Fechten und Antisemitismus

Von wegen ehrlos

Im Ungarn des ausgehenden 19. Jahrhunderts galt Fechten als Waffe gegen Antisemitismus, es wurde auch von Theodor Herzl empfohlen.

Wenn Antisemitismus im Sport thematisiert wird, geht es vor meist um Fußball – dabei war der Hass auf Juden in praktisch jeder Sportart präsent. Fechten, das heutzutage als besonders faire Sportart gilt, war dabei keine Ausnahme. Allerdings führte die judenfeindliche Ausgrenzung unter anderem in Ungarn zu steigendem Selbstbewusstsein – und zu Medaillen bei den Olympischen Spielen.
Der berühmteste Club Ungarns, der Magyar Atlétikai Club (MAC) war 1875 von Graf Miksa Esterházy de Galántha gegründet worden, der als Diplomat der österreichisch-ungarischen Botschaft im Ausland tätig gewesen war und dort seine Liebe zur britischen sportsmanship entdeckte. Der MAC, heute vor allem als Fußballclub bekannt, wurde zum Vorreiter der ungarischen Turn- und Sportbewegung. Er richtete beispielsweise noch im Jahr seiner Gründung die erste Boxveranstaltung des Landes aus. Sport zu treiben, galt bald als eine Art patriotische Pflicht, wie der Historiker Andrew Handler in seinem 1986 erschienenen Buch »From the Ghetto to the Games: Jewish Athletes in Hungary« ausführt: »Sport war nicht nur eine sehr respektierte und populäre patriotische Freizeitbeschäftigung, sondern wurde auch als grundlegend christliche Angelegenheit gesehen, weil es eben als durch und durch ungarisch betrachtet wurde.«
Juden, die Sport treiben wollten, verschwiegen daher im Verein wie auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, wenn möglich, ihre Religionszugehörigkeit, denn, so Andrew Handler: »Jüdisch zu sein, war ein ernsthaftes Hindernis, das Aufstieg, Erfolg und Akzeptanz im Weg stand.«
Mit Magyar Testgyakorlók Köre, kurz MTK, wurde schließlich 1888 in Budapest von jüdischen und nicht­jüdischen Geschäftsleuten und Adligen ein Sportverein gegründet, bei dem die Religionszugehörigkeit der Mitglieder keine Rolle spielte. Obwohl die ersten beiden Abteilungen Fechten und Schwimmen betrieben, wurde MTK vor allem als Fußballverein bekannt; in Ungarn gilt er vielen Fans heute noch, wie vor allem in den dreißiger Jahren, als verhasster »Judenclub«.
Das Fechten gehörte zu den Lieblingssportarten ungarischer Männer, egal ob sie Christen oder Juden waren. Um 1900 waren fast 19 Prozent der ungarischen Reserveoffiziere Juden, die das Fechten spätestens im Rahmen ihrer militärischen Ausbildung gelernt hatten und es häufig auch im Privatleben praktizierten: Reserveoffiziere hatten, so die Regeln, jede Beleidigung umgehend mit einer Forderung zum (eigentlich verbotenen) Duell zu beantworten.
Duelle waren dementsprechend nicht selten – ob Juden sich daran beteiligen sollten, war innerhalb der damaligen Communities jedoch heiß umstritten. Dabei dürften viele Duellforderungen als Reaktion auf judenfeindliche Äußerungen ergangen sein: 1888 waren 13 Prozent der Männer, die wegen der Beteiligung an Duellen angezeigt wurden, jüdisch – obwohl nur 4,5 Prozent aller Ungarn Juden waren. Noch in den frühen dreißiger Jahren war Pál Sándor, der einzige jüdische Parlamentsabgeordnete, an 103 Duellen beteiligt, in den meisten Fällen hatte er Satisfaktion für antisemitische Beleidigungen verlangt.
Miksa Szabolsci, einer der einflussreichsten jüdischen Journalisten Budapests und Herausgeber der Zeitschrift Egyenlőség (Gleichheit), hatte sich lange gegen Duelle ausgesprochen. 1893 befand jedoch Theodor Herzl: »Ein halbes Dutzend Duelle würde die soziale Position der Juden verbessern.« Zwei Jahre später übernahm auch die Zeitung diese Meinung und schrieb über Antisemiten: »Die Extremisten unter ihnen kommen aus ländlichen Gegenden, sie wissen noch nicht, dass die Juden mittlerweile sehr gut mit Schwertern umgehen können.« Denn, so
Szabolsci: »Die Epidemie des Judenhasses muss in Duellen bekämpft werden. Heutzutage wird unsere jüdische Jugend die Judenhasser nur mit dem Schwert von unseren Rechten überzeugen.«
Herzl hatte ein Jahrzehnt zuvor in Wien erlebt, wie seine Burschenschaft, die Albia, immer offener antisemitisch agierte, und hatte die schlagende Verbindung 1883 nach einer judenfeindlichen Rede seines Bundesbruders Hermann Bahr verlassen. Gegen seinen ausdrücklichen Wunsch verweigerte man ihm jedoch den ehrenvollen Austritt, sondern strich ihn einfach aus der Mitgliederkartei. Die judenfeindliche Haltung der Burschenschaft wirkte nicht nur auf Herzl traumatisierend – eine anderer jüdischer Burschenschaftler erschoss sich, nachdem klar geworden war, dass er bei Albia nicht erwünscht war.
Viele jüdische Studenten wollten sich nicht damit abfinden, dass ihnen die Aufnahme verwehrt blieb, die auch für die spätere Karriere wichtige Netzwerke darstellten. Selbstbewusst machte man sich daran, eigene Strukturen zu schaffen: Ein Jahr zuvor, im Oktober 1882, war die jüdische Burschenschaft Kadimah (Vorwärts) gegründet worden, ein halbes Jahr später wurde sie schließlich von den Wiener Behörden offiziell genehmigt. Juden galten bald jedoch nicht nur inoffiziell als nicht satisfaktionsfähig: Am 11. März 1896 wurde bei einer Studentenversammlung die später auch von deutschen Burschenschaften übernommene Waidhofener Erklärung proklamiert, nach der Juden generell von Duellen ausgeschlossen waren. Die jüdischen Burschenschaftler übernahmen deswegen den sogenannten Holzcomment. Das bedeutete, dass sie sich mit judenfeindlichen Verbindungen, die nicht im Duell gegen sie kämpfen wollten, einfach prügelten. Das wiederum brachte die Antisemiten in Schwierigkeiten, wie Alexander Graf in seinem Buch »Los von Rom und heim ins Reich« schrieb. Denn sich einem Duell nicht zu stellen, konnte den Verlust der Offizierscharge zur Folge haben (Charge nannte man damals den militärischen Rang), zudem galt es unter Burschenschaftlern und Offizieren als ehrlos, auf tätliche Angriffe nicht zu reagieren. Das wussten die Juden von Kadimah nur zu genau, und so gingen sie dazu über, diejenigen bei den Militärbehörden zu melden, die sich nicht mit ihnen duellieren wollten, um ihnen die Karriere zu verbauen.
Die Trainingsmöglichkeiten in eigenen Vereinen und auch bei den jüdischen Burschenschaften sorgten schließlich auch für sportliche Erfolge: Der erste ungarische Jude, der Olympiasieger wurde, war Jenő Fuchs, der damals noch in Budapest Jura studierte und dort das Fechten praktizierte. 1908 gewann er in London die Goldmedaille im Säbelfechten und im Mannschaftswettbewerb (vier der dort antretenden fünf Fechter waren Juden), das gleiche Ergebnis konnte er 1912 in Stockholm noch einmal erzielen. Fuchs, der 1955 im Alter von 63 Jahren in Budapest starb, gehörte zeitlebens keinem ungarischen Sportverein an. Sein olympischer Erfolg sollte kein Einzelfall bleiben: Insgesamt gab es im Fechten bis heute 30 Medaillen für jüdische Sportler.