Der Film »Tangerine L.A.«

Frohes Fest, Bitch!

Instagram-Ästhetik statt grauem Sozialdrama: »Tangerine L.A.« folgt Sexarbeiterinnen durch die Straßen von Los Angeles.

Damit es gleich abgehakt ist: Ja, »Tangerine L.A.« wurde komplett mit Smartphones gedreht und nein, das ist nicht die herausragende Eigenschaft des Films. Dass er seit seiner Premiere beim Sundance Film ­Festival im vergangenen Jahr so viel mediale Beachtung und überwiegend positive Resonanz bekommt, spricht für eine Wirkung, die über diesen Effekt technischer Neuartigkeit hinausreicht. Da wäre zunächst der Zeitpunkt der Veröffentlichung: »Tangerine L.A.« erschien 2015, in ebenjenem Jahr, in dem das Diversitätsproblem Hollywoods so offen und hitzig wie nie zuvor diskutiert wurde. Während sich die großen Studios vor der Oscar-Verleihung Kritik an der fehlenden Repräsen­tation von Minderheiten gefallen lassen mussten, entwickelte sich der Low-Budget-Film über die Freundschaft zweier schwarzer Trans­gender-Sexarbeiterinnen zu einem Überraschungserfolg des Independent-Kinos. Die bis dahin unbekannten Darstellerinnen Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor wurden zu den Gesichtern einer von der Filmproduktionsfirma ins Leben gerufenen Kampagne für die Besetzung von Trans-Rollen mit Trans-Personen, die sich direkt an die Academy richtete.
Wovon handelt »Tangerine L.A.«? Sin-Dee, gespielt von Rodriguez, ist frisch aus dem Gefängnis entlassen und pünktlich zum Heiligabend zurück auf dem Straßenstrich. Über dem vom letzten Geld geteilten Weihnachts-Donut (»Merry Christmas Eve, bitch!«) rutscht ihrer Kol­legin und Freundin Alexandra (Mya Taylor) heraus, dass Chester, Sin-Dees Freund und Zuhälter, während ihrer Haft untreu gewesen sei. Es beginnt eine hektische Suche nach dem von James Ransone verkör­perten Liebhaber und der Konkurrentin, die durch das Neonlicht der Fast-Food-Restaurants, illegale Bordelle und immer wieder zurück auf die Straße führt. Im Schlepptau von Sin-Dee und Alexandra werden die Zuschauer durch das Viertel geschleift, wobei die Kameraführung viel zum pseudodokumentarischen Charakter des Films beiträgt.
Zweifelt man während der etwas hölzernen Eröffnungsszene noch, ob die Entscheidung für den Dreh mit Smartphones – drei iPhones, um genau zu sein – nicht doch eher Marketing-Gag als eine gute Idee war, befreien sich die Darstellerinnen im Anschluss von den vermeintlichen technischen Einschränkungen und erhöhen das Tempo und die Dynamik der Handlung. In dem Moment, in dem die von ­Rachegelüsten angetriebene Sin-Dee aus dem kleinen Donut-Geschäft auf die Straße stürzt, kommt die Weitwinkelperspektive erstmals zum Einsatz und gibt neben dem hämmernden Soundtrack genug Anlass, sich den Film im Kino anzusehen, anstatt ihn auch gleich auf das mobile Endgerät zu streamen.
Überhaupt ist die Musikauswahl gelungen. Versatzstücke von EDM, Jazz und armenischem Pop treffen auf düstere Ambientflächen; bollernder Trap überrollt Beethovens Coriolan-Ouvertüre und Doris Days Operettenklassiker »Toyland« wird in Alexandras verletzlicher Version zum berührenden Höhepunkt einer Geschichte, in der Intimität und Stille sonst wenig Platz haben. Die den Film durchziehende Ruhelosigkeit erinnert an die klas­sische Screwball-Komödie, hier freilich durchsetzt mit den bitteren ­Realitäten eines Milieus weit abseits des glamourösen Los Angeles der Hollywood-Stars.
Dass transphobe Gewalt, Armut und Kriminalität zum Alltag der Sexarbeiterinnen gehören, verschweigt der Film nicht, bemüht sich aber um einen Blick, der die Haupt­figuren nicht auf eine Opferrolle reduziert. Regisseur und Co-Drehbuchautor Sean Baker verlässt sich dabei erfolgreich auf seine Haupt­darstellerinnen, die ihre Charaktere auch unter zuweilen brutalen Umständen als starke Persönlichkeiten inszenieren und den Fokus vor ­allem da, wo der Plot dünn bleibt, auf das komplexe Verhältnis zueinander richten.
Die völlige Abwesenheit von Privatsphäre im Film verhindert, dass es allzu voyeuristisch wird. Gezeigt wird, was öffentlich gemacht wird – auch wenn hierzu fast sämtliche Konflikte und Interaktionen der Protagonisten zählen. Make-up, Perücken und Outfits werden immer wieder thematisiert, zurechtgerückt, aufgefrischt – wie um Sin-Dee und Alexandra vor der fehlenden ­Distanz zur Smartphone-Kamera zu schützen. Einmal fährt ein Auto mit johlenden Männern durchs Bild, die die Sexarbeiterinnen mit Handy­kameras filmen und in ihrer Übergriffigkeit an die vielleicht wichtigste Intention von »Tangerine L.A.« ­erinnern: Die Protagonistinnen geben nur so viel von sich preis, wie sie selbst wollen. Bei aller verbalen Direktheit und körperlichen Präsenz driften Sin-Dee und Alexandra nicht ins Karikaturenhafte ab, sondern bleiben als komplexe, selbst­bewusste und nicht zuletzt witzige Charaktere mit reichlich attitude in Erinnerung.
Eine dritte Figur spielt eine unauffällige Rolle. Der armenischstämmige Taxifahrer Razmik (Karren Karagulian) ist ein Grenzgänger, der zwischen scheinbar unvereinbaren Milieus pendelt. Seine Stammstrecken rund um den Straßenstrich und die konservative armenische Community in Los Angeles trennen Welten – und immer neue tun sich auf, wie einst in Jim Jarmuschs »Night on Earth« mit jedem der betont unterschiedlichen Fahrgäste, die im Verlauf der Handlung auf der Rückbank Platz nehmen. Interessanter als die Mitfahrer ist Razmik selbst, der sich als treusorgender Familienvater gibt und zugleich von den Transgender-Sexarbeiterinnen angezogen fühlt. Sin-Dee und Alexandra können Heiligabend nicht mit ihren Familien feiern – Razmik will es nicht.
Weihnachtsstimmung will folglich für niemanden so richtig aufkommen, trotzdem möchte auch »Tangerine L.A.« letztlich eine klassisch besinnliche Botschaft von Nächstenliebe und Solidarität vermitteln. Vielleicht auch deshalb tauchen die Filmemacher mit einem editorischen Kniff die Stadt in das titelgebende Orangerot und kreieren eine mitunter hyperreal wirkende Instagram-Ästhetik mit starken Kontrasten und hoher Farbsättigung. Der Bezug zum Smartphone als Kreativwerkzeug ist hier wiederum ­offensichtlich, darüber hinaus aber entsteht ein Eindruck von Wärme und gedämpftem Glanz, der zu den energischen Performances von ­Rodriguez und Taylor besser passt als das triste Grau des klassischen ­Sozialdramas.

Tangerine L.A. (USA 2015). Regie: Sean ­Baker. Darsteller: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian.
Filmstart: 7. Juli