Der Prozess wegen des Messerangriffs auf Henriette Reker beginnt

Wertkonservativer Messerstecher

Am 17. Oktober, einen Tag vor der Oberbürgermeisterwahl in Köln, stach Frank S. der Kandidatin Henriette Reker ein Messer in den Hals. Freitag begann der Prozess. Der Angeklagte will kein Nazi gewesen sein.

Am Morgen des 17. Oktober 2015, einen Tag vor der Kölner Oberbürgemeisterwahl, verteilte Henriette Reker auf dem Wochenmarkt im Stadtteil Braunsfeld Rosen. Die damals 58jährige parteilose Bewerberin wurde im Wahlkampf von CDU, FDP und Grünen unterstützt und galt als Favoritin. Frank S. näherte sich lächelnd der Kandidatin und bat um eine Rose. Als Reker ihm eine übergeben wollte, stach er zu – mit einem sogenannten Bowiemesser mit einer 30 Zentimeter langen Klinge. Die Klinge steckte etwa zehn Zentimeter im Hals Rekers, die Wirbelsäule wurde getroffen, die Luftröhre durchtrennt. Auch auf vier Wahlkampfhelfer Rekers stach S. ein und verletzte diese, ehe er überwältigt werden konnte. Reker musste in der Universitätsklinik notoperiert werden, was ihr das Leben rettete. Die Wahl am 18. Oktober gewann sie im künstlichen Koma liegend. Ihr Amt als Oberbürgermeisterin konnte sie erst am 20. November antreten.
Schon kurz nach der Tat wurde klar, dass Frank S. politische Motive hatte. Am Tatort rief er den Umstehenden zu, er habe die Tat für sie und ihre Kinder begangen. In einer polizeilichen Vernehmung soll er gesagt haben: »Ich wollte sie töten, um Deutschland und auch der Polizei einen Gefallen zu tun.« Er berief sich auf eine verfehlte Flüchtlingspolitik in Deutschland und Köln, für die Reker in der Domstadt die Verantwortung trage. Vor ihrer Wahl zur Oberbürgermeisterin war sie als Sozialdezernentin für die Aufnahme von Flüchtlingen in Köln zuständig.
Recherchen ergaben, dass S. bereits in den neunziger Jahren im Umfeld der militanten neonazistischen »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) in Bonn aktiv gewesen war. Das Attentat hatte also einen eindeutigen politischen Hintergrund, deswegen wurde S. durch die Bundesanwaltschaft angeklagt.
Als der Angeklagte am Freitag den Saal des Oberlandesgerichts Düsseldorf betritt, hält er sich einen Aktenordner vors Gesicht, um nicht fotografiert zu werden. Auf dem Ordner ist ein Aufkleber zu sehen. »Ich hasse Sandburgen!« steht darauf und ein kleiner Junge ist abgebildet, der wütend die Faust ballt. Im Hintergrund erkennt man ein anderes Kind, das traurig im zertrampelten Sand steht. Ein kleiner Einblick in den Humor des Angeklagten, der später von »Streichen« spricht, die er gerne als Kind und Jugendlicher gemacht habe. Als die Kameras den Saal verlassen haben, legt S. den Aktenordner zur Seite. Er hat wenige Millimeter kurze Haare, einen Bart um Kinn und Oberlippe und trägt ein kariertes Hemd. Als Richterin Barbara Havliza die Verfahrensbeteiligten vorstellt, hört er aufmerksam zu. Auch als der Vertreter der Generalbundesanwaltschaft die Anklageschrift verliest, lauscht S. Der Bundesanwalt bezeichnet die Tat als heimtückischen Mordversuch. Reker sei als Repräsentantin einer von S. abgelehnten Ausländer- und Flüchtlingspolitik Ziel der Attacke geworden, die bezweckt habe, ihre Wahl zur Oberbürgermeisterin zu verhindern.
Christof Miseré, der Verteidiger von Frank S., sieht das anders. Der Stich in den Hals dürfe lediglich als gefährliche Körperverletzung eingeordnet werden. S. habe die Möglichkeit gehabt, Reker zu töten, wäre dies seine Absicht gewesen. Der Welt sagt Miseré, man müsse darüber nachdenken, ob S. nicht von einer Tötungsabsicht zurückgetreten sei. Schließlich habe er das Messer unmittelbar nach dem Stich losgelassen. In seinem Eingangsstatement mutmaßt der Anwalt auch, die Anklage sei politisch motiviert. Es werde somit ein politischer Prozess geführt. Die Richterin lässt das nicht gelten. Es handle sich um einen Staatsschutzsenat, dort würden politische Taten verhandelt. Doch »der Senat führt keinen politischen Prozess«, betont Havliza. »Es ist ein Prozess wie jeder andere.«
Die Richterin befragt den Angeklagten zu seinem Lebenslauf. Ab seinem vierten Lebensjahr wuchs S. bei Pflegeeltern auf. Diese hätten immer um die sechs Pflegekinder gehabt und damit Geld verdient. Mit 18 sei er vor die Tür gesetzt worden, da es »kein Geld vom Amt« mehr gegeben habe. Mit seinem Pflegevater habe er immer wieder körperliche Auseinandersetzungen gehabt. In Bonn-Beuel sei S. Teil einer Clique von rechten Jugendlichen gewesen. Ein Nazi aber will er nie gewesen sein. »Wenn einer pünktlich zur Arbeit geht, ist er direkt ein Nazi«, lamentiert S. Dabei sei seine politische Einstellung komplex – er sei freiheitsliebend, gehe offen auf andere Menschen zu, interessiere sich für politische Themen, habe auch schon mal die Taz gelesen. S. bezeichnet sich als »wertkonservativen Rebell«.
Die antifaschistische Zeitschrift Lotta und die »Antifa Bonn/Rhein-Sieg« hingegen veröffentlichten ausführliche Recherchen zur Person Frank S., die ein anderes Bild zeichnen. Dieser war, das räumt auch S. vor Gericht ein, Mitglied der »Berserker Bonn« – für S. lediglich eine Art »Bürgerwehr«. Die Gruppe wurde als eine »autonome« Nachfolgeorganisation der 1995 verbotenenen FAP gegründet. S. nahm mehrere Jahre hintereinander an Rudolf-Hess-Gedenkmärschen teil. In Bonn hatte er früh den Spitznamen »Messerstecher«, da er 1993 erstmals wegen einer Messerattacke vor Gericht stand. Von 1997 bis 2000 saß S. nach Schlägereien und Angriffen im Gefängnis. Danach lebte er unauffällig in Köln, hatte wohl nicht viele soziale Kontakte und war arbeitslos.
Die Arbeitslosigkeit von S. wirft Fragen auf. Seine Akte bei der Agentur für Arbeit ist als »geheim« und »gesperrt« eingestuft. Auf eine Anfrage des fraktionslosen Landtagsabgeordneten Daniel Schwerd, ob S. ein V-Mann sei, antwortet das nordrhein-westfälische ­Innenministerium, dies könne »aus Gründen des Geheimschutzes weder bestätigt noch verneint« werden. Der Prozess birgt also Potential für Über­raschungen. Auch was der Angeklagte zur Tat selbst sagen wird, könnte interessant werden: S. kündigte an, sich gewissenhaft vorzubereiten – es werde um »millionenfachen Rechtsbruch« in der Flüchtlingspolitik gehen. Seine Aussage wird am Freitag erwartet. Eine Woche später soll Reker aussagen, das Urteil soll im Juni ergehen.