Fotografien von Claudia Reinhardt

Bis dass der Tod

2004 fotografierte Claudia Reinhardt Selbstmordszenen berühmter Künstlerinnen. In ihrem neuen Fotoprojekt inszeniert sie die Suizide bekannter Paare.

Das Wohnzimmer sieht aus wie nach einer wüsten Party, der Kleinwagen am Ende der Lichtung lässt an heimliches Knutschen denken. Nicht immer ist die Szenerie der Fotografien von Claudia Reinhardt auf den ersten Blick zu entschlüsseln. In ihrer Fotoserie »Liebespaare« geht es um Männer und Frauen, die sich gemeinsam töteten. Zehn authentische Fälle mehr oder weniger berühmter Paare wie Heinrich von Kleist/Henriette Vogel, Stefan und Lotte Zweig oder Petra Kelly/Gert Bastian hat sie szenisch nachgestellt und damit durchaus heikles Terrain betreten.
Der Freitod auf der Bühne von Oper und Theater gehört zum kulturellen Kanon. Der Selbstmord in den Medien ist dagegen ein Tabuthema, die fotografische Dokumenta­tion wie im Fall Uwe Barschel der medien­ethische Grenzfall. Die Medien sind laut Pressekodex angehalten, zurückhaltend über Suizidfälle zu berichten. Ähnlich wie bei der Nennung der Herkunft von Tätern fordert der Pressekodex, bei der Berichterstattung die Wirkung auf die Öffentlichkeit einzukalkulieren. Im Fall von Suizidberichterstattung heißt das, keine Details zu nennen, die gefährdete Personen zu Nach­ahmungstaten verleiten könnten.
Die Wirkungsforschung nennt den Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über Selbsttötungen und der Suizidrate der Bevölkerung den »Werther-Effekt«. Von Goethes namensgebendem Roman Ende des 18. Jahrhunderts bis zu Kurt Cobains Freitod Mitte der neunziger Jahre in der Blütezeit der Jugend- und Popkultur, immer schon haben Suizidnarrationen auf ihre Generation enormen Einfluss genommen. Für Claudia Reinhardt war es der Selbstmord der britischen Theaterautorin Sarah Kane im Jahr 1999, der nachwirkte. »Ich hatte ihre Arbeiten gerade erst entdeckt und war beeindruckt von ihrer Art zu denken und zu schreiben«, sagt Reinhardt. »Ihr Tod hat mich nicht mehr losgelassen. Mir wurde auch zum ersten Mal bewusst, wie viele weibliche Künstler, die für mich und meine Arbeit wichtig waren, Selbstmord begangen hatten. Aus dem Schock entstanden innere Bilder, Vorstellungen, davon, was gewesen ist.«
Reinhardt begann mit einem Fotoprojekt, das den Werther-Effekt der Einfühlung in die Geschichte eines Suizids ästhetisch sublimiert. Für die Serie »Killing Me Softly« setzte sie den Freitod berühmter Künstlerinnen wie Sarah Kane, Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann und Anne Sexton mit sich selbst in Szene. Bekleidet mit einem Pelzmantel sitzt die Fotografin in der Rolle der US-amerikanischen Schriftstellerin Anne Sexton mit steinerner Miene vor dem Steuer eines Oldsmobils. Sexton hatte sich 1974 in der Garage in ihr Auto gesetzt, den Motor gestartet und ihren Tod durch eine Kohlenmonoxidvergiftung herbeigeführt. Sarah Kanes Suizid durch Erhängen war so gewalttätig, radikal und aggressiv wie ihr Schreiben. Reinhardt stellt die schockierende Szene auf einem die Bewegung verwischenden Schwarzweißfoto nach. »Ein Leben selbst zu beenden ist eine Tat, so scheint es mir, die aus der absoluten Abwesenheit der Liebe hervorgeht«, kommentiert sie den Künstlerinnenselbstmord.
In ihrer neuen Fotoserie »Liebespaare«, die jetzt in einem Bildband im Berliner Verbrecher-Verlag unter dem Titel »Tomb Of Love« erschienen ist, greift sie das Thema Selbstmord erneut auf. In diesen Fallgeschichten aber ist die Liebe eben nicht abwesend. Die Bildinszenierungen sind eine Hommage an prominente Paare, die ihrem Leben gemeinsam ein Ende gesetzt haben. Anders als bei der an Cindy Shermans Selbst­inszenierungen orientierten Fotoserie »Killing Me Softly« wurden für das Projekt »Liebespaare« Darsteller bei einer Agentur gecastet. Die Fotografien aufwendig nachgestellter Szenen erinnern an klassische Standfotografie. Der spektakuläre Doppelselbstmord des unglücklichen Dichters Heinrich von Kleist und seiner unheilbar kranken Seelenverwandten Henriette Vogel an einem Novembermorgen 1811 am Kleinen Wannsee bildet mit drei Fotografien vom mutmaßlichen Originalschauplatz den Auftakt der Serie. Der zeitliche Abstand und die Vielzahl künstlerischer Bearbeitungen des Kleist-Selbstmords entheben die Fotografien jeglichen Voyeurismusverdachts. Anders das Fototableau zum Freitod von Jochen und Jonanna Klepper, die sich 1942 gemeinsam mit der jüngsten Tochter in ihrem Haus in Berlin durch Schlaftabletten und Gas das Leben nahmen. Schon der Begriff des Freitods erscheint in diesem Fall fragwürdig. Klepper, evangelischer Theologe, Schriftsteller und bedeutender Dichter geistlicher Lieder, geriet im nationalsozialistischen Deutschland aufgrund seiner Ehe mit einer Jüdin zunehmend ­unter Druck. Um der angekündigten Zwangsscheidung und der damit drohenden Deportation von Ehefrau und Tochter zu entkommen, entschlossen sich die Eheleute zum gemeinsamen Suizid. »Wir gehen ­heute Nacht gemeinsam in den Tod«, heißt es im letzten Eintrag des berühmt gewordenen Tagebuchs von Klepper. Es sind hier wie auch im Fall der Bildstrecke zum Suizid von Stefan und Lotte Zweig vor allem die Nahaufnahmen der Gesichter, die den Bildern eine unnötige Eindeutigkeit verleihen.
Ein Doppelselbstmord, der die Öffentlichkeit geradezu suchte, ereignete sich 2013 im Pariser Luxushotel »Lutetia«. Georgette und Bernard Cazes, beide 86, sie eine Professorin, er ein hoher Beamter, wurden mit über den Köpfen gestülpten Plastiktüten einander an den Händen haltend im Hotelbett aufgefunden. Sie hinterließen einen Abschiedsbrief an den gemeinsamen Sohn und einen an den französischen Staat, den sie anklagten, mit den geltenden Euthanasiegesetzen »die Freiheit des Bürgers zu missachten«. Der gemeinsame Tod sei immer Teil ihres Lebensentwurfs gewesen. Wie sie es beabsichtigt hatten, löste ihr Suizid in Frankreich eine Debatte über Sterbehilfe aus. Reinhardt setzt ein würdevolles Ende zweier Ebenbürtiger in Szene und wahrt zugleich das Geheimnis eines sich liebenden Paars. Das pompöse Schlafzimmer im Louis-Quatorze-Stil auf dem Foto ist allerdings nicht der Originalschauplatz, sondern gehört zu einem Hotel in Brandenburg.
Nebeneinander, eng umschlungen oder – wie im Fall des lediglich befreundeten Paars Kleist/Vogel – auseinanderstrebend, liegen die Reglosen da, und stets vermitteln die Arrangements und Todesarten einen Eindruck von Machtkonstellationen und Geschlechterrollen. Mit Hilfe der Sterbehilfeorganisation Exit nahmen sich der 78jährige an Parkinson und Leukämie erkrankte Arthur Koestler und seine Ehefrau Cynthia Jefferies das Leben. Der Polizeibericht vermittelt ein genaues Bild vom Tatort: Koestler saß in einem Sessel, dem Fenster zugewandt, ein Glas Brandy in der Hand. Seine Frau lag auf dem Sofa. Reinhardt stellt die Szene detailliert nach. Als er den Tod wählte, konnte der jüdisch-ungarische Industrielle auf ein bewegtes Leben als Schriftsteller, Kriegsberichterstatter, Kibbuznik, Zeppelinfahrer und Geliebter von Simone de Beauvoir zurückschauen. Warum aber entschied sich seine 22 Jahre jüngere Ehefrau dafür, gemeinsam mit dem Todkranken aus dem Leben zu gehen?
Ein ungleiches Paar waren auch Petra Kelly und Gert Bastian, sie eine linke Moralistin, er ein pazifistisch gewendeter General. Erst Wochen nach der Tat fand man die Leichen der beiden in ihrer Bonner Wohnung. Kelly war schlafend von ihrem Lebensgefährten erschossen worden, bevor er sich selbst tötete. Reinhardt inszeniert die bis heute nicht vollständig aufgeklärte Tat als Kammerspiel mit ironischen Accesoires wie vertrockneten Sonnenblumen und Homöopathie auf dem Nachttisch. »Es bleibt viel Raum für Spekulation«, sagt Reinhardt über »Liebespaare«. »Aber auch für Empathie. Es geht mir nicht um die Wahrheit, ich versuche, als Fotografin, mir ein Bild zu machen, um zu begreifen.«

Claudia Reinhardt: Tombs Of Love. ­Grabkammern der Liebe. Verbrecher-­Verlag, Berlin 2016, 29,90 Euro