Sexuelle Gewalt in mexikanischen Gefängnissen

Erst foltern, dann aufklären

In Mexiko unterwerfen Polizei und Streitkräfte Festgenommene und Gefangene systematisch sexueller Gewalt und Folter. Die Täter werden fast nie verurteilt.

Fernanda ist 22 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und Sex­arbeiterin. In der Nacht vom 21. März 2014 wurde sie in Valle de Chalco im Bundesstaat Mexiko von 20 bewaffneten verdeckt ermittelnden Bundes­polizisten festgenommen. Sie entrissen ihr ihre Kleider, bedrohten und betatschten sie und brachten sie an einen Ort, wo sie Schreie von Gefolterten ­hören konnte. Dort wurde sie geschlagen und mit Elektroschocks traktiert. Später präsentierte die Generalstaatsanwaltschaft Fernanda der Öffentlichkeit als Mitglied einer organisierten kriminellen Gruppe. Belastende Aussagen kamen von einer weiteren Person, die zum gleichen Zeitpunkt wie sie verhaftet worden war.
Der Name Fernanda ist zwar erfunden, ihre Geschichte jedoch nicht. Fernanda gehört zu den inhaftierten Frauen, deren Fälle exemplarisch in einem Ende Juni präsentierten Bericht von Amnesty International dargestellt werden. Die Dokumentation »Den Tod überleben. Polizei- und Militärfolter gegen Frauen in Mexiko« ist eine ausgewertete Sammlung von 100 Interviews mit Frauen, die während der achtmonatigen Untersuchung in mexikanischen Gefängnissen befragt wurden. Zuvor hatten sie alle im Zuge ihrer Festnahme ­erlittene Gewaltanwendungen angezeigt. Das Ergebnis der Studie: Die Frauen waren während ihrer Festnahmen nicht nur Gewalt ausgesetzt, sondern sie alle beschrieben unterschiedliche Formen sexueller Gewalt – sei es Vergewaltigung, sexuelle Misshandlung, misogyne Beschimpfungen oder sexu­alisierte Drohungen. Sexuelle Gewalt und Folter haben System, die Täter werden jedoch fast nie verurteilt.
Frauen machen nur fünf Prozent aller Inhaftierten in Mexiko aus. In ihrer Mehrzahl sind es junge, schlecht ausgebildete Frauen, die aus armen Verhältnissen kommen, wie auch die meisten der von Amnesty International ­befragten 100 Frauen. Die Befragten gaben in 93 Fällen an, während ihrer ­Verhaftung geschlagen worden zu sein. Vier enthielten sich jeglicher Angabe. Erst auf explizite Nachfrage bestätigten 72 der Befragten, dass sie sexuell misshandelt worden seien, nachdem dies anfangs lediglich 35 bejaht hatten. Amnesty International vermutet, dass dies an der allgemeinen Verbreitung sexueller Gewalt gegen Frauen in Mexiko liegt. Bundespolizisten, Gemeindepolizisten, Soldaten der Marine und der Armee, die die Verhaftungen durchführten, werden beschuldigt, 33 der Frauen vergewaltigt zu haben.
Seit 1991 gibt es in Mexiko ein Folterverbot. Das Gesetz entspricht zwar nicht den internationalen Standards, doch immerhin besteht die Möglichkeit, dass Folter zur Anzeige gebracht wird. Nach willkürlichen Verhaftungen stellen Folter und Misshandlungen die am zweithäufigsten zur Anzeige gebrachten Menschenrechtsverletzungen im Land dar. 2014 verzeichnete die Generalstaatsanwaltschaft zwar 2 403 derartige Anschuldigungen gegen Staatsbeamte, doch konnte sie keinen einzigen Fall nennen, in dem die Anzeige auch zu einer Verurteilung geführt hat. In den mehr als zwei Jahrzehnten seit der Verabschiedung des gesetzlichen Folterverbots kam es in Mexiko nur zu insgesamt 15 gerichtlichen Ver­urteilungen in Folterfällen. Im vergangenen Jahr legte der UN-Sonderberichterstatter Juán Méndez seinen Bericht zu Folteranwendung in Mexiko durch staatliche Sicherheitskräfte vor. Darin konstatiert er, dass allein in der Regierungsperiode 2006 bis 2012 die Anzahl registrierter Folterfälle um 500 Prozent angestiegen sei.
Im Gespräch mit der Jungle World sagt Catalina Pérez Correa, Anwältin und Forscherin in der Abteilung für Rechtsstudien an der Hochschule CIDE in Aguascalientes, dass es sich bei Folter um eine »tiefverwurzelte Verhaltensweise in den mexikanischen Institutionen« handele. Diese werde quasi als »unentbehrlich« für die Untersuchung der Straftat betrachtet – was sich auch darin widerspiegelt, dass es für die Anwendung von Elektroschocks einer festen Infrastruktur und Räume bedarf.
Der mexikanische Staat zeigt zwar Ansätze von Problembewusstsein, so gab es in den vergangenen Jahren zum Beispiel viele Sensibilisierungskurse für Ordnungskräfte. Offiziere der Marine besuchten zwischen 2012 und 2015 262 Trainings zu »Frauenrechten«; die Armee veranstaltet jährlich 200 bis 300 solcher Trainings. Zudem gab es über 2 600 Workshops, die die Bundespolizei in 70 verschiedenen Polizeischulen von 2012 bis Januar 2016 abhalten ließ und die sich dem Thema Menschenrechte mit einem speziellen Fokus auf Frauenrechte widmeten. Im Bericht resümiert Amnesty International trocken: »Mexikos Bekenntnisse auf dem Papier, Folter vorzubeugen und zu bestrafen, sind beträchtlich.« In der Praxis sieht es aber anders aus. Straffreiheit für Folterer ist weitverbreitet und wird von unterschiedlichen staatlichen Instanzen befürwortet und begünstigt. Es sind zwar Polizisten und Soldaten, die die unmittelbaren Menschenrechtsverletzungen begehen, doch es sind staatlich beschäftigte Ärzte, die bewusst unzureichende, oberflächliche oder gar gefälschte medizinische Untersuchungsberichte erstellen und den Tätern den Rücken decken, weil Spuren von Folter oder Misshandlung an den Opfern verschwiegen werden. Der Bericht von Amnesty International dokumentiert zudem fahrlässige Vorgehensweisen der Nationalen Menschenrechtskommission. In einigen Fällen, in denen diese Folter feststellte, sei der fertige Bericht dem Opfer oder seinen Angehörigen schlicht vorenthalten worden.
Mit der Reform des Strafgesetzbuchs, die seit diesem Juni nach einem achtjährigen Prozess nun in allen Bundesstaaten gilt, hat Mexiko einen Wandel in seinem bisherigen Justizsystem vollzogen. Beruhte ein Verfahren zuvor auf der Anklage beziehungsweise dem Gericht vorliegenden Dokumenten, ist nun eine Bewertung der Beweise in öffentlicher Verhandlung vorgeschrieben, was eine wirksame Verteidigung erst ermöglicht. Gingen Polizisten und Soldaten unter dem alten System von der Schuld der Festgenommenen und Angeklagten aus, war es kein weiter Weg mehr, durch Misshandlung ein Geständnis zu erpressen. Es sei zu einem Wandel gekommen, merkt Pérez Correa an: »Die Folter verschiebt sich von den Angeklagten zu den Zeugen.« Die Angeklagten müssten nun keine eigenen und unter Folter erzwungenen Schuldgeständnisse mehr unterschreiben, dafür würden sie aber von als ­Zeugen deklarierten Personen beschuldigt, die falsche Geständnisse ablegen. »Öffentlich wird Folter als etwas Schlechtes betrachtet, aber in der Praxis ändert sich im Zuge der Aufklärung ­einer Straftat nichts«, resümiert die Anwältin.