Milo Rau im Gespräch über sein neues Stück »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs«

»Der Kongo ist die Konsequenz von Europa«

Nach »Hate Radio« und »Das Kongo Tribunal« beschäftigt sich der Schweizer Regisseur und Autor Milo Rau in »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« erneut mit den politischen Katastrophen Zentralafrikas.

Ihr neues Stück »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehres« deutet schon im Titel auf einen Widerspruch zwischen einem individuellen Gefühl und der Gewalt. Die Kritik der Partikularität des Mitleids gehört zur europäischen Aufklärung, Kant zum Beispiel kritisierte es als eine zwar »gutartige Leidenschaft«, die jedoch »schwach und jederzeit blind« sei. Ist Ihr Stück eine Kritik des Mitleids in aufklärerischer Absicht?
Meine Kritik des Mitleids ist, dass es trotz medialer Runduminformation ein Gefühl des engen Radius geblieben ist. Zudem bleibt es meist selbstbezüglich, ja narzisstisch und führt nicht, in einem zweiten Schritt, zu Solidarität und einer politischen Forderung. Mitleid versucht Mängel individuell auszugleichen, die systemische Ursachen haben – von untätigen Regierungen bis zu den ökonomischen Bedingungen. Gleichzeitig ist das Stück auch eine Untersuchung des Mitleids als theatralem Vorgang. Wie funktioniert Identifikation? Was heißt das Ausstellen von Leid? Wer sieht wen leiden? Das Stück ist gewissermassen ein Essay in Form eines Monologs, es geht auch um Grundbegriffe des Theaters. Was heißt es, Zeugen auf der Bühne zu zeigen? Was heißt Stellvertretung auf der Bühne und was Katharsis?
Der Realismus war für das 20. Jahrhundert der entscheidende Begriff, um Theater und Politik zu vermitteln. Der Dramaturg Bernd Stegemann hat kürzlich nach »Kritik des Theaters« sein neues Buch »Lob des Realismus« veröffentlicht, in der Zeitschrift Theater der Zeit wurde über einen neuen Realismus diskutiert. Sehen Sie »Mitleid« auch als einen Beitrag zu dieser Debatte?
Das Stück steht mitten in der Diskussion um den Realismus. In dieser Debatte wird ein Widerspruch aufgemacht zwischen authentisch-dokumentarischem Theater, in dem Zeugen auf der Bühne sie selbst sind, und Schauspielertheater, in dem eine fiktionale Figur durch Mittel des Schauspiels – ob postmoderner Trash, Brecht oder Stanislawski – etwas zeigt. Dieser Widerspruch hat auch zu tun mit der Opposition von Stadttheatern mit Ensemble und freien Produktionsweisen, die häufig mit Performern, mit Laien arbeiten. Ich versuche mit »Mitleid«, diesen Widerspruch in einen dialektischen Zusammenhang zu bringen. Es gibt zwei Schauspielerinnen auf der Bühne. Die eine, Consolate Sipérius, ist eine Zeugin des Genozids an den Hutu in Burundi 1993, aber sie ist auch Schauspielerin. Die andere Schauspielerin, Ursina Lardi, steigt mit einer Reflexion über Theater ein und erzählt anschließend eine Geschichte, die aber im Sinn der Authen­tizität nicht oder nur teilweise ihre eigene ist. Und hier wird es verwickelt, die Unterscheidung gerät in Bewegung: Denn auch die vorgebliche Zeugin zeigt etwas, das nicht mit ihrer Person identisch ist. Denn ihr ist etwas widerfahren, aber deswegen ist es ihr nicht auf alle Zeit eingebrannt, sie kann sich zu ihrer Geschichte verhalten. Es gibt eine Freiheit, mit dem je eigenen individuellen Schicksal um­zugehen im Sinne einer existentiellen Psychoanalyse. Zum Schluss macht Sipérius etwas sehr Wichtiges: Sie durchbricht die Kette der Rache. Sie weigert sich gewissermassen, mit dem Maschinengewehr in das Publikum zu feuern. Es gibt, so die Botschaft, neben der tragischen Logik des Leidens auch eine der Solidarität, des Vitalen.
Das Stück beschäftigt sich mit Burundi, ­Ruanda und dem Kongo. Auch in Ihren Stücken »Hate Radio« und »Das Kongo-Tribunal« waren die politischen Katastrophen Zentralafrikas Thema . Was macht das besondere Interesse an dem Gegenstand aus?
Einerseits beschäftige ich mich seit über zehn Jahren mit Zentralafrika. Anderseits ist Zentralafrika für mich auch eine Metapher für die Welt, ein metaphorischer Ort der Weltwirtschaft. Ich kann den Zusammenbruch von Staaten dort beobachten, Massaker, Zwangsumsiedlungen und Flucht – und das meistens aus ökonomischen Gründen. Die Gegend um Bukavu und Goma ist extrem reich an Mineralien, gleichzeitig sterben Menschen an Folgen der Vertreibung, der Unterernährung: »Du stirbst an Hunger, um in Diamanten begraben zu werden.« Marx sagte ja, dass man die Wahrheit über die bürgerliche Gesellschaft in den Kolonien sehen könne. Diese Widersprüche liegen im Ostkongo nackt zutage, und diese Nacktheit interessiert mich. Es gibt symbolische Orte. Ein Freund von mir, David van Reybrouck, hat das Buch »Kongo. Eine Geschichte« geschrieben, in dem es heißt, der Kongo sei kein Blick in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Das interessiert mich als negativ utopische oder atopische Landschaft, als Landschaft der Apokalypse. Und gleichzeitig ist das eine unglaublich reiche Natur, man kann beispielsweise viermal im Jahr säen. Das Problem der Kongolesen war aber, dass sie immer das hatten, was die Weltwirtschaft brauchte: Nach den Sklaven war es der Kautschuk, dann Uran, heute sind es Koltan oder Zinn. Der Kongo ist eine Parallelgeschichte zu Europa, die Konsequenz von Europa.
Sie fordern statt partieller Verbesserungen vor allem eine Systemkritik, die den Fokus auf die Unterdrückung der armen durch die reichen Länder legt. Während derzeit heftig über Grenzregime debattiert wird, fehlt es an einer grundlegenden Kritik. Die Menschen sind zwar durch Grenzen getrennt, aber vor allem von den Produktionsmitteln, die zur Errichtung des guten Lebens nötig sind.
Fakt ist, dass viele Regionen nicht an den Vorzügen der Industrialisierung teilhaben, obwohl sie industrialisiert werden. Die Wirtschaft ist global, überschreitet alle Grenzen, aber die Grenzen der Nationalstaaten verhindern für die Produzenten, was die Waren- und Finanzströme die ganze Zeit tun: den freien Verkehr. Man muss gar nicht in den Kongo gehen, um das zu beobachten. Zu jedem Imperium gehört die Peripherie, die sich natürlich auch in Europa bildet, die sich notwendig bilden muss: der Nahe Osten, Griechenland. Das System lebt vom Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie. Auch das römische Imperium hatte völlig chaotische Gebiete, Grenzgebiete, die allerdings für die Existenz des Imperiums zentral waren.
Der Hauptmonolog der Entwicklungshelferin in ihrem Stück erinnert an eines der berühmtesten Bücher über den Kongo, Joseph Conrads »Herz der Finsternis«, in dem die Suche nach dem Ursprung der Gewalt mit der Fahrt auf dem gleichnamigen Fluss Kongo flussaufwärts parallelisiert wird.
Conrad erzählt eine Geschichte, er universalisiert sie aber außerdem, so dass sie beispielsweise in dem Film »Apocalypse Now« auch für Vietnam funktioniert. Es ist interessant, wie konkret man sein muss, um universal zu sein. Alles in meinem Stück ist verbürgt, die Daten und Fakten stimmen. Aber gleichzeitig ist es ein Stück über die Sinnlosigkeit von Gewalt und die Sinnlosigkeit von Rache. Das klassische antike Drama handelt auch von einer zirkulären Gewalt, die durch das Eingreifen eines Chores oder einer Gottheit überwunden wird – beispielsweise wie in der »Orestie« das Recht humanisiert wird. Die Tragik der Geschichte zu durchbrechen ist das Thema des Dramas und auch von »Mitleid«.
Eine klassische Figur der Theatergeschichte, die in »Mitleid« vorkommt, ist Ödipus. Ödipus steht für den Prozess der schmerzhaften Selbsterkenntnis, aber auch für Schuld und Verdrängung. Inwieweit sehen Sie eine Beziehung zu dem Stoff des Stückes?
Der westliche Entwicklungshelfer ist für mich die Figur des Ödipus. Es gibt einen Verdrängungszusammenhang in Bezug auf Zentralafrika. Ödipus erkennt zum Ende die Schuld, die er auf sich geladen hat. Er hat es auch am Anfang schon gewusst, in der ersten Szene des »König Ödipus« bekommt er es mitgeteilt, recht unumwunden. Aber bis er versteht, was er ja eigentlich schon weiß, braucht es den Durchgang durch das Drama. Kunst kann Unbewusstes und Nichtpräsentes zeigen und das ist die Katharsis, das Erkennen des schon Gewussten: Eben die tatsächliche Herstellung von Mitleid, von Solidarität, die sich trotz ja eigentlich umfassend zugänglicher Information zu den Grundlagen unserer Reichtums nicht einstellt.
Wie steht Ihr Stück zur Erkenntnis von Welt und zu möglichen Handlungen, zur Politik?
»Mitleid« versucht zu erkunden, was individuelles Bewusstsein von einer Welt des Leidens bedeutet. Kunst bietet keine Handlungsan­leitungen, sie kann aber tragische Blindheit und damit hypothetische Möglichkeiten aufzeigen. Es gibt Millionen Tote im Kongo. Aber es gab nur zwei Prozesse in Den Haag, zwei für 1 000 Massenverbrechen. Die Absenz von Recht und Strafe ist gefährlich, das zerstört ­zivilisatorische Grundlagen. Im Programmheft haben wir einen Text von Oscar Wilde, einem ausgesprochenen Verächter des Mitleids, abgedruckt: »Die Seele des Menschen im Sozialismus«. Wilde sagt dort, dass wir eine Welt, in der Mitleid notwendig ist, überwinden müssen. Er nennt das Sozialismus.

»Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« von Milo Rau ist noch am 29., 30. und 31. Januar an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin zu sehen.