In der Graphic Novel »Venustransit« geht es um die Flucht aus Enge und Klischees

Vom Berghain nach Indien

In der Graphic Novel »Venustransit« des aus dem Iran stammenden Künstlers Hamed Eshrat begibt sich der Protagonist Ben auf die Suche nach sich selbst. Diese führt ihn in die Ferne und zu einer neuen Liebe.

»Das Wesentliche am Tier ist für Kafka der Ausweg, die Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt. Nicht die Freiheit, sondern ein Ausweg. Nicht ein Angriff, sondern eine lebendige Fluchtlinie«, haben Gilles Deleuze und Félix Guattari über die Verwandlungen in Kafkas Texten geschrieben. Nach solchen Fluchtlinien sucht auch der Protagonist Ben in Hamed Eshrats Comic »Venustransit«: nach Wegen aus der Enge des Geldjobs, dem Liebeskummer, aus Berlin. Und Ben sucht nach Fluchtlinien aus den Erwartungen, die an ihn gestellt werden, aus den Zwängen. »Fuck, ich muss hier raus!« geht ihm nach einer Nacht im Berghain unter der Dusche durch den Kopf – nachdem er tatsächlich in einen Käfer verwandelt erwacht ist, der ihm höhnisch lachend aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickt.
Bilder und damit verbundene Zuschreibungen zu überwinden und Fluchtmöglichkeiten aus der Enge von Klischees zu finden, sind die Hauptmerkmale in der Arbeit des deutsch-iranischen Zeichners. Der 1979 geborene Hamed Eshrat hat soeben mit Comic-Zeichnerkollegen wie Mawil oder Barbara Yelin das Projekt »Bildkorrektur« ins Leben gerufen, das versucht, den Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen in Deutschland, den Zuschreibungen und Stereotypen andere Bilder entgegenzusetzen – und mit Fakten den Anfeindungen und Vorwürfen der Mehrheitsgesellschaft zu begegnen.
Von den Ursachen für Flucht und Asyl hatte Eshrat bereits in seinem Debüt »Tipping Point – Téhéran 1979« erzählt, einer autobiographischen Arbeit über die Verfolgung seiner Familie im Iran nach der sogenannten Islamischen Revolution 1979. Eshrat hatte dort noch das erste Jahr die Schule besucht, bevor er 1986 mit seinen Eltern nach Berlin fliehen konnte. »Tipping Point«, die Abschlussarbeit seines Studiums an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, ist bislang nur in Frankreich erschienen, deutsche Verlage hat womöglich die thematische Nähe zu Marjane Satrapis Erfolg »Persepolis« abgehalten. Mit seiner zweiten Arbeit »Venus­transit« scheint Eshrat nun aber auch in Deutschland wahrgenommen zu werden, betrachtet man die bisherigen, überwiegend positiven Rezensionen des Buches.
In »Venustransit« erzählt Eshrat von Ben, dessen Dasein als Käfer nur wenige Panels anhält. Ben lebt in Berlin und jobbt prekär in der Kreativ­branche, obwohl er sich viel lieber dem Zeichnen von Comics widmen würde. Er führt die Leser durch sein Berlin, verbringt viel Zeit mit Freunden in dem von Ali geführten Lieblings-Späti, hängt in Cafés, Clubs und auf Plattenbörsen rum. Sein Leben scheint geordnet, doch schon nach wenigen Seiten bricht in den Alltag die Schattenseite des geordneten Lebens herein, als sich seine langjährige Freundin Julia von ihm trennt. »Ben, ich kann nicht mehr. Dein Pessimismus zieht mich total runter. Ich versteh ja, dass dich alles ankotzt, aber dann bemüh dich wenigstens, was zu ändern«, gibt sie ihm bei einer Aussprache mit auf den Weg. Bens Unzufriedenheit und der Pessimismus sind ein Resultat dessen, dass die Fluchtlinien nur schwer zu finden sind, Ben aber gleichzeitig zu träge ist, etwas Grundsätzliches an seinem Leben zu ändern. Erst die Trennung, die Trauer und der Abstand zu sich selbst helfen ihm zu erkennen, was ihm im Leben wirklich wichtig ist. So weit, so bekannt – und auf diese Weise auf die Kurzform heruntergebrochen: so langweilig. Zum Glück aber weiß »Venustransit« die alte Geschichte der Selbstfindung, des Wegs aus dem Pessimismus in eine neue Liebe auf eine charmante Weise neu und anders zu erzählen, mit unverbrauchten und überraschenden Bildern, die fließende Übergänge zwischen Realität und Traum, surrealen Welten und Drogenphantasien zu einem zentralen Bestandteil werden lassen.
Schon beim ersten Durchblättern fällt auf, wie angenehm flüchtig die Bleistiftzeichnungen wirken, die von keinen Panelrändern begrenzt sind, so flüchtig wie die kleine Geschichte aus dem Berliner Alltag, die Eshrat erzählt. Die Offenheit, die Ben sucht und im prekären Berliner Alltag nicht finden kann, bietet zumindest der Comic in seiner Form – nicht umsonst ist das Zeichnen eines Comics auch der Fluchtpunkt des unglücklichen Ben, wenn er auch über Skizzen eines unglücklichen Sisyphos beim Wälzen seines Steins nicht hinauskommt – ein Leitmotiv des Comics, das ihn mit Imma zusammenführt.
»Das ist die Sonne und der Punkt ist die Venus. Eine Bahn, ein Zyklus und alles in ständiger Veränderung«, gibt der Plattensammler Franz Kühn mit viel Pathos Ben mit auf den Lebensweg und erklärt damit auch den Titel: die Venus, die immer mal wieder als schwarzer Fleck von der Erde aus erkennbar vor der Sonne vorbeizieht. »Du musst dein Leben ändern«, auch dies ein Ratschlag von Franz. Sich auf diese Veränderungen einzulassen, sie als Chance wahrzunehmen, muss Ben im Laufe des Comic mühsam lernen. Die Leser dagegen müssen lernen, dass es für die Story manchmal gewinnbringender ist, wenn die entscheidenden Momente eines solchen Prozesses nicht erzählt werden. Ben flieht vor der Berliner Realität und dem Berliner Winter für drei Monate nach Indien und alles, was die Leser davon zu sehen bekommen, sind die Skizzen und Zettel, die er in einem Reisetagebuch gesammelt hat und die als Faksimile fast ein Drittel von »Venus­­transit« einnehmen – einer der autobiographischen Anteile im Buch, wie Eshrat in einem Interview erklärt. So blättert sich der Leser durch die Innenwelt des Protagonisten, ohne eindeutige Erklärungen geliefert zu bekommen, Gedankensprünge, Eindrücke und kleine Comic-Strips von der Reise setzen sich zu keinem geschlossenen Bild zusammen. Wie dies alles zu Bens erlösender Erkenntnis »Ich bin bereit für eine Veränderung« geführt hat, muss man sich selbst zusammenreimen.
Immer wieder driftet der Comic in solche innenweltlichen Szenarien ab, mal löst sich bei einem Besuch im Berghain über Seiten hinweg die Realität langsam in ihre Einzelteile auf, bis nur noch Formen, Striche und Punkte übriggeblieben sind. Anderswo verwandelt sich Berlin in einer Comicwelt á la Gerhard Seyfried voller Demos und Straßenkämpfe gegen Investoren und Gentrifizierer: »Pickel und Krätze für Investoren, ihr habt hier einen Scheiß verloren!« Ebenfalls verloren wankt Ben durch die Welt zwischen Bio-Späti und IT-Job, trifft irgendwann zufällig Imma, deren Weg den seinen, ohne dass er es wusste, bereits einige Male gekreuzt hat, und findet in ihr schließlich eine neue Liebe.
Fast schon zu versöhnlich und utopisch endet der Comic mit Ben als neuem Menschen, dessen Sisyphosarbeit ein Ende hat: Er hat sich erfolgreich mit Freunden selbständig gemacht und hat nun den Raum für künstlerische Arbeit, und gemeinsam mit Imma kann er sich auf ein kreatives Familienmodell einlassen. Nicht nur das Reisetagebuch scheint autobiographische Aspekte mit in den Comic einzubringen, auch die Suche nach Freiheiten, neuen Möglichkeiten des Erzählens im Medium Comic teilt Hamed Eshrat offensichtlich mit seinem Protagonisten.

Hamed Eshrat: Venustransit. Avant-Verlag, Berlin 2015, 256 Seiten, 25 Euro