD in den Meinungsumfragen ­gefährdet nicht nur die eigenen Wahlaussichten, sondern rückt auch die nach Thüringen zweite rot-rot-grüne Koalition, die man sich für Sachsen-Anhalt bereits ausgemalt hatte, in weite Ferne. Dazu kommt der realpolitische Fluch zu wissen, dass die Forderung „offene Grenzen für alle“ zwar für einen Großteil der Klientel elementar ist, aber eben für viele andere auch eine „gruselige“ Vorstellung, wenn man mal die Enge in so einem Schlauchboot am eigenen Leib erfahren hat, oder wenn man auch nur versucht, sein „Haus“ in Mittelsachsen ordentlich zu halten.
Natürlich werden die vielen Antirassisten in der Partei nun versuchen, die »Linke« wieder ins rechte, also linke Licht zu rücken. Doch dass hier eine grundlegende Differenz in der Partei offengelegt wurde, ist nicht zu übersehen. Beide Seiten versuchen nun mit der Floskel, man müsse vor allem die Fluchtursachen bekämpfen und Waffenhandel unterbinden, eine gemeinsame Linie zu finden. Und wenn man in Sachen Assad, Russland und Iran nicht einer Meinung ist, dann sagt man eben flott etwas gegen Saudi-Arabien. Darauf können sich alle einigen. Mit dieser leicht durchschaubaren Strategie wird man vielleicht den Dissens ein wenig kaschieren können, auf Dauer aber wird das nicht gutgehen.