Präsident Erdoğan lässt das parlamentarische System weiter demontieren

Erdogans Ermächtigungsgesetz

Vergangene Woche hat das türkische Parlament mit großer Mehrheit für die Aufhebung der Immunität jener Parlamentarier gestimmt, denen Straftaten vorgeworfen werden. Die Entscheidung richtet sich vor allem gegen die Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP und zeigt, wie Präsident Recep Tayyip Erdoğan systematisch das parlamentarische System zerschlagen lässt.

Um die Skrupellosigkeit zu sehen, mit der in der Türkei das politische System umgewandelt wird, genügt der Blick auf eine einzige Tatsache: Eine halbe Stunde vor der Abstimmung über die pauschale Aufhebung der Immunität der Abgeordneten am Freitag voriger Woche gingen 121 Aufhebungsanträge beim Parlament ein. Keiner der plötzlich aufgetauchten Anträge bezog sich auf einen Abgeordneten der regierenden Partei AKP. Aufgehoben wird die Immunität, wenn bis zum Inkrafttreten der Verfassungsänderung ein solcher Antrag vorliegt. Die entsprechenden Dossiers müssen nicht unbedingt beim Parlament eingehen, sie können auch an das Justizministerium adressiert sein. Es sind auch Fälle bekannt, in denen so ein Antrag eine Weile in der Schublade liegengeblieben ist, weswegen der Betroffene zunächst nichts davon erfuhr. Es könnte also während der kommenden Tage weitere Überraschungen geben.
Soweit bekannt liegen gegen 53 der 59 Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP Anträge auf Strafverfolgung vor. Gegen den Co-Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtaş, richten sich gar 87. Die temporäre Verfassungsänderung ermöglicht es auch, Beschuldigte in Untersuchungshaft zu nehmen. Nach derzeitiger Rechtslage würde, wenn ein Abgeordneter wegen Untersuchungshaft dauerhaft daran gehindert ist, sein Mandat auszuüben, auch das Mandat verfallen und müsste durch Wahlen neu vergeben werden.
Während im Regierungslager ein paar Verkehrssünder von Verfahren bedroht sind, drohen den HDP-Abgeordneten Strafen wegen Terrorismus. So wird dem Abgeordneten Sırrı Süreyya Önder Propaganda für eine Terrororganisation vorgeworfen. Er hatte eine Botschaft des gefangenen PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan bei einer Newroz-Feier in Diyarbakır verlesen. Weitergeleitet wurde die Botschaft allerdings über das türkische Justizministerium, sie sollte den Friedensprozess mit der kurdischen Bewegung voranbringen. Önder hat bei den Protesten gegen die Überbauung des Gezi-Parks in Istanbul vor drei Jahren eine herausragende Rolle gespielt. Einem anderen Abgeordneten wird vorgeworfen, an einer Sperre des Militärs beleidigende Worte gegen den Präsidenten Erdoğan geäußert zu haben. Außerdem soll er dem Präsidenten gedroht haben, als er sagte, dieser werde eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden.
Einer ganzen Fraktion droht der Rauswurf aus dem Parlament. Wie Nachwahlen unter Kriegsbedingungen im kurdischen Osten ausgehen würden, ist ungewiss. Die meisten Menschen sehnen sich nach Frieden und nicht wenige würden Erdoğans Partei AKP schon deshalb wählen, damit ihre Städte nicht zerstört werden.
Doch auch andere sind betroffen. Die Republikanische Volkspartei (CHP), kemalistisch, sozialdemokratisch, nationalistisch, modern und angestaubt zugleich, hat 133 Abgeordnete, gegen 55 von ihnen liegen Anträge vor. Hätte die CHP geschlossen gegen das Gesetz gestimmt, wäre es nicht durchgekommen. Doch der Vorsitzende Kemal Kılıç­daroğlu war für Zustimmung, obwohl er im gleichen Atemzug sagte, die Aufhebung der Immunität verstoße gegen die Verfassung. Auch gegen ihn liegen 42 Anträge vor, fast alle wegen Beleidigung des Präsidenten. Da er seine Haltung nie erläutert hat, kann man Kılıç­daroğlus Motive nur erraten. Die Angst, einmal mehr als Unterstützer von Terroristen gebrandmarkt zu werden, dürfte eine Rolle gespielt haben. Als sich dann die Möglichkeit eines Referendums über die Immunitätsfrage abzeichnete, verlor die Führung der CHP endgültig die Nerven. Was hätte die CHP ihren Wählern nun raten sollen? »Wir wollten zwar dafür stimmen, doch ihr sollt nun dagegen stimmen« oder »Wir glauben zwar, dass es gegen die Verfassung verstößt, aber bitte stimmt mit uns für die Aufhebung der Immunität«?
Schließlich haben 20 Abgeordnete der CHP für die Aufhebung der Immunität gestimmt. Öffentlich dazu bekannt hat sich außer Kılıçdaroğlu keiner. Von dessen kurdischem Stellvertreter Sezgin Tanrıkulu bis zu Muharrem İnce vom nationalistischen Flügel wird in der Fraktion von einem »historischen Fehler« gesprochen. Gedankt hat Kılıçdaroğlu sein Verhalten niemand. Noch am Abend nach der Abstimmung verstärkte die AKP ihre Kampagne gegen den Vorsitzenden der CHP. Begleitet wurden die verbalen Angriffe gegen ihn von einer offenbar inszenierten Eierwurfattacke bei der Beerdigung zweier gefallener Soldaten. In der Öffentlichkeit soll sich der Eindruck festsetzen, die Angehörigen gäben Kılıçdaroğlu die Schuld für den Tod der Soldaten.
Die Reinigung des Parlaments von den prokurdischen Abgeordneten hat Erdoğan bereits angekündigt. Die CHP dürfte auch nicht ungeschoren bleiben. Ihr drohen zudem interne Auseinandersetzungen wegen ihres Abstimmungsverhaltens.
Das Ganze erinnert an Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz. Beide Male geht es um die Ausschaltung des Parlaments, weil dort die Opposition noch immer ein wenig Einfluss hat. In beiden Fällen beginnt es mit der Dämonisierung und nationalen Ausgrenzung eines Teils der Opposition, in Deutschland zunächst der Kommunisten, in der Türkei der HDP. Unter Missachtung oder durch Aufhebung der Immunität werden die Betreffenden dann einfach weggesperrt. Ihr Verbrechen ist in erster Linie die falsche Gesinnung.
Der Rest der nun geschwächten Opposition wagt es nicht, sich mit den Dämonisierten zu solidarisieren oder auf Rechtsgrundsätze zu pochen. Trotz bitterer Erfahrungen hofft man, für den nationalen Schulterschluss irgendwie belohnt zu werden. Zur Beruhigung wird auch der Eindruck erweckt, als stimme man nur einer vorübergehenden Abweichung von der Norm zu. Hitlers Ermächtigungsgesetz war befristet, die Aufhebung der Immunität der türkischen Abgeordneten ist einmalig. Doch beide Regelungen ermöglichen es, vollendete Tatsachen zu schaffen, und eine einmal durchbrochene Norm kann man nicht mehr als unverzichtbares Rechtsgut einfordern. Die Regierung wird allmächtig und »eine solche Allmacht der Regierung muss sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt«, wie Otto Wels, damaliger SPD-Vorsitzender, 1933 vor dem Reichstag sagte.
Erdoğan ist nicht Hitler. Aber auch Erdoğan strebt einen charismatischen Führerstaat an. Es geht ihm nicht nur darum, ein paar missliebige kurdische Parlamentarier hinter Gitter zu bringen, so wie es vor 22 Jahren bereits einmal geschehen ist. Die Exekutive ist in seiner Hand, die Judikative ist von seinen Gefolgsleuten unterwandert, die Medien sind größtenteils gleichgeschaltet. Nun ist das Parlament dran.
Der Preis für den Rauswurf der Kurdinnen und Kurden und gewissermaßen auch der übrigen Opposition aus dem Parlament ist hoch. Der politisch engagierte Mathematiker Ali Nesin meint, der kurdischen Bevölkerung werde mit dieser Entscheidung gesagt: »Ohne die PKK seid ihr ein Nichts.« Er nehme seine Kritik an der Eskalationsstrategie der PKK zurück: »Die PKK hatte recht, ich hatte unrecht!«
Erdoğan kann sich das alles leisten. Mit gleichgeschalteten Medien und ohne effektive politische Opposition wird man für seine Fehler auch nicht bestraft, jedenfalls nicht sofort.