Der britische Schriftsteller Tom McCarthy

Die bestgekleideten Staatsfeinde aller Zeiten

Der britische Schriftsteller Tom McCarthy wird für seinen Ideenreichtum gefeiert.

Beinahe jeder Betrieb, der etwas auf sich hält, berichtet heutzutage ebenso stolz wie dümmlich von der eigenen sogenannten Unternehmensphilosophie. Es gibt Leute, deren Arbeit darin besteht, sich diese Philosophien auszudenken. U, der Protagonist in Tom McCarthys jüngstem Roman »Satin Island«, ist einer von ihnen. Er ist Anthropologe, promoviert mit einer ethnographischen Abhandlung über die Clubkultur der neunziger Jahre. Mit dieser trendbewussten Forschungsarbeit hat der junge Wissenschaftler einen Job bei einer Firma erhalten, die als Mischung aus Unternehmensberatung und Werbeagentur Städte »in Sachen Branding und Rebranding« berät oder Regierungen »das passende Narrativ« zu ihren politischen Agenden entwirft.
Wie jedes Unternehmen seine Philosophie hat, so sind die Universitäten, wo Philosophie betrieben und gelehrt wird, zu Unternehmen geworden. Absolventen werden zu funktionablem Humankapital ausgebildet oder, wie es das Schwachsinnsvokabular eines Mentoring-Programms der Freien Universität Berlin nennt, zu »Funpreneuren«. Diesem Profil entsprechend wendet der Betriebsethnograph U sein akademisches Wissen an: Er erforscht Konsumgewohnheiten und schreibt für Unternehmen Berichte darüber, wobei er Ideen von Philosophen wie Gilles Deleuze oder Alain Badiou einfließen lässt. »Den ganzen revolutionären Quatsch« wirft U dabei lieber raus, um die Kunden nicht zu verschrecken, denn Deleuze ist ein Linker, Badiou »fast schon Maoist«. Das führt zu interessanten Auslegungen: Badious philosophisches Konzept des Risses wendet U auf die Risse in den Produkten eines bekannten Jeansherstellers an, denn die repräsentierten schließlich deren Individualität – und damit auch Badious Konzept vom »Bruch des Individuums mit der allgemeinen Geschichte«, erklärt U seinem Kunden. Seine Tätigkeit sieht er unbedarft darin, »avantgardistische Theorien, fast immer aus dem linken Flügel des Spektrums, zurück in die Unternehmensmaschine einzuspeisen«. Dass »der bürgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren« könne, ohne dadurch gefährdet zu werden, hat Walter Benjamin schon 1934 geschrieben, und Tom McCarthys Figur U ist jemand, der daraus sein Geschäft gemacht hat. »Die Maschine konnte alles schlucken«, stellt U fest.
U’s Firma arbeitet an einem geheimen Großprojekt, über das der Leser ebensowenig erfährt wie über den Betrieb selbst. Es nennt sich das ­Koob-Sassen-Projekt und wird unter Regierungsbeteiligung supranational geplant und durchgeführt. »Tatsächlich gibt es wohl nicht einen einzigen Bereich Ihres alltäglichen Lebens, den es nicht, auf die eine oder andere Weise berührt, penetriert, verändert hätte; obwohl Sie sich dessen wahrscheinlich gar nicht bewusst sind«, heißt es ominös. Die Unternehmung ist so komplex, dass nicht zu erkennen ist, »wo es begann und wo es aufhörte«. Es reiche »vom Firmen- zum Zivilrecht, vom Supranationalen zum Lokalen, vom Analogen zum Digitalen und vom Öffentlichen zum Geheimen und von harten zu weichen Faktoren und Gott weiß was noch«.
Die Stärke des Romans liegt gerade darin, über solch vage Andeutungen nicht hinauszugehen, wodurch sich umso mehr Bezüge eröffnen. Assoziationen zu den verschachtelten Tätigkeiten multinationaler Konzerne oder auch zur fortschreitenden Privatisierung öffentlicher Aufgaben in allen Bereichen drängen sich wie selbstverständlich auf.
Auch Details über U’s Aufgaben bleiben unklar, er bezeichnet seine Rolle innerhalb des Projekts als äußerst unwichtig. Bis ihm nach gelungener Umsetzung von Koob-Sassen schließlich alle zu seinem maßgeblichen Beitrag gratulieren und er sich auf internationalen Meetings feiern lässt. Unterdessen muss sich der Leser wundern, wie sehr diesem Ich-Erzähler eigentlich zu trauen war. Zwischendurch waren dem ansonsten von seinem Gewissen eher unbehelligten (Ex-)Akademiker die Aktivitäten der Firma unheimlich geworden und er hatte sich in seinem Kellerbüro ausgemalt, wie er den Laden sabotieren könnte – bis hin zur absurden Imagination einer militanten Truppe revolutionärer Anthropologen unter seinem Kommando. Er hängte sich ausgedruckte Photos von Ulrike Meinhof und Patty Hearst an die Pinnwand, war aber enttäuscht, dass sie nicht attraktiv genug aussehen. Für ihn steht fest: »Mein Netzwerk aus hochgebildeten, bestens trainierten Staatsfeinden, bewaffnet mit den neuesten, anthropologiegestützten Vernichtungstechniken, würde aus den sexyesten, bestgekleideten und orgasmischsten Revolutionären aller Zeiten bestehen.«
Mehr als solche Popkulturspinnereien von Sexyness bedeutet Revolution für U nicht, was im Roman durch seine Beziehung zu Madison gespiegelt ist: U ist mit ihr zusammen, interessiert sich aber ebenso wenig für sie wie für den Rest der Welt. Während U sich in Allmachtsphantasien ergeht, offenbart sich, dass Madison tatsächlich versucht hat, etwas an der Lage der Dinge zu ändern. Die überraschende – und ebenso absurde – Geschichte ihrer traumatischen Erlebnisse von Polizeigewalt und Folter bei den Protesten anlässlich des G8-Treffens in Genua 2001 bildet den Höhepunkt des Romans.
Leider hat »Satin Island« mitunter schwer unter der Motivlast zu tragen, die sein Autor der Erzählung aufbürdet. Nicht nur ist der Text durchzogen von anekdotischen Reflexionen auf die ethnologischen Schriften von U’s großem Vorbild Claude Lévi-Strauss. Das mag man wie der Rezensent der New York Times als Weg begrüßen, »Kulturtheorie humorvoll und spannend darzustellen«; oder als selbstverliebte Nacherzählung vom Grundkurs Kulturwissenschaften auffassen. Hinzu kommt, dass McCarthy seine Texte grundsätzlich mit einem dichten Motivgeflecht durchzieht, in dem schließlich alles potentiell symbolisch aufgeladen scheint. Das zeugt zum einen vom ausgeprägten Stil des Autors. Bisweilen jedoch gewinnt man den Eindruck, als schreibe hier ein zur Eitelkeit neigender Verfasser für die nachfolgenden Generationen von Literaturwissenschaftlern, die seine Texte entschlüsseln sollen. Ist U ein Typ, der philosophische Brocken für seine Werbe-»Narrative« nutzt und so in den kapitalistischen Verwertungskreislauf einspeist, dann sind McCarthys Texte davon manchmal selbst nicht weit entfernt.
Zum Prinzip gemacht schien das in McCarthys Tätigkeit als »Generalsekretär« der von ihm mitgegründeten (und inzwischen offenbar inaktiven) International Necronautical Society (INS). Wahrscheinlich am ehesten als avantgardistisches Kunstprojekt zu bezeichnen, gaben die Nekronauten sich den Anschein straffer Organisation; als »Chefphilosoph« fungierte Simon Critchley, der an der New School for Social Research in New York Philosophie lehrt, zu den Mitgliedern der Gesellschaft gehörte außerdem eine »Nachruf-Rezensentin«. Die INS veröffentlichte diverse Artikel und Verlautbarungen, etwa eine »INS-Erklärung zum Begriff der ›Zukunft‹« oder eine »zum Verhältnis von Kunst und Demokratie«. Ihr Gründungsmanifest wurde 1999 als Kleinanzeige in der London Times platziert und legte fest: »Es gibt keine Schönheit ohne den Tod, der allem innewohnt. Wir besingen die Schönheit des Todes – also die Schönheit.«
Die Dokumente der INS lesen sich wie Montagen von Versatzstücken aus Philosophie und avantgardistischer Kunst, wobei die Grenze zwischen purer Ironie und Ernsthaftigkeit unklar gehalten ist. Was als Idee lustig wirken mag, funktioniert nur teilweise: Die meisten Texte sind ebenso ernsthaft im Ton wie intellektuell unverbindlich; gerade dieser Gestus lässt sie etwas bemüht erscheinen. Was den Schriften bei aller Ironie und »dekonstruktivistischer« Geste meist abgeht, sind Leichtigkeit, Witz und nicht zuletzt tatsächlich Selbstironie.
Klingt das alles nach jener Art Potpourri, wie es meist unter dem Schlagwort Postmoderne subsumiert wird, so sind McCarthys literarische Vorbilder anderswo zu finden. An erster Stelle wäre der gebrochene Realismus Franz Kafkas zu nennen. Aber auch zu den Romanen Robert Walsers, wie zum Beispiel zu »Der Gehülfe«, deren Protagonisten so seltsam zwischen Nähe und Fremdheit schwanken, lässt sich eine Verwandtschaft feststellen. Vor allem in Erzählhaltung und Stil lesen McCarthys Romane sich aus der literarischen Moderne her.
In »K« hat McCarthy diese Epoche, die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, zum Thema gemacht. Im weitgespannten Panorama werden hier die Ambivalenzen der Moderne zwischen Aufklärung und Okkultismus ausgebreitet. Der Roman bedient sich bei Sigmund Freuds Fallgeschichte des Wolfsmanns, es geht um die Erfindung drahtloser Nachrichtenübermittlung durch den Italiener Marconi, um spiritistische Séancen, Heroin, den Ersten Weltkrieg und archäologische Ausgrabungen in Ägypten. Erstaunlicherweise ist gerade dieser Roman, der sich explizit mit der klassischen Moderne beschäftigt und dessen Handlung in jenem Jahr endet (1922), in dem fundamentale Texte der modernen Literatur – James Joyces »Ulysses« und T. S. Eliots »The Waste Land« – erschienen sind, konventioneller und geradliniger erzählt als seine anderen Romane, die alle in der Gegenwart spielen. Deren formale Eigenständigkeit erreicht »K« nicht und bleibt so eher eine unterhaltsame Reihung exemplarischer Episoden ohne die verstörende Rätselhaftigkeit der anderen Texte.
McCarthys bislang gelungenster Roman bleibt sein Debüt »Remainder« (2005), das 2009 in Deutschland unter dem Titel »8½ Millionen« erschienen ist. Nicht nur in der Wahl der Erzählperspektive ähnelt »8 ½ Millionen« seinem jüngsten Roman. Beide Bücher verbindet auch, dass die Hauptfiguren vom Geschehen, dessen Absurdität sich ganz allmählich entfaltet, seltsam unbetroffen bleiben. In »Satin Island« lässt sich das als Kommentar auf die Durchdringung von Politik und Wirtschaft interpretieren sowie auf die entfremdete Arbeitswelt von Menschen, die in Unternehmen beschäftigt sind, mit denen sie sich ebenso identifizieren wie sie ihnen eigentlich egal sind. Die Konsequenzen ihres Tuns können sie eh schon lange nicht mehr überblicken. Und wahrscheinlich wollen sie es auch lieber nicht.
In »8½ Millionen« wird dieses verdinglichte Verhältnis zur Wirklichkeit in einem weniger realistischen Setting erzählt als in der Welt der Werbeagenturen von »Satin Island«. Die namenlose Hauptfigur des Romans hat bei einem rätselhaften Unfall Teile der Erinnerung verloren und macht sich mithilfe des immensen Schmerzensgelds – 8½ Millionen Pfund – nun daran, aufgetauchte Erinnerungsstücke in der Realität nachbauen und nachstellen zu lassen, um dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Einmal auf den Geschmack gekommen, beginnt der Protagonist, auch »Nachspiele« von Ereignissen zu inszenieren, über die er in der Zeitung liest, wie eine Schießerei oder ein Banküberfall. Alles muss immer realistischer werden, bis nur noch die Realität selbst sich anbietet und die Dinge eskalieren. Eine ziemlich missglückte Verfilmung des Romans durch den Videokünstler Omer Fast war vor Kurzem auf der Berlinale zu sehen. Der Regisseur hat seinem Stoff wohl nicht recht vertraut; anders ist jedenfalls kaum zu erklären, wieso er das Drehbuch um einen halbgaren Thriller-Plot erweitert. Die tollen Eigenheiten des Romans werden von Fast als Skurrilitäten ausgeschlachtet, ohne dass er erzählerisch etwas damit anfangen könnte. Spannung scheint für ihn nur aus einer Krimihandlung entstehen zu können, die er seinem Spielfilmdebüt mehr schlecht als recht aufzwingt.
Bei aller Kritik: McCarthys Romane, besonders »8½ Millionen« und »Satin Island«, sind sehr lesenswert, hoch unterhaltsam und gespickt mit verschrobenen Ideen. Vor allem gelingt es McCarthy, Figuren zu entwerfen, deren verstörend distanziertes Verhältnis zur Welt die ganze Absurdität offenlegt, über die man ansonsten allzu oft hinwegsieht. McCarthy hat nicht nur einen eigenständigen Ton als Schriftsteller gefunden, sondern auch einen Weg, wie sich zwischen Verfremdung und Realismus von der Welt erzählen lässt.
Tom McCarthy: Satin Island. Aus dem Englischen von Thomas Melle. München 2016, Deutsche Verlagsanstalt, 224 Seiten, 19,99 Euro
»Remainder« (D, GB 2015). Regie: Omer Fast; Darsteller: Tom Sturridge, Cush Jumbo, Ed Speleers. Filmstart: 12. Mai

Tom McCarthy, Jahrgang 1969, lebt und arbeitet als Künstler und Schriftsteller in London. Sein 2001 fertiggestellter Debütroman »Remainder« wurde von zahlreichen britischen Verlagen abgelehnt, 2005 erschien das Buch bei einem kleinen Kunstbuchverlag in Frankreich und wurde zunächst nur in Galerien und Museumsläden verkauft. Nachdem die internationale Presse auf »Remainder« aufmerksam wurde, erhielt das Buch den Believer Book Award, wurde in der englischsprachigen Welt zum Bestseller, in 14 Sprachen übersetzt und verfilmt. McCarthy veröffentlicht Erzählungen, Essays und Artikel über Literatur, Philosophie und Kunst, unter anderem in der New York Times, The Observer und Artforum. Er ist Mitbegründer des Künstlernetzwerks International Necronautical Society (INS). »K«, McCarthys dritter Roman, wurde unter anderem 2010 für den Booker-Preis nominiert, »Satin Island« ist sein jüngster Roman und stand auf der Shortlist des Booker-Preises 2015.