Die Fatwa linker Intellektueller gegen den algerischen Schriftsteller Kamel Daoud

Intellektuelle Fatwa

Der Fall Kamel Daoud und der intellektuelle Verrat westlicher Linker.

Nun also Kamel Daoud. Nein, der streitbare religionskritische Autor aus Algerien wurde glücklicherweise nicht umgebracht, obwohl er seit Erscheinen seines Romans »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« von der Mordfatwa eines salafistischen Predigers bedroht wird. Man hat ihn nur politisch zum Schweigen gebracht. Jedenfalls erklärte er, sich künftig nicht mehr in öffentlichen Debatten äußern zu wollen und sich ausschließlich auf die Literatur zu konzentrieren.
Bewirkt hat diesen bedauerlichen Rückzug nicht etwa eine weitere Morddrohung aus islamistischen Kreisen, sondern ein Mitte Februar zuerst in Le Monde, dann auch auf Englisch im Internet verbreitetes Pamphlet einer Gruppe linker Intellektueller unterschiedlicher Herkunft, die ihm das Recyceln »abgetragener orientalistischer Klischees« und die Bedienung der »islamophoben Phantasien« eines wachsenden Teils der westlichen Öffentlichkeit vorwarfen.
Anlass für diesen Angriff war ein zunächst in Le Monde erschienener und von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachgedruckter Text Daouds, in dem er sich mit den Folgen der sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht auseinandersetzte. Darin warnte er vor einem naiven Ausblenden des Umstands, »dass der Flüchtling in einer Kultur gefangen ist, in der das Verhältnis zu Gott und zur Frau eine wichtige Rolle spielt«. Daoud wiederholte in dem Text im Wesentlichen seine bereits in verschiedenen Publikationen vorgetragenen Thesen über »das sexuelle Elend in der arabisch-muslimischen Welt (…) mit ihrem kranken Verhältnis zur Frau, zum Körper und zum Begehren«, woraus er unter anderem die Empfehlung ableitete, bei den Geflüchteten »die Seele von der Notwendigkeit einer Veränderung zu überzeugen«.
Das war den Autorinnen und Autoren des kollektiven Briefs Anlass genug, ihm nicht nur vorzuwerfen, kulturalistischen Essentialismus und die Bestätigung schlimmster orientalistischer Phantasien über einen »mehr als eine Milliarde Individuen und Tausende von Kilometern« umfassenden Raum zu verbreiten, in dem er pauschal alle darin lebenden Männer zu »Gefangenen Gottes und eines pathologischen Verhältnisses zur Sexualität« erkläre, sondern ihn auch noch eines »skandalösen Projektes« der »Disziplinierung« zu bezichtigen, das direkt an die kolonialistische Mission civilisatrice anknüpfe – »nicht einmal Pegida würde so weit gehen«, empören sich die Verfasser und Verfasserinnen des offenen Briefs.
Um solche rhetorischen Geschütze auffahren zu können, haben sich die Autorinnen und Autoren offensichtlich nicht nur die allmontäglich in Dresden vorgetragenen Hassparolen erst gar nicht angesehen, sondern auch wesentliche Teile von Daouds Text ignoriert. So wird weder erwähnt, dass sich Daouds Text zunächst mit den rassistischen und rechten Projektionen auf die Kölner Gewalttaten beschäftigt, noch dass er das von ihm kritisierte rigide Verhältnis zu Frauen und Sexualität in der »Welt Allahs« dezidiert mit dem Einfluss des Islamismus erklärt.
Selbst wenn eine Kritik an Pauschalisierungen und Vereinfachungen in Daouds Text ihre Berechtigung haben mag, rechtfertigt das noch lange nicht eine derart auf persönliche Diskreditierung und Beschädigung zielende Denunziation des Autors als Stichwortgeber eines neokolonialen Kulturrassismus und quasi native informant – eines Autors wohlgemerkt, der mit seinem bekanntesten Roman angetreten ist, dem in Camus’ »Der Fremde« von der Titelfigur Meursault erschossenen namenlosen Araber Stimme und Gesicht zu geben. Offenbar haben sich diese aufrechten antirassistischen Intellektuellen auch nicht den geringsten Gedanken gemacht, dass ihr offener Brief von den Islamisten, die Daoud bereits bedrohen, als eine Bestätigung und Steilvorlage aufgefasst werden könnte, die fast einer weiteren Fatwa gleichkommt.
Das Dekret haben neben hierzulande weniger bekannten Akademikerinnen und Akademikern mit teils maghrebinisch-arabischem Hintergrund auch Prominente der internationalen akademischen Linken wie der Rassismustheoretiker und Philosophen David Theo Goldberg und der in Stanford lehrende Historiker Joel Beinin mitgezeichnet. Worum es in dem infamen Text letztlich geht, offenbart dessen letzter Abschnitt: Zusammen mit ebenfalls algerischen Autoren wie Boualem Sansal und Rachid Boudjera stehe Daoud für eine »säkulare Minderheit in seinem Land«, die gegen einen »manchmal gewalttätigen Puritanismus« kämpfe und »in einem europäischen Kontext« die »dominant gewordene Isalomophobie unterstützt«.
Um den Hintergrund dieser Denunziation und der damit verbundenen, geradezu grotesken Verharmlosung der vom Islamismus für säkulare Intellektuelle ausgehenden Gefahr zu verstehen, lohnt ein Vergleich mit den Reaktionen auf die ­jihadistischen Massaker, welche im vorigen Jahr in Paris verübt wurden. Dieselbe Unfähigkeit oder gar der blanke Unwille, qualitative Unterschiede zwischen religionskritischer Polemik oder Satire und Hetze gegen Menschengruppen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, prägte bereits die nach den Pariser Mordanschlägen vom Januar entbrannte Debatte um die Meinungsfreiheit.
Auf das oft rituelle Bekenntnis zur Meinungsfreiheit des »Je suis Charlie« folgte auch hierzulande schnell das große »Aber … «: Einer Grenze bedürfe diese Freiheit, wo religiöse Gefühle verletzt werden. Der Ruf nach mehr Respekt vor dem Religiösen, vor allem bei Minderheiten, zog sich quer durch die Feuilletons und Kommentarspalten. Auch hier stand der Vorwurf im Mittelpunkt, Charlie Hebdo habe sich durch seine Veröffentlichungspolitik an der Bestärkung »islamophober« bzw. antimuslimischer Ressentiments beteiligt. Exemplarisch hierfür steht der offene Brief gegen die Verleihung des PEN-Preises für Meinungsfreiheit an Charlie Hebdo: »Jenen Teilen der französischen Bevölkerung, die bereits an den Rand gedrängt, bedrängt und schikaniert wurden, die von dem Erbe verschiedener französischer Kolonialexperimente gezeichnet sind und zu einem hohen Prozentsatz aus tiefreligiösen Muslimen bestehen, mussten die Karikaturen des Propheten, die Charlie Hebdo anfertigte, als bewusste Demütigung und Steigerung ihres Leids erscheinen.«
Solche Forderungen eines moralischen Antirassismus religiöse Gefühle zu respektieren, prägen die Auseinandersetzung allerdings seit Jahren. Sie sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass im Gefolge des cultural turn der Geistes- und Sozialwissenschaften und den daran anknüpfenden Begründungsmustern linker und antirassistischer Politik die Religiosität zu einem Ausweis kultureller Identität avancierte. Das dem religiösen Bekenntnis zugrundeliegende Bedürfnis nach Sinn reicht demnach an einen innersten Kern menschlicher Identität, der jenseits aller weltlichen Sinnangebote liegt. Nur so lässt sich erklären, dass der Religiosität ein Maß an Respekt zugestanden wird, das keiner anderen identitätsstiftenden Weltanschauung zuteil wird.
Wenn aber die von Gläubigen als heilig erachteten Inhalte zu deren unbedingt zu respektierendem Identitätskern erklärt werden, der vor ­jeder öffentlichen Herabsetzung und Kritik zu schützen ist, wird eine Trennung zwischen der Person und ihren Glaubensvorstellungen unmöglich: Kritik und Spott gegenüber Glaubensdingen wird zum direkten Angriff auf die persönliche Integrität der Gläubigen. Forderungen nach Respekt gegenüber Religiosität in diesem Sinn zu akzeptieren, läuft nicht nur auf Appeasement gegenüber Islamisten und klerikalen Repräsentanten letztlich aller Religionen hinaus, sondern auf nicht weniger als auf die Selbstaufgabe von Aufklärung. Religiosität ist so zum harten Kern eines fetischistischen Verständnisses kultureller Identität geworden. Einen nicht unerheblichen Anteil hatten daran Antirassisten und Linke, die den Islam als Religion der Unterdrückten verstanden und darüber zum Kernbestand kultureller Identität der Marginalisierten und Ausgegrenzten erklärten.
Die antiaufklärerischen Folgen dieses fetischistischen Kulturverständnisses zeigen sich daher nicht zufällig schon länger am hässlichsten im Umgang mit dissidenten Strömungen innerhalb islamisch geprägter Communities im Westen wie auch in deren Herkunftsländern. Stimmen, die den Islamismus oder auch die über den Islam begründete Alltags­praxis von einer säkularen, universalistischen Position raus scharf kritisieren, werden oft bestenfalls als assimilatorische Selbstaufgabe, schlimmstenfalls als Kollaboration mit islamophobem Rassismus wahrgenommen. Das traf schon immer Freigeister und Dissidentinnen von Salman Rushdie über Taslima Nasrin, Ayaan Hirsi Ali, Boualem Sansal bis Maryam Namazie oder hierzulande unter anderen Necla Kelek und Seyran Ateş.
Hier reiht sich nun auch der Fall von Kamel Daoud ein. Bereits an der mehr als dünn zu nennenden Reak­tion westlicher Linker auf den salafistischen Mordaufruf gegen Kamel Daoud zeigte sich, wie recht Salman Rushdie hatte, als er vor kurzem ­resigniert feststellte, dass er heute wohl kaum die Unterstützung erfahren würde, die ihm vor 26 Jahren nach Khomeinis Todesfatwa zuteil wurde. Wie sensibel Daoud selbst jetzt auf die Polemik gegen seinen Artikel reagiert, auch wenn er ihren Tonfall eines »stalinistischen Tribunals« empört zurückweist, zeigt die Begründung seines Rückzugs in einem öffentlichen Briefwechsel: Es betrübe ihn, dass seine Kritik an der heimischen Theokratie andernorts zu einem Argument gemacht werde, dem muslimischen Anderen die Menschlichkeit abzusprechen, und dass er dieser Schere offenbar nicht entkommen könne.
Die verächtliche Rede von der säkularen Minderheit im Aufruf gegen Daoud, die mit ihrem Kampf um individuelle Freiheiten und gegen religiöse Machtansprüche »in einem europäischen Kontext« Islamophobie zu verbreiten helfe, entspricht auch der Haltung vieler westlicher Linker gegenüber den gebildeten, urbanen und großteils jungen Mittelschichten säkularer Orientierung insgesamt, die zu wesentlichen Teilen auch die unter dem Begriff »Arabellion« zusammengefassten Aufstände gegen die autoritären Gesellschaftsstrukturen in ihren Ländern vorantrieben. Gemeint sind damit Tausende von Bloggern und Netzaktivistinnen, Menschenrechtlern und vor allem Frauenrechtlerinnen und LGBT-Ak­tivisten, die gegen die Zumutungen und das Zwangsgehäuse des islamisch codierten Patriarchats und seines obsessiv-repressiven Verhältnisses zur Sexualität kämpfen. Sie alle erfahren nicht im mindesten die Solidarität, die ihnen eigentlich zuteil werden müsste. Im Gegenteil, von großen Teilen der in westlichen Ländern lebenden Linken werden sie offenbar als unbedeutende, von ihrer »eigenen« Gesellschaft und Kultur entfremdete Minderheit angesehen, die unter eine Kuratel des Verdachts gestellt und fallweise mit inquisitorischen Appellen bedacht wird. Damit werden sie ein weiteres Mal in das Zwangsgehäuse der Hörigkeit gesperrt, dem sie zu entkommen versuchen. Und das von einer Linken, zu deren Gründungsmythen in vielen westlichen Ländern gehört, dass vor fast 50 Jahren vor allem Teile der gebildeten Jugend aus einer absoluten Minderheitenposition gegen die autoritären Verhältnisse ihrer Gesellschaft aufbegehrten, denen damals hierzulande von der Bevölkerungsmehrheit Arbeitslager oder Schlimmeres an den Hals gewünscht wurden.
Die immer wieder in offene Verachtung umschlagende Gleichgültigkeit gegenüber den Kämpfen der ­säkularen Minderheiten in islamisch geprägten Ländern erweist sich als der wirkliche Orientalismus von heute, Ausdruck einer wahrhaft »post­kolonialen Mentalität« im schlechtesten Sinn des Wortes. Der gegen Kamel Daoud gerichtete Aufruf markiert einen neuen traurigen Tiefpunkt dieses intellektuellen Verrats, weil er nicht nur exemplarisch die ungute Mischung aus Kulturrelativismus und falsch verstandenem Antirassismus zum Ausdruck bringt, sondern auch noch Erfolg hatte.